Der mondhelle Pfad

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„Was macht Afal eigentlich, wenn er nicht gerade Opferzeremonien oder Feste leitet?“

Viviane drehte ihr den Kopf zu und Hanibu erschrak wegen des seltsamen Mienenspiels, dass sich ihr bot.

„Hätte ich das nicht fragen dürfen?! Ist das ein Geheimnis?!“

Viviane prustete los und winkte beschwichtigend ab, weil Hanibus Augen schon feucht zu glänzen begannen.

„Nein, nein! Das ist kein Geheimnis und natürlich darfst du mich alles fragen, was du wissen willst. Aber ich war gerade in Gedanken, und du bist übrigens die Erste, die das wissen will! Keiner fragt danach!“

„Vielleicht denken alle, dass man so was nicht fragen darf?“, hakte Hanibu nach und kämpfte die aufsteigenden Tränen erfolgreich zurück.

„Du meinst, weil Afal der oberste Druide in unserem Clan ist und deshalb über allem steht?“

„Genau.“ Jetzt war alles wieder gut.

„Da hast du einen totalen Denkfehler, Hanibu. Auch er muss sich verantworten, sogar mehr als jeder andere Mensch: vor dem gesamten Clan, vor dem König und natürlich vor den Göttern. Das ist seine absolute Pflicht. Und glaube mir, Hanibu: Nur derjenige wird oberster Druide, der seiner Verantwortung vollkommen gerecht wird.“

„Ich verstehe. Kann eigentlich jeder Druide oberster Druide werden?“

Viviane wiegte den Kopf.

„Theoretisch, ja. Aber meistens sind das weise Druiden, die das Universum studiert haben, zumindest die Rechtsprechung oder die Philosophie. Diese Künste stehen im höchsten Rang bei uns Druiden und bringen daher das meiste Ansehen in unseren Kreisen. Ich persönlich gebe der Astronomie den Vorrang. Die Sterne zu berechnen und was sonst noch dazu gehört, halte ich nämlich für besonders kompliziert. Das wäre nichts für mich. Wahrscheinlich würde ich, an Afals Stelle, die Sommersonnenwende in den Winter verlegen, Beltaine käme zu früh zur Frühjahrstagundnachtgleiche und außerdem würde ich den ganzen Tag über Nackenschmerzen jammern.“

„Nackenschmerzen? Ach so! Aber vielleicht hat Afal ja ein dickes, weiches Schaffell und beobachtet die Sterne im Liegen?“

Viviane kicherte und nickte anerkennend.

Hanibu strahlte.

„Afal ist also ein hoch angesehener Astronom.“

„Ja. Er berechnet die Bahnen der Sterne. Nachts beobachtet er sie bei ihrem göttlichen Tanz und hat für jede Sternenkonstellation ein Knotenmuster parat. Wie er das ganze Knüpfwerk auseinander hält, ist mir zwar schleierhaft, aber er kann sogar Sonnenfinsternisse auf dreihundert Jahre vorausberechnen. Stell dir das mal vor, Hanibu! Dreihundert Jahre im Voraus! Mondfinsternisse gibt es ja viel öfter und sie sind auch leichter zu berechnen, aber irgendwie habe ich es trotzdem nie verstanden, obwohl ich schon mal dabei war, als sie die Sterne vom Himmel geholt haben.“

„Sterne? Vom Himmel? Geholt?“

„Das geht, glaube mir! Du brauchst nur einen Teich, ein riesengroßer Bottich geht aber auch. Da gehen eben weniger Sterne rein.“

„Sterne rein? Wie?“

„Ganz einfach. Du musst nur Stricke spannen und dort, wo sich die Sterne im Wasser spiegeln, da machst du einen Knoten. Wenn du das übers Jahr verteilt machst, erkennst du die Wanderung der Sterne. Nicht umsonst gibt es den See der Weisheit in unseren Mythen. Die Welt von Vater Himmel spiegelt sich bei uns hier unten auf der Mutter Erde wider.“

„Aha, das ist wirklich interessant.“

„Ja, das ist es, Hanibu. Es geht alles, wenn man weiß wie, auch Sterne vom Himmel holen. Und im Winter lehrt Afal zusätzlich die älteren Kinder Schreiben, Rechnen und Griechisch. Sein Weib, Fea, ist für die jüngeren zuständig, musst du wissen. Ach! Und dann überprüft Afal auch noch gemeinsam mit dem König wie viele Rinder, Schafe, Schweine, Ziegen und Gänse es in den Dörfern gibt, Getreide und Gemüse natürlich auch. Daraus wird errechnet, was die Dörfer abgeben müssen.“

„Und wenn der König zu viel von euch verlangt?“

Viviane schüttelte den Kopf.

„Dafür ist Afal ja gerade zuständig. Der König verwaltet zwar seine Güter selbst, aber Afal überprüft alles zur Sicherheit und steht mit seinem Wort für jede Forderung ein. Keiner kann dann behaupten, der König würde zu viel verlangen. Verstehst du? Afal ist praktisch die Kontrolle für König und Clan.“

Hanibu nickte.

„Wie du vorhin schon gesagt hast: Er muss sich mehr verantworten als andere. Ja, ich verstehe. Aber wer legt die Abgaben fest? Wenn sie zu hoch sind, meine ich.“ Viviane nickte verstehend und schüttelte dann den Kopf.

„Jedes Jahr zu Samhain wird der König neu gewählt, beziehungsweise bestätigt. Natürlich ist es wichtig, dass ein König Verbündete hat und hoch angesehen ist, aber was meinst du, was passiert, wenn sein Clan unzufrieden ist?“

Viviane zog scharf die Luft ein und überließ es Hanibus Fantasie, was man mit einem König alles anstellen könnte, der sein Volk übers Ohr haut. Hanibu fasste sich auch prompt an die Gurgel.

Viviane fühlte sich nun doch zu einer Erklärung genötigt, denn Lew würde ja auch eventuell König werden. Hanibu sollte keine schlaflosen Nächte haben, wegen der Vorstellung, ein aufgebrachter Haufen Bauern würde Lew aus ihren Armen zerren.

„Keine Angst, Hanibu! Das ist wie beim Melken! Wir nehmen bei jeder Kuh doch auch nur ein bisschen Milch weg. Sonst würden wir uns ja ins eigene Fleisch schneiden. Und König Gort nimmt auch nur einen kleinen Teil. Er muss ja schließlich die Krieger und die Druiden mit ernähren.“

„Warum gehen die nicht selbst auf die Felder?“

„Oh, das tun sie ja! Sie haben jeder ein kleines Stück Land, das sie eigenhändig bewirtschaften. Alle Krieger, Druiden und Könige können pflügen, säen, ernten, mit einem Ochsen umgehen und was man sonst noch als Bauer können muss. Einige sind auch ganz passable Handwerker, aber die Felder zu beackern ist eben nicht ihre Hauptaufgabe. Jeder in unserem Clan hat seine ganz persönlichen Pflichten. Stell dir mal vor, was passieren würde, wenn ein ängstlicher Bauer plötzlich als Krieger fungieren müsste oder ein König sein Organisationstalent beim Schafe- und Ziegenhüten vergeuden täte! Das wäre doch absurd! Das wäre …“

Viviane suchte nach einem passenden Vergleich.

„Das wäre so verkehrt, als wenn ich Arion tragen täte statt er mich.“

Hanibu kicherte und Viviane fügte noch hinzu: „So etwas nennt man Hierarchie, Staatsgefüge, was bedeutet: Jeder fügt sich in die Gemeinschaft und nutzt ihr mit seinen Talenten.“

„Ich glaube, ich verstehe, was du meinst, Viviane. Du bist ja das beste Beispiel: Die Tochter eines Schmieds und einer Kräuterfrau kann zwar keine Sterne berechnen, aber dafür hat sie ein höchst seltenes Talent, das aus ihr eine Ärztin und Kriegerin macht und sie so ganz vortrefflich ihrem Clan nützt. Aber wie ist dieses … Staatsgefüge entstanden? Ich meine: Warum ist es gerade so und nicht anders?“

Viviane blieb stehen und sah Hanibu erneut seltsam an. Die verzog verlegen das Gesicht und lächelte entschuldigend.

„Bin ich wieder die Erste, die das wissen will?“

Viviane lachte und sah sich um.

„Ich amüsiere mich immer prächtig, wenn du in einem Kauderwelsch aus drei Sprachen sprichst“, erklärte sie Hanibu und schob sie vor sich her. „Aber um deine Frage zu beantworten: Ja, du bist wieder die Erste. Das liegt vielleicht daran, dass es für uns eben schon immer so war. Du kommst aus einem anderen Land. Da ist es nur verständlich, dass dich so etwas interessiert. Mir ist auch gerade eingefallen, wie ich dir das am besten erklären kann. Guck!“

Viviane winkte zwei junge Maiden heran, die gerade mit Holzeimern voller Wasser an ihnen vorbei laufen wollten und sich nebenbei tief verbeugten. Sie erklärte ihnen, was sie vorhatte und fragte, ob sie ihr dafür die Wassereimer zur Verfügung stellen wollten. Die beiden jungen Mädchen verstanden zwar nicht sogleich den Zusammenhang, waren aber sehr erpicht darauf zu sehen, wie man Hierarchie mit Wasser erklären konnte und hockten sich neben Hanibu vor die Eimer.

Schmunzelnd tauchte Viviane die Hand in einen der Eimer, spreizte die Finger und ließ das Wasser hindurch rinnen.

„Das sind die Menschen, wenn jeder für sich arbeitet.“

Viviane deutete auf ihre nasse Hand.

„Es bleibt zwar was hängen, aber man muss viel zu oft schöpfen, wenn man seinen Durst löschen will. Da kommt der König und sagt ‚Schart euch um mich und ich werde euch leiten, zusammen schaffen wir alles, was unserem Vater Himmel zur Ehre gereicht und die Götter werden uns gnädig sein.‘ Also hören die Leute auf ihren König und siehe da …“

Viviane schloss langsam ihre gespreizten Finger, tauchte die hohle Hand ein und deutete auf das Wasser, das sich darin gesammelt hatte.

„Wenn man sich etwas erschafft, dann muss man es natürlich auch schützen. Sonst nutzt ein anderer die Gelegenheit und denkt sich ‚Ach! Ich warte, bis die Schwächlinge ihre Ernte einfahren‘ und dann schwupps …“

Viviane holte aus und gab ihrer eigenen Hand einen kräftigen Schlag. Das Wasser schwappte heraus und spritzte in alle Richtungen davon. Ihre drei Zuschauer gegenüber quietschten.

„Wie ihr seht … Verteidigung ist wichtig und dafür braucht die Gemeinschaft Krieger. Sie müssen immer – ich betone immer – kampfbereit sein und beschützen uns mit ihrem Leben. Für diesen Dienst sollten ein paar Abgaben gerechtfertigt sein, denke ich.“

Viviane nahm ihr Horn aus der Gürtelschlaufe.

„Dann gibt es einige Menschen, die sind schlauer als die anderen. Sie beobachten alles von Mutter Erde, die Gestirne von Vater Himmel, die Allmacht … Sie achten die Götter und hüten das Wissen, das sie uns vor langer Zeit gebracht haben. Sie tun den Menschen viel Gutes.“

 

Hanibu nickte verstehend, eine der jungen Maiden zeigte auf das Horn.

„Da passt natürlich noch mehr rein, als in die hohle Hand und einfacher geht es auch.“

„Ganz recht, junge Maid“, lobte Viviane und bot Hanibu das Horn zum Trinken an.

Als sie danach greifen wollte, zog sie schnell die Hand zurück. Hanibu sah sie verständnislos an, bis ein Lächeln ihr Gesicht erhellte.

„Aha! Jetzt verstehe ich! Damit die Druiden das alles leisten können, müssen sie natürlich auch einen Teil von den Abgaben bekommen. Sonst hat man am falschen Ende gespart und bekommt sein Horn nicht voll.“

„Genau, Hanibu. Nun hast du das System begriffen! Und meine anderen aufmerksamen Zuhörer? Wie steht es mit euch?“

Die beiden jungen Mädchen nickten eifrig. Viviane erklärte ihnen, dass die Lektion nun beendet sei und fragte, ob sie ihr noch einen Schluck Wasser gönnten, was die beiden zum Strahlen brachte. Viviane bückte sich ziemlich umständlich und konnte sich nicht entscheiden, aus welchem Eimer sie denn nun das Wasser nehmen sollte. Endlich hatte sie ihr Horn voll und die beiden Mädchen gingen mit neuem Elan ihrer Wege. Mit einer Hand im Rücken drehte sich Viviane zu Hanibu um und prostete ihr zu.

„Vorhin diente es einem anderen Zweck, aber ich lasse dich trotzdem nicht mehr aus meinem Horn trinken.“

„Aber das hast du doch sonst auch immer gemacht!?“

Hanibus Augen begannen wieder verdächtig zu glänzen, doch Viviane übersah es diesmal, trank genüsslich ihr Horn leer und steckte es umständlich in die Schlaufe zurück. Danach schloss sie die Schnallen an ihrer prall gefüllten Arzttasche. Hanibu leckte sich derweil die trockenen Lippen. Sehnsüchtig pendelte ihr Blick zwischen den entschwindenden Wassereimern und Vivianes Horn. Ihre Augen wurden abgelenkt und weiteten sich überrascht, als Viviane ein wunderschön verziertes Horn in die Höhe hielt.

„Du brauchst mein Horn nicht mehr. Du hast jetzt ein eigenes. Und hier …“ Sie hob ein reich verziertes Lederteil hoch. „ … hab ich auch noch die passende Gürtelschlaufe dazu.“

Hanibu blinzelte hektisch.

„Viviane! Das ist … das ist …!“

„Für dich, ganz recht! Hab ich aus meiner Kriegsbeute ausgesucht. Gefällt es dir nicht?“ Viviane beugte sich zu Hanibu und sah ihr von unten her in die Augen. „Du brauchst doch nicht gleich weinen! Ich habe noch mehr davon, da wählst du dir nachher selbst eins aus. Das hier hat mir bloß am besten gefallen.“

Hanibu schniefte, schüttelte den Kopf und wischte sich mit einem Zipfel ihres Überkleides die Augen. Dann krächzte sie: „Ist es dir gar nicht aufgefallen?“

„Was?! Ist doch ein ordentliches, solides Trinkhorn! Absolut auslaufsicher, wenn man es richtig rum hält.“

Viviane betrachtete das Horn von unten und drehte es prüfend zwischen den Fingern. Hanibu räusperte sich und deutete zitternd darauf.

„Es ist innen drin mit Silber ausgegossen und hat außen herum dünne Goldfäden im Schliff!“ Hanibus Stimmlage wurde genauso dünn wie die Goldfäden und schraubte sich, passend zu den Verzierungen, immer höher. „Die Gürtelschlaufe hat sogar ein punziertes Knotenmuster und der Feststellknopf ist ein riesiger Bernstein.“

Wenn Hanibu jetzt weiter piepsen täte, bekäme der Bernstein einen Sprung und sie Atemnot. Daher stellte Viviane ihre Ohren auf Durchzug und fächelte ihr schnell den ankommenden Luftstrom zu.

„Ach so! Doch, doch! Ist mir alles aufgefallen! Deshalb hatte es mir ja so gut gefallen. Ich hab auch ein weißes, was innen vergoldet ist und außen mit Perlmuttintarsien, aber das fand ich dann doch zu protzig. Und die Gürtelschlaufe dazu erst noch! Am oberprotzigsten!“

Viviane winkte ab. „Wenn du das lieber haben willst …“

Hanibu schluchzte: „Ich bin doch nur eine Sklavin, Viviane! Hast du das vergessen!? Ich bin nicht würdig …“

„Ach. Jetzt weiß ich, woher der Wind weht! Einen kurzen Augenblick dachte ich wirklich, ich stehe auf deinen Zehen.“

Viviane drückte Hanibu bestimmend das Horn in die zitternden Hände und klammerte die ihren fest darum, sodass jeder Widerstand zwecklos war.

„Hör mir gut zu, Hanibu! Ich, Viviane, Dar Arminius und Flora vom Clan des stolzen Cernunnos, Hermundurin und Abkömmling der mächtigen Sueben, kann meine Kriegsbeute verteilen an wen ich will und wie ich will. Ich habe mir alles redlich erkämpft. Der Sieg über meine Gegner gibt mir das Recht dazu. Verstanden?“

„Ja, Viviane. Ich habe dich verstanden“, nuschelte Hanibu, zog den Kopf ein und ihre Hände wurden schlaff.

Viviane drückte sie energisch um das Horn und hielt ein kleines Kupferröhrchen hoch.

„Sollte natürlich irgendjemand dir dieses Geschenk streitig machen wollen, habe ich schon mal vorgesorgt. Da steht übrigens dasselbe drin, was ich gerade eben gesagt habe, bis auf das ‚Verstanden‘, versteht sich. Aber das hier drin …“ Viviane wedelte mit dem Kupferröhrchen. „ … begreift selbst der dümmste Dieb. Es ist nämlich in Ogham und trägt mein Siegel. Jeder, der das Schriftstück zu Gesicht bekommt, weiß dann Bescheid. Und wer es nicht lesen kann, gib es sowieso freiwillig zurück. Schon allein aus Angst, es könnte ein Fluch mit drin stehen. Was auch der Fall ist. Nur so als kleine Rückversicherung, da es das Geschenk eines Chattenkönigs ist, genauer, das meines angeheirateten Onkels Nyht. Die anderen Hörner habe ich übrigens von seinen Bündnispartnern als Geschenk bekommen, was eindeutig nicht unter Kriegsbeute zählt.“

Hanibu bekam ganz große Augen, Viviane tätschelte das Horn.

Übertrieben wackelte sie mit dem Röhrchen und schnippte einen Finger dagegen, so dass es einen feinen Klang von sich gab. „Es ist übrigens das erste Mal, dass ich mein Siegel benutzt habe. Das wollte ich noch dazu sagen, weil man es wegen dem Röhrchen nicht sieht. Ist ja auch eigentlich für Rezepte gedacht. Wir Hermunduren sollen schließlich nicht zurückstehen, bei den vielen Rezepturen, die sonst überall kursieren.“

Ehrfurchtsvoll nahm Hanibu das Röhrchen entgegen, sah auf und lächelte endlich wieder.

„Ich nehme dein Geschenk an und will es immerdar ehren und achten wie dich selbst, meine hoch angesehene Freundin Viviane.“

„So!“ Viviane klatschte in die Hände, wobei sie hektisch zwinkerte. „Dann hätten wir ja alles geklärt. Nein, halt! Natürlich musst du es noch ausprobieren! Hoffentlich hast du nicht so sehr rein geheult. Da schmeckt ja sonst das schöne Bergwasser unserer Quellgöttin Pauline ganz salzig.“

Übertrieben genau beäugte sie das Innere vom Horn, befand es für annehmbar und bedeutete Hanibu mit großer Geste, sie dürfe nun daraus trinken.

Schmunzelnd beobachtete Viviane, wie Hanibu erst zögerlich, dann genüsslich trank.

„Und jetzt auf zum König! Mal sehen, ob Großmutter Mara recht hat.“

„Soll ich lieber hier warten?“

Viviane schwang herum und sah strafend auf Hanibu herab, die sich noch nicht von der Stelle gerührt hatte.

„Hast du Leim an den Füßen?! Soll ich dich mal ordentlich an den Ohren ziehen?“

Hanibu drehte das Horn nervös zwischen den Fingern hin und her.

Viviane verdrehte dazu passend die Augen.

„Du brauchst doch keine Angst vor dem König zu haben. Ich bin schließlich dabei!“

„Du hast ja recht“, seufzte Hanibu. Aber verstecke bitte das Horn wieder in deiner Tasche, damit es der König nicht an mir sieht.“

„Ach, König Gort wird es dir garantiert nicht wegnehmen. Der hat selbst so eines.“

Hanibu drückt Viviane das Horn in die Hand. Mit eingezogenem Kopf schielte sie den Weg hinauf und sagte ganz leise in der Sprache der Hermunduren: „Eben.“

Unverständliches Zeug vor sich hin brummelnd, steckte Viviane das Horn wieder in ihre Tasche zurück und dirigierte Hanibu weiter den Berg hinauf. Sie hielt nicht einmal an, um mit daherkommenden Leuten ein Schwätzchen zu halten, sondern erklärte lautstark, sie hätte keine Zeit, der König erwarte sie. Nach der dritten Wiederholung wurde sie ein wenig leiser, nach der siebten oder neunten jedoch wieder lauter. Als sie hinter Afals großem Haus zu einer Wegbiegung mit Felsplateau kamen, knurrte sie „Endstation“ und deutete auf ein riesiges Langhaus, das dort stand wie auf einem steinernen Thron. Hanibu betrachtete es mit offenem Mund. Sie sah weit nach vorne, doch das Haus des Königs nahm kein Ende. Kopfschüttelnd beugte sie sich zur Seite und auch hier konnte sie nicht dahinter sehen. Vivianes Schmollmund verformte sich zu einem Schmunzeln.

„Ich staune auch jedes Mal über seine Größe, Hanibu. Als Kind habe ich es genauso angestarrt wie du jetzt.“

Hanibu seufzte.

„Du hast mir erzählt, dass hier manchmal viele Leute wohnen, wenn sich die Könige treffen und ihre Krieger mitbringen oder wenn andere hochrangige Gäste untergebracht werden müssen, Barden zum Beispiel. Du hast mir mal gesagt, dass ein Barde immer eine sehr gute Unterkunft braucht, sonst wandert er zum nächsten König und singt dort Schmählieder über den geizigen König und schadet so dessen Ruf.“

Drei Kinder mit Reisigbündeln liefen eilig an ihnen vorbei, neigten artig die Köpfe und riefen „Guten Morgen!“

Sie grüßten zurück und schlossen sich ihnen an, immer dem Weg folgend, der sich durch ein paar lang gestreckte Steinstufen das Felsplateau hinauf wand. Als Viviane weiter redete, sorgten die Kinder gleich dafür, dass sie nicht außer Hörweite gerieten.

„Könige und ihre Krieger wollen standesgemäß untergebracht werden, Barden erst recht. Solche Schmählieder darf man nicht unterschätzen, Hanibu. Es soll wirklich schon Barden gegeben haben, die wegen schlechter Bewirtung einen König so verunglimpft haben, dass er sein Amt abgeben musste. Es fällt schließlich auf den ganzen Clan zurück, wenn jemand über dessen König herzieht. Daher hat unser Königshaus sogar ein eigenes Abteil, mit allem drum und dran, extra für einen wandernden Barden. Damit demonstriert König Gort nicht nur seinen Respekt für Barden, sondern sein Langhaus ist auch so etwas wie ein Prestigeobjekt.“

„Aha, ich verstehe!“ Hanibu trat von der letzten Stufe auf die Freifläche und besah sich die Aussicht über das Tal. Mit weit ausholender Geste deutete sie auf die umliegenden Berge. „Es geht um euer Ansehen bei den anderen Clans.“

„Genau, Hanibu. Es ist natürlich auch prunkvoller ausgestattet als ein normales Langhaus. Es hat mehrere Schwitzbäder mit genügend Waschzubern und auch mehrere Aborte. Innen gibt es sogar abgeteilte Räume. So richtig mit Holzwand! Nicht nur Flechtwand oder Vorhang! Der König hat auch einen eigenen Brunnen, extrem tief, und seine Küche ist in einem Extrahaus. Was meinst du wohl, wie viel Platz sie im Keller haben? Der ganze Berg unter der Küche ist ausgehöhlt!“

Viviane stampfte mit dem Fuß auf und horchte, ob es hohl klang. Da nichts zu hören war, deutete sie auf den Weg, der vor dem Langhaus entlang ging.

„Komm, wir zählen mal die Schritte von der Außenkante bis zur Treppe, die ist genau in der Mitte.“

Sie stellten sich nebeneinander und Hanibu zeigte auf den Vorbau.

„Prunkvoll ist das richtige Wort. Das erkennt man schon am Vorbau. Der ist ja nicht wie bei euch offen, sondern geschlossen und geht von einem Ende zum anderen.“

„Das liegt an der Höhe. Bruder Wind treibt es hier oben gerne ein wenig toller. Es hat also mehr einen praktischen Effekt.“

„Ein Windschutz, ich verstehe. Aber so schöne Schnitzereien habe ich noch nie gesehen! Wie wird es da wohl erst drinnen aussehen?“

Mit einem „Wirst du gleich selbst sehen“ von Viviane gingen sie näher heran und besahen sich die Bilder und Ornamente in der Holzvertäfelung. Dabei vernahmen sie Musik und sahen auch bald die Köpfe von Königin Elsbeth, Elektra, Fea, Madite und des Barden über den Windfang ragen. Als sie an der Treppe ankamen, hatten sie eine vollständige Sicht auf die dort versammelten.

„Vierzig“, flüsterte Viviane und verbeugte sich erst vor dem Barden, dann vor Königin Elsbeth.

„Was?“, raunte Hanibu zurück und verneigte sich ebenfalls, nur viel tiefer und länger.

„Vierzig Schritte bis zur Hälfte, was bedeutet, dass das Haus achtzig Schritte misst“, wisperte Viviane. „Also ist es fünfmal länger als unser Langhaus und würde noch nicht mal in unsere Umfriedung passen! Das muss man sich mal vorstellen.“

Hanibu antwortete mit einem Keuchen, denn ihr brach der Angstschweiß aus, als Königin Elsbeth sich erhob. Sicherheitshalber verbeugte sie sich gleich noch einmal.

Die Königin kam die Treppe herunter, umfasste Vivianes Hände und schenkte sogar Hanibu ein freundliches Lächeln, als diese endlich wieder aufsah. Würdevoll geleitete sie die beiden die Treppe hinauf, und Elektra winkte ihnen grinsend zu.

 

Hanibu verneigte sich noch einmal vor allen Anwesenden, doch der Barde machte sich nicht die Mühe, von ihr Notiz zu nehmen. Viviane schenkte er umso mehr Beachtung und konnte gar nicht aufhören, sie zu drücken und zu tätscheln, bis er endlich seine Leier weiter zupfte. Fea, die Frau von Afal, und Madite, die Seherin, hatte Hanibu schon zu Beltaine kennengelernt. Mit einer gewissen Genugtuung stellte sie fest, dass beide ihr freundlich zunickten.

In diesem Augenblick stand ihre Meinung über den Barden fest und beim nächsten Wimpernschlag hatte sie ihr eigenes Schmählied im Kopf, was sie aber sofort wieder vergaß, weil der Besuch beim König nun einen Hergang annahm, mit dem nicht einmal Viviane gerechnet hatte.

***

„Was? Du hast mit dem König an einem Tisch zu Mittag gegessen?“

„Er hat nur einen Tisch, Noeira. Allerdings einen ziemlich großen.“

Noeira lehnte sich kraftlos gegen die Wand vom Langhaus, wo sie gerade eben noch gestanden und gesponnen hatte. Höchst angestrengt richtete sie ihren Blick auf den Uhsineberga, um dort den großen Tisch von König Gort eventuell zu erkennen.

„Was isst denn ein König so zum Mittag?“

„Eigentlich das Gleiche wie wir, Noeira. Es gab Brot, frische Butter, kalten Braten, Käse, Zwiebeln, junge Erbsen und Möhren …“

Noeira zog die Nase kraus und lugte jetzt sichtlich enttäuscht den Berg hinauf.

„Und ich dachte immer, die essen da oben …“

„Was? Den ganzen Tag nur Hirschschinken und Lammkeulen und Weißbrot mit einem Berg Butter obendrauf?“

Noeira zuckte die Schultern.

„Ja, so ähnlich.“

„Ha! Dann gäbe es bald kein Wild mehr in den Wäldern und kein Vieh mehr auf den Weiden! Aber ich hätte nicht mal im Traum daran gedacht, dass uns Königin Elsbeth dazu einlädt!“

„Uns? Hanibu saß auch mit …?“

„Nein! Nicht ganz! Eine alte Sklavin hat sie in den Raum mitgenommen, wo die Sklaven essen. Aber da hat es ihr auch gefallen. Beim Essen hat übrigens kein Sklave bedient. Sie haben nur den Tisch gedeckt und sind gegangen. Das ist praktisch für König Gort, so erhält er sich einen großen Teil seiner Privatsphäre. Man konnte sich ungestört unterhalten.“

„Was unterhält man sich denn so mit dem König, wenn man nicht gerade den Mund voll hat?“

„Königin Elsbeth und Elektra wollten viel wissen. Ich musste ihnen von Großmutter Dana erzählen, von Königin Birgie und natürlich von Lothaar, von unserem Lagerplatz, dem Spähtrupp und dann noch von den Vorkämpfen und der Schlacht …“

„Da wundert es mich aber, dass sie dich nicht gleich zum Abendbrot dabehalten haben – dem morgigen, versteht sich.“

„Da ist doch Mittsommer. Bis dahin sind ihnen sicher noch ein paar Fragen eingefallen.“

„Und was hat Hanibu die ganze Zeit gemacht?“

„Das Selbe wie du, Noeira. Sie hat mit den anderen Weibern draußen auf dem Vorbau gesponnen. Königin Elsbeth war ganz begeistert.“ Viviane drehte sich zu Hanibu und nickte ihr zu. „Hanibu! Zeig Noeira mal dein Geschenk!“

Hanibu hielt Noeira strahlend einen Stoffbeutel hin.

„Oooh! Der ist aber schön gewebt, mit Ornamenten und einer feinen Kordel“, seufzte Noeira und drehte den Beutel hin und her. Ach, ein Bär und ein Hirsch sind auch noch eingewebt! Hast ihn wohl von Elektra bekommen?“

Hanibu nickte begeistert und erklärte langsam: „Von Königin Elsbeth habe ich das geschenkt bekommen, was drinnen ist.“

Noeira zog an der Kordel und lugte hinein.

„Beim Geweih von Cernunnos! Das nächste Mal nimmst du mich auch mit, Viviane, wenn du wieder zum König musst! Eine geschnitzte Spule aus Lindenholz und auch noch bis zum Geht-nicht-mehr mit feinstem roten Lein voll!“

Viviane lachte auf.

„Das Garn hat Hanibu selbst gesponnen, als sie bei den Weibern draußen saß. Königin Elsbeth wollte ihr etwas zu tun geben, solange sie auf mich warten musste. Als sie dann Hanibu beobachtet hat, war sie so zufrieden mit ihr, dass sie ihr die Spule geschenkt hat. Und damit sie die nicht den ganzen Heimweg in der Hand tragen muss, hat ihr Elektra noch ein Täschchen geschenkt.“

Das dünne Garn ging von Hand zu Hand, wurde gebührend gelobt und natürlich wollte jeder wissen, wie es Hanibu bei Königin Elsbeth ergangen war.

Hanibu redete in der Mundart der Hermunduren, Griechisch, Äthiopisch und mit Gebärden. Flora und Taberia hörten aufmerksam zu, Noeira saugte förmlich jedes ihrer Worte und Gesten in sich ein – so wie sie dastand: nach vorne gebeugt, mit offenem Mund.

Großmutter Mara nahm derweil Viviane am Arm und zog sie Richtung Backofen.

„Und?“

Viviane feixte.

„Es hat besser funktioniert, als ich erhoffen konnte. Ich habe ihm erklärt, wie wichtig das Baby für Tinne ist und dass ich von diesem Glücksfall viel lernen kann. Er hat auch eingesehen, dass man mit so einem Winzling weit vorsichtiger umgehen muss, als mit einem normalen Baby. Wir haben einen Kompromiss geschlossen. König Gort will Tinne selbst das Essen vorbeibringen. Stell dir vor, was für eine Ehre! Dann nimmt er Tinne mit zum Göttertanz und ihre Sklavin bleibt so lange bei Germania. Für den Segen haben wir auch eine Lösung gefunden. Afal kommt extra für die Kleine mit geweihtem Wasser zu Tinne ins Haus. Aber er wird nur ihre Stirn benetzen und im nächsten Jahr bekommt sie ihre richtige Lebensweihe.“

Großmutter Mara nickte anerkennend.

„Und was hat er zu deinem Geschenk gesagt?“

Viviane prustete los.

„Gesagt?! Er hat in den Krug hineingeschaut, tief eingeatmet und dann hat er gefragt, ob Großmutter Mara noch mehr so extravagante Muster auf ihren Krügen hätte. Dieses hier wäre ganz vortrefflich gelungen. Er hat den Krug auf das höchste Regal gestellt, wahrscheinlich, damit niemand außer ihm ran kommt, und immer mal einen bewundernden Blick darauf geworfen, wenn er gedacht hat, ich sehe es nicht.“

Großmutter Mara gluckste und sah verträumt vor sich hin.

„Er hat als Kind schon so gerne Himbeersaft getrunken. Kaum war sein Horn leer, stand er wieder am Fass, gemeinsam mit Arminius. Die beiden haben oft zusammen gespielt … und gestritten … und sich geprügelt. Ach ja, die wundervolle Zeit der Kindheit …“

Viviane nickte schelmisch und wackelte mit ihrem Zeigefinger. „ … jetzt verstehe ich.“

Sie gingen wieder zurück zu den anderen, wo Noeira schon aufgeregt winkte.

„Viviane! Elektra will sich auch mal anhören, wie ihr auf der Tin Whistle spielen könnt. Lew hat ihr davon erzählt und sie hat Hanibu gefragt, ob ihr noch übt.“

Viviane lachte und schaute zur Sonne.

„Wenn unsere kleinen Schafhirten heimkommen, kann es gleich losgehen. Wo bleiben die beiden eigentlich?“

Flora winkte ab.

„Die baden auf dem Heimweg mit den Männern zusammen. Ihre Weide ist gleich oberhalb der Festwiese und weil die Männer ohnehin dort sind, wollten sie die große Badestelle ausnutzen. Wie du siehst …“

„Ja, ja. Sie denken sehr praktisch. Was da wohl länger dauert? Das Grasen der Pferde oder das Baden der seeehr verschwitzten Männer, die noch zwei junge Fohlen beaufsichtigen müssen. Wenn sich das herum spricht, stehen die Sklaven bei mir Schlange, um einen Posten als Pferdewirt zu ergattern.“

Flora drehte sich sofort zur Burg.

„Jetzt, wo du das sagst … bei dir würde es einem Sklaven richtig gut gehen.“

„Wieso? Hat jemand seinen Ehrenpreis verloren?“

„Noch nicht. Aber das Weib von unserem ältesten Krieger, der gefallen ist, hat keine Kinder. Ich könnte mir vorstellen, dass sie bald nicht mehr alleine zurechtkommt. Und in ihren Mutterclan will sie nicht wieder zurück. Das hat sie mir jedenfalls erzählt, als ich mich mit ihr unterhalten habe.“

Viviane sah ihre Mutter fragend an.

„Da warst du gerade zur Reinigung oben im Heiligtum, Kind.

„Oh, daran habe ich ja noch gar nicht gedacht. Ich war so damit beschäftigt, für Tinne eine brauchbare Lösung zu finden … Aber ich werde ihr natürlich gerne eine Arbeit bei mir anbieten, die ihrem Alter entspricht.“