Die weise Schlange

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„Ein Dutzend Krieger der Chatten. Stehen erst einen Tag hier, vielleicht auch zwei, aufgrund der letzten Schneeschauer kann ich das nicht genau sagen. Planten offensichtlich einen hinterhältigen Überfall und wurden dabei von unseren Kriegern erwischt. Schau.“ Viviane deutete auf das letzte Paar Ohren.

Loranthus hatte Mühe, hinzusehen, aber er wollte Viviane nicht enttäuschen. Wenn sie ihm schon die Frage beantwortete, die er sich vor Kurzem selbst gestellt hatte, wollte er es jetzt auch genau wissen.

„Du meinst, diese zwölf Chattenkrieger wollten jemanden aus dem Hinterhalt überfallen? Sie wurden jedoch entdeckt und stehen nun zur Abschreckung hier?“, würgte er hastig heraus, um nichts anderes herauszuwürgen. „Wurden sie deshalb so hart bestraft?“

„Garantiert. Wollten sicher einen lohnenden Abstecher über die Grenze machen. Wir Hermunduren sind friedlich, aber unsere Gesetze sind genauso streng wie anderswo auch. Diese Schwachköpfe.“ Viviane spuckte aus. „Haben die Rechnung ohne den Wirt gemacht.“

Mit diesen Worten traten die Pferde aus dem Wald heraus und Loranthus atmete auf. Völlig unerwartet hatte sich die Enge des Waldes in weites, offenes Land mit sanft geschwungenen grünen Flächen gewandelt. Ein breiter Fluss schlängelte sich gemächlich dahin und an seinem Ufer stand das angekündigte Gasthaus. Genauer gesagt war es ein Gastdorf mit einem großen Langhaus, einem Lagerhaus auf Stelzen und etlichen kleinen Hütten, die zur Hälfte in der Erde steckten, dazwischen Obstbäume in voller Blüte und saftig-grüne Wiesen. Drei Seiten waren von Hecken umgeben. Die vierte grenzte an den Fluss und wurde von einem dichten Schilfgürtel gesäumt. Es gab sogar einen Anlegesteg für eine Fähre.

Gleich linker Hand, über dem Fluss, erhob sich ein stattlicher Berg, der keine Bäume auf seiner Kuppe hatte, sondern eine Burg mit einem langen Wall aus Steinblöcken und Holz. Wachtürme thronten auf dem Burgwall. Von dort aus hatte man sicher die beste Sicht über das Land, über jedes Haus, jeden Hügel und jeden Berg bis zu den hohen Gebirgszügen in weiter Ferne.

Viviane breitete ihre Arme aus.

„Das geeinte Großkönigreich der Hermunduren. Willkommen in meiner Heimat!“

„Ah, der hercynische Wald! Davon habe ich bereits viel gelesen!“ Begeistert deutete Loranthus auf die endlos grünen Höhenzüge am Horizont.

Viviane stutzte, dann huschte ein verständnisvolles Lächeln über ihr Gesicht.

„Die Schriften erzählen von einem ‚hercynischen Wald‘, als wären unsere Berge, unsere Wälder ein einziges riesiges Gebirge. Das ist ein alter Hut. Die Römer, die jetzt hinter dem Rhein leben, kennen die Berge und Gebirgsketten mit Namen, wenigstens die ihrer eroberten Provinzen. Schau, Loranthus! Das Gebirge zur Linken ist unser Thuringer Wald und rechts, das ist Raino, mein Zuhause.“

„Bereits der hochgelehrte Aristoteles sprach in seinen Niederschriften vom ‚hercynischen Wald‘. Er sagt darin, dass es ein riesiges Gebiet umfasst. Er meint ganz bestimmt dieses hier, genau vor meinen Augen.“ Loranthus schaute ziemlich pikiert auf Viviane, bis ihm einfiel, dass nicht sie das Gebirge war. Rasch drehte er sich um und machte eine weit ausholende Geste.

Viviane legte den Kopf in den Nacken. „Wenn ich dir so zuhöre, könnte ich denken, du würdest dich hier besser auskennen als ich. Loranthus. Überlege. Es ist doch ganz logisch. Cäsar hat von Aristoteles abgeschrieben. Sie waren beide noch nie hier. Von wem hat also Aristoteles abgeschrieben?“

„Aristoteles war ein Gelehrter. Er muss es wissen.“

„Eben. So hat Cäsar auch gedacht und wer weiß, wer noch. Aber vielleicht hat Aristoteles etwas verwechselt oder er meinte gar nicht den Namen als solchen, sondern die Ausrichtung unserer Gebirge. Ja, Loranthus, die Ausrichtung, das könnte alles erklären. Pass auf!“

Viviane streckte ihre Hand nach der untergehenden Sonne und schwenkte sie zurück zum Thuringer Wald.

„Die meisten Gebirge haben eine Nordwest-Südostausrichtung. Raino hingegen ist ein variszisches Gebirge. Das erkennst du an der Nordost-Südwestverwerfung.“

Loranthus besah sich skeptisch den rechten Winkel, den Vivianes Arme bildeten.

„Mag sein. Ich bleibe trotzdem bei ‚hercynischer Wald‘, so habe ich es gelernt.“

Viviane verdrehte die Augen. „Gelernt. Loranthus, ich versichere dir: Der Thuringer Wald ist hercynisch, Raino ist variszisch. Das ist nur logisch.“

Loranthus schüttelte stur den Kopf.

Viviane schnippte mit den Fingern in Richtung der Gebirge. „Hercynisch. Variszisch.“

„Nein, Aristoteles sagt …“

Hanibu kippte gegen Viviane und schnarchte leise.

Viviane zischte noch leiser: „Jetzt hör mal gut zu. Wenn ich sage …“

„Mmh!“ Loranthus reckte die Nase in die Höhe und schnupperte genüsslich: „Hier riecht es höchst verlockend nach Braten!“

Dieser scharfsinnige Themenwechsel kam Viviane gerade recht, denn auch sie hatte den appetitlichen Geruch bemerkt und nun lief ihr das Wasser im Munde zusammen. Wie gern würde sie etwas Besseres zu beißen bekommen als ihr alterndes Brot im Verpflegungsbeutel.

„Wir sollten uns beeilen, damit wir noch was abbekommen“, riet Loranthus und wollte Arion antreiben, doch der hörte nicht auf ihn, sondern ließ Dina den Vortritt.

Nach etwa dreihundert Schritt endeten Loranthus’ Ungeduld und der Weg an einem schweren Eichentor, das in die hohe Hagebuttenhecke eingelassen war. Passenderweise war es von der Burg aus gut einsehbar, um jeden Gast gleich zu registrieren.

Viviane winkte zu den Wachtürmen hinauf, obwohl sie dort niemanden erkennen konnte, dann klopfte sie mit einem Holzschlägel gegen eine Kupferplatte am Tor. Der melodische Gong war kaum verhallt, da stand auch schon ein großer, kräftig gebauter, rothaariger Mann vor ihnen und Loranthus japste: „Ein echter Keltos, ich bin entzückt. Dieser Hüne, diese rote Löwenmähne …“

„Guten Abend, Gastwirt“, übertönte Viviane die Freudenbekundungen hinter sich. „Wir würden gern hier übernachten.“

„Ist mir recht.“ Freundlich nickte der Wirt ihr zu und zeigte mit einem muskelbepackten Arm hinter sich auf die große Wiese. „Drei Häuser sind noch frei, gleich hier am Tor oder hinten am Fluss nahe der Badestelle.“

„Wir nehmen das hintere. Könnten wir auch noch etwas zu essen haben?“ Viviane zeigte ihr charmantestes Lächeln, dazu knurrte ihr Bauch laut wie ein Hund.

„Selbstverständlich. Mein Weib wird sich freuen, euch bewirten zu dürfen. Sie hat heute schmackhaften Hasenbraten zubereitet. Alles ganz frisch, gestern haben die noch unsere Felder besucht.“

„Das klingt sehr gut. Wir laden nur rasch die Pferde ab, dann kommen wir zu euch herein.“

„Unsere anderen Gäste, zwei Händler, sind bereits beim Essen, aber lasst euch ruhig Zeit, es ist genug für alle da. Hinter den Häusern befindet sich jeweils ein kleiner Stall. Heu und Wasser bringe ich sofort.“

Mit langen Schritten lief der Wirt über die Wiese Richtung Langhaus, Viviane steuerte die Pferde den Weg am Fluss entlang zum letzten Haus des Gastdorfes. Hühner flatterten vor ihnen auf, Gänse watschelten hinunter zum Fluss, Enten schwammen um den Anleger der Fähre, Ziegen und Schafe grasten auf abgetrennten Weideflächen gleich daneben. Dem lauter werdenden Grunzen nach zu urteilen, befanden sich hinter den Hecken ein paar Schweine, wo sie den Boden aufwühlen konnten und das ansonsten gepflegte Ambiente nicht durcheinanderbrachten.

„Diese Wiesen und Weiden – wirklich sauber und ordentlich hier.“ Loranthus betrachtete alles mit kritischem Blick und schien sehr zufrieden.

Die Häuser für die Gäste waren klein, ganz schlicht aus Lehm und mit einem Balkengerüst gebaut, und fast bis zum Fenster in die Erde eingelassen. Das Langhaus, in dem die Bewirtung stattfand, war hingegen zwei Stockwerke hoch, aus bestem Fachwerk und mindestens zwanzig Schritt lang. Dazu gab es ein Schwitzbad und eine Scheune, aus der es nach Heu duftete. Sämtliche Hauswände waren leuchtend weiß gekalkt, alle Holzbalken waren schwarz und die Dächer mit dicken Holzschindeln gedeckt.

„Die Häuser machen allesamt einen soliden Eindruck, besonders das Langhaus, das offensichtlich ebenerdig steht. Ich verstehe bloß nicht, wozu diese Hecken gut sind?“ Wissbegierig deutete er rundum, ließ aber Viviane nicht aus den Augen.

„Das ist eigentlich ganz simpel, schau dir mal das dicke Astwerk an und die Dornen. Die Hagebutte ist eine immer wachsame Kriegerin, wenn sie alt genug ist. Sie lässt keinen ungebetenen Gast durch, egal ob Mensch oder Tier. Im frühen Sommer erfüllen ihre Rosenblüten jedes Herz mit Freude und im langen Winter genießen wir ihre Früchte, getrocknet oder in Marmelade. Beide, Blüten und Früchte, haben starke Heilkraft.“

„Wie praktisch! Ein lebender Schutzwall mit allerlei Extras! Äußerst effektiv. Darauf hätte ich auch selbst kommen können. Beim Hermes, wenn wir doch bloß etwas schneller gewesen wären! Hätten wir das Gasthaus erreicht, wären uns die Räuber bestimmt nicht bis hierher gefolgt. Ich könnte mich in den Hintern beißen! Eine Meile und wir wären auf freiem Land gewesen!“ Gerade wollte er sich wieder die Haare raufen, da fiel ihm ein, dass er in diesem Fall ohne Viviane durch das grässliche Spalier hindurchgemusst hätte – womöglich wäre er in Ohnmacht gefallen und vom Kutschbock gekippt.

„U…und warum sind die kleinen Häuschen so tief in die Erde eingelassen? Ich meine, im Gegensatz zum ebenerdigen Langhaus, sieht das irgendwie … primitiv aus. Steht man da nicht im Grundwasser?“

„Für wie dumm hältst du uns? Siehst du nicht den Höhenunterschied?“

Viviane beschrieb einen Bogen zwischen dem letzten Häuschen und dem Lagerhaus auf Stelzen, das näher am Ufer stand, und schmunzelte vergnügt. Sie hatte gerade ein Bild vor Augen: Loranthus trippelte in einer Pfütze herum, verrenkte sich wie wild, um mit den Zähnen nach seinem Hintern zu schnappen, und ständig sprudelte ihm ein Wasserfall aus dem Mund.

 

„Nun, um deine Frage zu beantworten … Hast du schon mal einen Winter hierzulande erlebt?“

„Nein, wir sind erst vor einem Mond in Antibes angekommen. Es war dort angenehm mild. Auch als wir nach Massalia weiterreisten, war es warm. Je weiter wir nach Norden kamen, desto kühler wurde es, aber einen Winter im Land der Keltoi kenne ich nur aus Berichten. Hierzulande soll es barbarisch kalt werden und schneien. Schnee kenne ich natürlich, aber ich kann mir gar nicht vorstellen, wie die Flüsse zufrieren.“ Loranthus erschauerte. Unwillkürlich schlang er seinen Umhang fester um sich. Er konnte gut darauf verzichten, diese Wissenslücke durch praktische Erfahrung zu füllen. Wenn den Barbaren hier die Eiszapfen von den Fellen hingen, würde er längst wieder in seiner schönen warmen Heimat sein.

„Loranthus. Du bist doch ein gebildeter Mann.“

„Garantiert! Ich bin weit gereist und sehr belesen!“

„Bestens. Dann sage nicht immer ‚keltisch‘ oder ‚Kelta‘ oder ‚Keltos‘ oder ‚Keltoi‘. Das ist unzureichend. Wir sind hier im Land der Hermunduren, das weißt du, also nenne uns auch so. Zu dir sagt doch auch niemand Südoströmer.“

„Wa…?!!!“ Loranthus riss den Mund auf. „Bei allen Göttern des Olymps, ich bin kein …“ Beleidigt klappte er seinen Mund wieder zu und brummte: „Ich werde es mir abgewöhnen, keine Bange.“ Sage ich eben Barbar, da mach ich nichts falsch, ist ja nicht beanstandet worden, dachte er sich im Stillen.

„Gut, gut. Um deine Frage nun redlich zu beantworten: Unsere Grubenhäuser sind nicht primitiv. Sie sind sehr praktisch. Im Sommer ist es darin angenehm kühl und man schläft einfach wunderbar. Im Winter schützen sie uns vor Kälte. Selbst mit einem winzigen, winzigen Ofen kann man schnell einheizen und hat es sehr lange behaglich warm.“

„Weil alles aus Lehm besteht, und Lehm speichert Wärme“, schlussfolgerte Loranthus.

„Richtig. Die Häuser, die Öfen – alles ist aus Lehm und Weide. Selbst die Fußböden sind gestampfter Lehm.“

„Ich habe gelesen, ihr heizt auch mit Kohlebecken.“

„Kohlebecken?“ Viviane wurde schlagartig ernst. „Ja, das ist richtig. Wenn man keinen Ofen hat, bekommt man es mit einem Kohlebecken durchaus warm. Aber Vorsicht! Absolute Vorsicht!“ Achtung heischend riss sie den Zeigefinger hoch und Loranthus fühlte sich genötigt, eifrig zu nicken – zum Zeichen, dass er gut aufpasste.

„Beim Heizen mit Kohlebecken muss man unbedingt Vorsicht walten lassen. Wehe dem, der das vergisst! Also hör gut zu und merke dir: Wenn ein Haus komplett dicht ist, kann das tödlich enden. Man schläft ein und wacht nicht mehr auf.“

„Einfach so?“

„Das kommt drauf an. Zu Anfang fällt es nämlich gar nicht auf, wenn sich der Tod aus dem wohlig-warmen Becken schleicht. Man wird müde und träge … Ist man achtsam und handelt schnell, kann man sich retten; schläft man ein, ist man verloren. Dann merkt man nämlich nicht, wie die Kopfschmerzen kommen, das Unwohlsein, die Krämpfe, man kann sich nicht mehr wehren. Ja, ein Kohlebecken ist wahrhaftig ein lautloser Mörder.“

„Keine Bange“, gluckste Viviane, als sie das entsetzte Gesicht von Loranthus sah, und deutete auf die offene Tür des kleinen Grubenhauses.

„Wir haben einen Ofen plus ordentlichen Rauchabzug, und zwar gleich neben der Tür, damit man schon beim Eintreten mit wohliger Wärme empfangen wird – jedenfalls, wenn es kalt ist, heute nicht.“

„Prima“, seufzte Loranthus und war ziemlich erleichtert – bis er die Haustür musterte, an der er sich den Kopf stoßen würde, wenn er sich nicht ein wenig duckte. Gerade wollte er fragen, warum sie hierzulande gute Öfen bauten, aber keine Türen in ihrer Größe, da fiel ihm die Antwort selbst ein: Wenn man eine niedrige Tür aufmachte, blieb mehr Wärme im Haus als bei einer hohen. Ja, diese hochgewachsenen Barbaren waren wirklich nicht dumm.

Kaum waren sie am Stall angelangt und hatten sich über das dick ausgelegte Stroh gefreut, kam auch schon der Wirt, beladen mit Wassereimern in den Händen und Heu in einem hohen Weidenkorb auf dem Rücken.

„Ihr habt übrigens eine gut sichtbare Wegmarkierung“, sagte Viviane, während er mit Leichtigkeit das Heu in eine Raufe an der Wand steckte und das Wasser in einen sauberen Trog schüttete.

„Ja, nicht wahr? Den Weg haben wir erst kürzlich frisch instand gesetzt. Du weißt schon, unerwünschten Wuchs freischneiden, Orts- und Zeitangaben auf den Markierungen auffrischen …“

„Das ist euch gelungen“, versicherte Viviane vage und runzelte die Stirn. Offensichtlich sprach der Wirt nicht gern über das, was vor Kurzem hier geschehen sein musste. Einen Trupp feindlich gesinnter Chatten als ‚unerwünschten Wuchs‘ zu bezeichnen – auf den Vergleich wäre sie nie gekommen. Dafür hatte sie anhand der Toten Ort und Zeit wiederum gut ablesen können.

„Soll ich euch beim Abladen helfen?“ Der Wirt warf einen besorgten Blick auf Hanibu, die immer noch an Viviane gelehnt schlief.

„Wenn du sie mir vom Pferd heben könntest, wäre das eine große Hilfe“, flüsterte Viviane und verdrehte dabei ihre Augen zu Loranthus hinüber.

„Verlass dich ganz auf mich. Ich lege sie gleich ins Bett.“ Mühelos hob der Wirt Hanibu auf seine Arme, grinste selbstzufrieden und lief los.

Viviane stieg gemächlich von Dina. Hinter ihr ertönte ein dumpfer Aufschlag, doch das trieb sie noch längst nicht zur Eile – Loranthus lag ohnehin schon im Stroh und rieb sich den Hintern. Sobald er Vivianes mühsam verkniffenes Lachen sah, rappelte er sich auf und wollte sich beschweren, doch ihm fiel etwas Besseres ein.

In ungeahnter Geschwindigkeit lud er sämtliches Gepäck von Arion und schaffte es trotzdem, dabei jede einzelne Ledertasche für ihre stabile Machart zu bewundern – von allen Seiten, wohlgemerkt. Viviane konnte nur staunen.

Ihr gelang es gerade noch, ihre Blasrohre an sich zu raffen, die sie in der längsten Ledertasche versteckt hatte. Auch ihre Schwerter samt Waffengürtel, den aufwendig geschnitzten Reiterbogen und den abgewetzten Lederköcher samt Pfeilen rettete sie vor unerlaubtem Zugriff.

Als sie sich Letzteres locker über die Schulter warf und zur Tür ging, schnappte Loranthus nach Luft.

„Das sind deine?! Ich dachte, du transportierst die bloß?! Bist du eine Kriegerin? Ja, bei Athene, natürlich bist du eine Kriegerin, ich habe es gleich gewusst, allein die Art, wie du auf dem Pferd gesessen hast und wie du abgestiegen bist, und wie du vor mir gestanden hast, und wie du dich bewegst! Und als du zornig geworden bist, hast du diesen Barb… diesen Kutschenräubern extrem ähnlich gesehen, und ich wusste sofort, du bist noch gefährlicher als die alle zusammen und …“

„Lass gut sein! Beruhige dich“, lachte Viviane und packte den nach Luft ringenden Loranthus bei den Schultern. „Du brauchst doch keine Angst vor mir zu haben. Ich tue dir nichts. Heute nicht. Und morgen nicht. Und auch sonst niemals. Das schwöre ich. Es sei denn, du greifst mich ernsthaft an. Also keine Panik. Immer mit der Ruhe.“

„Du schwörst? Prima, das beruhigt mich kolossal. Kolossal.“ Loranthus seufzte erleichtert, bis ihm auffiel, dass Viviane seine Fragen übergangen hatte. „Aber du bist eine Kriegerin! Und das sind deine Waffen!“ Er zog einen Schmollmund. „Leugne es nicht, etwas anderes kaufe ich dir nicht ab!“

Viviane musste grinsen.

„Ja, bei Donar, dem mächtigen Streiter, ich bin eine Kriegerin. Zur Hälfte jedenfalls. Manchmal mache ich auch Jagd auf frei laufende Stiere. Die sollen ja besonders saftig werden, wenn man sie in Olivenöl tunkt. Du hast natürlich Glück, Hasenbraten in Nussöl esse ich noch lieber.“

„Oh, ich glaube, du willst mich an der Nase herumführen. Sei ehrlich! Laufen alle Keltoi-Krieger so herum wie du?“ Er zeigte auf das Langschwert, den Bogen …

„Loranthus. Was sollst du nicht mehr sagen?!“

„Gut, gut, ich meinte, Hermundurenkrieger. Sind die alle derart voll bepackt?“

„Nein. Nur solche, die eine weite Reise machen. Man weiß ja nie, was man unterwegs alles gebrauchen kann.“

„Und? Hast du schon mal etwas davon gebrauchen können?“

Verlegen sah Viviane auf ihre Hände hinab. „Nein, zum Glück noch nicht.“

„Zum Glück? Was meinst du mit Glück?“

Weil er keine Antwort bekam, öffnete Loranthus den Mund, um nachzufragen. Doch in diesem Moment machte Viviane auf dem Absatz kehrt, um ihre Waffen ins Haus zu bringen. Als sie zurück in den Stall kam, stand Loranthus immer noch da. Seinem entsetzten Blick nach zu urteilen, war er gerade dabei, sich selbst eine wirklich schlimme, unerhörte Antwort zu suchen, und dabei hatte er die Doppelaxt auf ihrem Rücken noch gar nicht entdeckt. Schweigsam zäumte Viviane ihre Dina ab.

Loranthus wollte das Gleiche bei Arion tun, doch dieser wich ihm ständig aus und so schlichen sie umeinander herum, als würden sie einen komplizierten Tanz einüben.

Viviane betrachtete die Darbietung eine Weile aus den Augenwinkeln und tat sehr beschäftigt, schließlich entschied sie sich aber doch, das Stachelbeerchen zu erlösen.

Resolut nahm sie Arion am Zügel.

„Schluss damit, alle beide. Loranthus, ich sehe zwar, du weißt, was du tust, aber mein Arion hier kann es besser. Wenn er nicht will, kann er einen ganz schön zur Weißglut treiben. Ich hatte anfangs selbst redlich Mühe mit ihm. Die treue Seele hing wohl zu stark am früheren Besitzer. Wie wir zusammen aufbrechen wollten, stellte er sich ganz und gar tot. Hat alle viere von sich gestreckt! Ist ein richtiger Schelm, mein Arion! Er dachte wohl, ich würde ihm das abkaufen!“

„Wie hast du ihn wieder auf die Beine bekommen?“ Loranthus trat unauffällig weg von Arion und beäugte ihn misstrauisch von der Seite. Arion starrte zurück.

„Zuerst dachte ich wirklich, er sei krank und habe ihn untersucht. Das war recht unterhaltsam, besonders für Arion. Wahrscheinlich liebt er es, wenn ich ihn abtaste und überall mein Ohr gegen ihn drücke; jedenfalls hat es eine ganze Weile gedauert, bis ich Bescheid wusste. Dann zog ich und schob und schimpfte, bis ich mit meinen Kräften und meiner Tirade am Ende war. Also habe ich ihm etwas zugeflüstert, ein Versprechen. Das hat ihn ganz schnell auf die Beine gebracht.“

Loranthus sah sie schief an. „Versprochen? Einem Pferd? Was denn?“

„Das …“ Viviane tätschelte Arion, der sie sachte stupste. „… ist unser Geheimnis.“

Loranthus starrte von Viviane zu Arion und wieder zurück, und prustete los. Er lachte und lachte und japste nach Luft, bis er sich die Seiten halten musste und sein Gesicht rot glänzte wie ein gesalzenes Radieschen.

Als er anfing, Heu, Wasser, Äpfel, einen warmen Stall, eine Extraportion Hafer … aufzuzählen, wieherten Arion und Dina um die Wette. Viviane nahm ihre Taschen, drehte sich um und ging. Sie konnte nur noch den Kopf schütteln.

Bis Loranthus wieder normal war, trug sie ihre Sachen ins Haus und wünschte sich Ohrenpfropfen, denn jedes Mal, wenn sie ein neues Gepäckstück aus dem Stall holte, wieherten dort drei Pferde, zwei mit Heu im Maul. Was für ein Radau. Es war zum Davonrennen.

Hanibu bekam von dem Lärm nichts mit. Sie lag in einem einfachen, aber sauberen Holzbett und war bis zum Kinn unter einer dicken Wolldecke verschwunden, doch sobald Viviane ihre letzte Tasche etwas zu schwungvoll auf den Boden stellte, machte sie die Augen auf und gähnte herzhaft.

„Dieses Strohpolster ist herrlich weich und riecht so gut! Ich fühle mich gleich viel wohler!“

„Unterschätze die Strapazen nicht. Du hast einen übermächtigen Gegner besiegt. Willst du mit uns ins Gasthaus kommen oder soll ich dir lieber etwas zu essen herbringen?“

„Ich komme mit.“ Hanibu streckte die Arme und schälte sich gemächlich aus der Decke.

Viviane stapelte ihre Taschen neben der Tür auf und fragte wie nebenbei: „Lässt er dich eigentlich mit am Tisch sitzen oder musst du die Reste darunter suchen?“

Mitten im Aufstehen hielt Hanibu inne, sackte auf die Bettkante zurück und sagte zu ihren nackten Füßen: „Oh nein, keine Bange. Er behandelt mich gut. Er hat mich noch nie geschlagen oder … Schlimmeres. Ich bin eigentlich bloß durch Zufall bei ihm, musst du wissen. Loranthus’ Leibsklave hatte mich auf dem Sklavenmarkt entdeckt und wohl mit jemand anderem verwechselt. Darum ist er auf den Sklavenhändler losgegangen und in dem folgenden Handgemenge wurde er erstochen. Ich stand da und konnte nichts tun.

 

Loranthus schrie, sie sollten aufhören, doch es nützte nichts. Es hätte auch nichts genützt, wenn er sich ins Getümmel gestürzt hätte, womöglich wäre er selbst ums Leben gekommen.“ Hanibu seufzte. „Er war damals sehr wütend. Hat den ganzen Sklavenmarkt zusammengebrüllt, er wolle keinen kostenlosen Ersatz, während der Händler ihn noch übertönte und meine Vorzüge anpries. Als Loranthus hörte, ich spräche Griechisch, wirkte er interessiert. Aber dann meinte er, wenn er mich nähme, würde ich ihn ständig an den Verlust seines Leibsklaven erinnern. Erst, als mich der Händler vor seine Augen töten wollte, weil ich die Schuld an der ganzen Misere trüge, hat Loranthus eingelenkt. Nachts, wenn er denkt, ich schlafe, weint er manchmal vor lauter Trauer, weil sich sein Leibsklave so sinnlos in den Tod gestürzt hat. Er muss ihn wohl sehr gern gehabt haben. Er ist wirklich ein guter Herr, höchst zivilisiert und sehr gebildet. Auch wenn er mich zuerst gar nicht haben wollte, so hat er mich doch von Anfang an gut behandelt. Ich meine: Er hätte mich ja an den Nächstbesten weiterverkaufen können, aber das tat er nicht. Zu meinem größten Erstaunen kaufte er mir etliche neue Kleider von bester Qualität. Mittlerweile redet er sogar mit mir, als wäre ich seine Reisebegleitung, und bringt mir noch mehr Griechisch bei. Ich bin froh, bei ihm zu sein. So kann ich mich noch als Mensch fühlen und nicht als … als Ding.“

„Mag sein“, murmelte Viviane. „Mir erscheint er dennoch nicht besonders einnehmend vom Wesen her. Na, wir werden sehen. Komm, ich habe Hunger!“ Vorsichtig half sie Hanibu auf die wackeligen Beine.

„Du bist so gut zu mir“, seufzte Hanibu wieder und ihre dunklen Augen schimmerten wie Obsidian unter Wasser. „Noch vor zwei Monden war ich frei genau wie du. In der Nacht kamen die Häscher und haben alle, die jung und kräftig waren, zusammengetrieben. Meine Brüder nahmen sie für die Bergwerke mit nach Nubien, ich kam auf das nächste Schiff nach Massalia. In ein paar Jahren werden sie wiederkommen. Dann sind die Kinder älter und die nächste Sklavenernte kann beginnen.“ Hanibu schlug die Augen nieder.

„Auch bei meinem Volk gibt es Sklaven“, flüsterte Viviane, die sah, wie sich Hanibus Fäuste ballten, und wurde lauter. „Aber ich glaube fest daran, dass diese unwürdige Behandlung der eigenen Spezies aufhören wird. Und wenn ich den Anfang dazu machen muss, soll mir das recht sein. Komm, meine schöne schwarze Perle, wir passen zusammen durch die Tür.“

Draußen wartete Loranthus und prustete bei Vivianes Anblick wieder los – er war bereits stark in Atemnot, schien sich allerdings keine Sorgen zu machen. Hanibu sah Viviane fragend an, doch er kam deren Antwort zuvor und quiekte: „Sie kann mit Pferden sprechen, das ist kurios, phänomenal, schier unglaublich!“ Krampfhaft versuchte er, mit dem Lachen aufzuhören und presste die Lippen zusammen. Dafür rollte er nun wie ein Irrer mit seinen fast schwarzen Augen.

Hanibu sah Viviane interessiert an. „Gibt es eigentlich etwas, was du nicht kannst?“

„Selbstverständlich. Ganz viel. Wahrsagen zum Beispiel, ist absolut nicht meine Stärke. Aber jetzt kommt, der Wirt wartet.“

„Da fällt mir ein – ich hätte eine Bitte“, druckste Loranthus herum. „Könnten wir ab sofort nur Griechisch reden?“

Viviane überlegte nicht lange. „Ist mir recht. So versteht Hanibu wenigstens, was wir drinnen bereden, und die anwesenden Händler verstehen es auch. Die dürften sowieso mit allen Wassern gewaschen sein.“

„Was hat das Waschen damit zu tun? Versteh ich nicht.“ Loranthus deutete zum Langhaus, vor dem ein Wasserstrahl aus einem hölzernen Rohr in eine darunter befindliche Steinrinne gen Fluss plätscherte, und runzelte die Stirn.

Viviane lachte. „‚Mit allen Wassern gewaschen‘ ist ein Sprichwort. Es bedeutet, dass man vieles weiß und kann. Ein Händler, zum Beispiel, sollte halbwegs Griechisch können, denn es gibt kaum einen Landstrich, wo nicht wenigstens einer ihn versteht. Griechisch ist immer noch eine Weltsprache, sogar bei den Römern.“

Loranthus war sprachlos vor Rührung. Viviane zwinkerte kurz zu Hanibu hinüber und machte eine einladende Geste. Dicht beieinanderstehend wuschen sie sich die Hände am Brunnen vor dem Haus und betraten den Gastraum. Die anderen Gäste – beide jung, einer blond, einer brünett – waren mit dem Hasenbraten beschäftigt, sahen jedoch bei ihrem Eintreten neugierig auf.

Viviane rief: „Einen guten Abend euch!“, und hängte ihren Mantel sowie den von Hanibu an die großen Holznägel neben der Tür. Loranthus sah ihr dabei zu und ihm fielen fast die Augen aus dem Kopf.

Viviane befürchtete einen neuen hysterischen Anfall – ob Heulen oder Lachen, völlig egal – und stemmte schon mal die Hände in die Hüften. Die Daumen klemmte sie unter ihrem Gürtel fest, damit sie nicht Loranthus samt seinem verdreckten Umhang an den Nagel hängte, und zwar bevor er sie hier vor aller Augen blamierte.

Was starrte er nun schon wieder? Ihre Torques hatte sie doch in ihrer größten Gürteltasche versteckt. Vielleicht wegen ihres Messers im Gürtel, obwohl sie das nur zum Essen benutzte. Natürlich konnte sie auch damit werfen und treffen, und wenn er das wüsste, würde der Angsthase wahrscheinlich im Zickzack hüpfen. Sein Blick huschte jetzt kreuz und quer über ihre Gestalt, als wäre er auf der Suche nach verborgenen Waffen, um sich für die richtige Tischseite zu entscheiden. Wenn sie die Doppelaxt noch auf ihrem Rücken hätte, würde er sich bestimmt nicht mal im selben Raum mit ihr aufhalten wollen. Vorsichtshalber hatte sie die Axt in einer Lasche im Inneren ihres Mantels stecken, sie amüsierte sich auch so schon prächtig über seinen wieder einmal offen stehenden Mund.

Allerdings lag sie mit ihrer Einschätzung völlig falsch, was die Blicke der anderen Männer im Raum bewiesen. Diese waren den Anblick von Essmessern durchaus gewöhnt, sie hatten selbst welche und trotzdem einen offenen Mund.

Viviane trug blaubeerfarbene Hosen, die sich eng an ihre langen Beine schmiegten, darüber ein hellgelbes Hemd. Rechts und links war es mit Blaubeerzweigen bestickt und ging ihr ein Stück über die Hüfte; obwohl einfach geschnitten, kam ihre schlanke Figur darin sehr gut zur Geltung.

Ihre schmale Taille wurde von einem interessanten Gürtel umwickelt – ja, umwickelt. Er bestand aus einer fingerdicken Lederschnur, die sie mindestens siebenmal um ihren Körper geschlungen hatte, was ein hübsch aufgeworfenes Muster ergab – und die Frage, ob dieses seltsame Utensil wohl auch anderen Zwecken diente. Im Moment war es jedenfalls ein breiter Ledergürtel, auf dem rundherum etliche Ledertäschchen aufgereiht waren, rechts hingen noch ein Messer und ein Trinkhorn daran, und in der Mitte glänzte ein kupferner Wolf als Gürtelschnalle. Wer Ahnung hatte, erkannte, dass es kein echtes Kupfer, sondern eine Kupferlegierung war, die eine sehr stabile Haken-Öse-Verbindung aus Eisen tarnte.

Da die Händler die Schnalle genauestens musterten, schob Viviane ihre Hände darüber und freute sich, weil nun Hanibu von oben bis unten beäugt wurde. Sie hatte ihr absichtlich Kleider gegeben, die zu ihrer dunklen Haut passten, und das verfehlte seine Wirkung nicht. Selbstverständlich brauchte sich Hanibu nicht vor begehrlichen Blicken fürchten, die womöglich zu schlechten Taten führten. Niemand würde ihr etwas antun. Zum einen lag das am Ehrgefühl hierzulande, zum anderen waren die Strafen enorm abschreckend und als Loranthus’ Sklavin war sie sowieso tabu. Aber sie sollte ruhig merken, welch erfreulichen Anblick sie bot. Das war gut für ihr Selbstwertgefühl.

„Kommt, Fremde! Setzt euch zu uns an den Tisch!“, rief der blonde Händler auf Griechisch und winkte Loranthus. Er dachte wohl, dieser sei der Anführer des Trios, doch weit gefehlt.