Der mondhelle Pfad

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Lavinia und Robin sahen sich an, kicherten und streckten ihre Körbe hoch.

„Probiert mal! Wir haben euch extra welche übriggelassen. Der Rest liegt schon im Backofen und trocknet vor sich hin. Natürlich haben wir vorher noch eine Wagenladung frisches Brot gebacken. Das Holz zum Anheizen haben wir übrigens ganz allein gesammelt.“

„Da wart ihr aber fleißig!“ Viviane gab Hanibu eine Himbeere, nahm sich auch eine und sagte in Hanibus Sprache: „Sehr – schön – süß – die – kleine – Hanibu!“

Die Kinder nickten eifrig und wiederholten ihre Worte. Strahlend reichte Hanibu Lavinia die Hand und auch Viviane zog Robin zu sich hoch auf Arion. Übermütig langte sie in seinen Korb.

„Mmmh! Getrocknete Himbeeren schmecken zwar auch gut, aber frisch sind sie einfach köstlich! Mit solcher Verpflegung könnte ich ein paar Tage reisen! Aber vorher hole ich noch Afal und Armanu. Dann gibt es einen leckeren Obstsalat.“

„Obstsalat?“, fragte Hanibu, zog verwirrt die Augenbrauen hoch und wirkte sehr besorgt. Doch Lavinia und Robin kicherten übermütig und machten untereinander aus, wer erzählen durfte. Lavinia hatte das Vergnügen und drehte sich zu ihr um.

„Afal bedeutet Apfel und Armanu Aprikose.“

„Ach, so! Jetzt verstehe ich. Und was heißt Robin?“

„Rotkehlchen!“, rief Robin schnell. „Ich tauge zwar nicht für Obstsalat, aber essen tue ich ihn gerne!“

„Das glaube ich dir aufs Wort, kleines Rotkehlchen! Und Lavinia?“

Lavinia reckte sich und flüsterte verschwörerisch: „Der Name kommt aus dem Land der Latiner. Eine Königstochter hieß so, vor langer Zeit, tausend Jahre glaube ich. Großmutter Maras Ahnen kommen doch aus der Gegend. Eine ihrer Großmütter hieß ebenfalls Lavinia und sie hat Mama beschwatzt, ihn mir zu geben, weil ich wohl genauso ausgesehen habe, als ich geboren war.“

„Jaaa“, gluckste Viviane. „Daran kann ich mich noch bestens erinnern! Unsere Großmutter Mara hatte schon immer ein Talent darin, den Leuten die richtigen Argumente schmackhaft zu machen. Aus dieser latinischen Königstochter, Lavinia, entwickelte sich nämlich ein stolzes und mächtiges Adelsgeschlecht und schuf nach den Griechen das größte Imperium.“

Hanibu sah Viviane nachdenklich an. „Wer sollte …“ Ihr sackten die Schultern nach unten. „Römer.“

Lavinia tätschelte ihre Arme und schmiegte sich seufzend hinein.

„Vor mir brauchst du keine Angst zu haben, Hanibu. Wenn ich einmal Kinder bekomme, werde ich jedem eigenhändig den Hintern versohlen, der andere überfallen will.“

Hanibu streichelte Lavinia über die nussbraunen Ringellöckchen und lächelte Viviane wehmütig zu. Die räusperte sich.

„Wenn wir gewaschen sind, können wir noch ein bisschen auf der Tin Whistle spielen! Was haltet ihr davon? Und natürlich müsst ihr mir danach ganz genau vorsagen, was ihr alles in Hanibus Sprache neu gelernt habt, damit ich das auch lerne.“

„Ja! Das machen wir!“, jauchzte Lavinia und Robin lehnte sich zufrieden an Viviane.

Die strich ihm über das Haar und als sie den Blick wieder hob, sah sie Conall aus dem äußeren Tor treten. Auch er schien es eilig zu haben und Viviane dachte schon, es wäre im Dorf etwas passiert. Doch dann erreichte er die Wegbiegung und sie konnte ihren ältesten Bruder von vorne sehen.

„Warum kommt Conall auch mit einem Korb?“

„Keine Ahnung! Aber es scheint wichtig zu sein, so schnell wie er rennt“, stellte Lavinia fest und Robin fügte noch hinzu: „Papa war vorhin noch nicht zu Hause, als wir losgelaufen sind.“

Conall verlangsamte seinen ausgreifenden Schritt und kam grinsend vor den Reitern zum Stehen.

„Da seid ihr ja endlich! Seht mal, wir haben Johannisbeeren mitgebracht! Sind ganz süß! Probiert mal!“

Conall reichte seinen Korb zu Viviane hoch und die streckte ihn Robin, Hanibu und Lavinia hin. Jeder nahm sich einen Stängel Beeren, erst dann griff Viviane hinein.

„Ja, Conall, die sind wirklich fast genauso süß wie die Himbeeren von Robin und Lavinia.“

Conall sah wenig begeistert in den Himbeerkorb seines Sohnes und deutete eifrig auf seinen eigenen.

„Großmutter Mara macht gerade Marmelade. Die hier haben wir euch extra übrig gelassen.“

„Aha. Wer ist denn wir, Conall?“

„Na ich, Tarian, Medan und Loranthus.“

Viviane kniff die Augen zusammen und visierte ihren ältesten Bruder mit schräg gelegtem Kopf an.

„Was soll ich euch geben, Conall.“

Conall versuchte, mit der freien Hand zu wedeln, obwohl der dazugehörige Arm noch nicht funktionstüchtig war und verzog vor Schmerz prompt ein wenig das Gesicht.

„Nichts! Rein gar nichts!“

Viviane hob eine Augenbraue, und Conalls Handfläche klappte sofort nach außen in eine beschwichtigende Geste, die auch ein wenig misslang.

„Na gut, na gut! Wir wollten dich fragen, ob du uns mal auf deinen neuen Pferden reiten lässt. Wenn die den ganzen Tag auf der Weide stehen, fressen sie bald unser ganzes Gras weg. Da haben wir gedacht, wir könnten mal ein bisschen durch die Gegend reiten und ihnen ein schönes Plätzchen suchen. Jeden Tag ein anderes wäre … praktisch? So lange … bis ihr euch … häuslich niedergelassen habt?“

Viviane sah ihn nachdenklich an, klopfte auf den Korb und schnalzte mit der Zunge.

„Das wird aber nicht reichen. Conall …“

„Na gut, na gut! Ich mach dir noch einen schönen Lederranzen dazu, mit passenden Schlaufen für dein Handwerkszeug und weichen Riemen, damit du ihn bequem auf dem Rücken tragen kannst.“

Er deutete hoffnungsvoll auf ihre Arzttasche, die fast aus allen Nähten platzte; wahrscheinlich ein Geschenk von irgendeinem Halbgott der Ärzteschaft, der zwar nähen konnte, aber kein derbes Rindsleder bearbeiten und erst recht nicht kunstvoll. Selbst Viviane schien das schon aufgefallen zu sein, so erfreut wie sie aussah.

„Gute Idee. Denk aber dran, dass alles in Tüchern eingewickelt ist, wenn du die Schlaufen ausmisst, und ich will noch ein paar Extras! Wird also ein großer Ranzen. Aber das wird immer noch nicht reichen. Conall …“

Conall seufzte.

„Ich habe noch ein schönes Täschchen für deine Tin Whistle gemacht – sogar punziert mit dem Knoten von Taliesin.“

„Oh, da freue ich mich aber! So ein Täschchen wie Robin hat?“

Conall nickte hoffnungsvoll.

„Und Tarian macht dir noch eine neue Wiege, denn die alte braucht ja Mutter selbst.“

„Einfach oder mit Verzierungen?“

Conall strahlte.

„Natürlich mit! Welcher Handwerker würde sich diese Gelegenheit entgehen lassen!? Er wollte Cernunnos im Relief darstellen, wie er majestätisch durch den Wald schreitet.“

Viviane winkte ab und zog eine Grimasse.

„Wie konnte es auch anders sein?! Na, dann will ich mich mal nicht so haben. Nehmt sie ruhig. Wenn ihr wollt, können wir zusammen reiten. Wir müssen ohnehin noch zur Quellgöttin. Tinne hat ihr Töchterchen viel zu früh bekommen. Wir wollen Sünna bitten, dass sie am Leben bleibt und gesund aufwächst.“

„Ach, Viviane! Ruh’ dich mal aus! Es wäre eine Ehre für uns, die Nachgeburt zu Sünna zu bringen und für Germans Kind zu bitten. Wie soll die Kleine denn heißen?“

„Germania.“

„Da würde sich German aber freuen. Ich sag schnell den anderen Bescheid.“

Conall musste blinzeln, faselte etwas von „was ins Auge bekommen“ und streckte seine Hand aus, damit ihm Viviane das kleine Päckchen hinein legen konnte, während er sich die Augen rieb. Kaum hatte er die Finger um den Lederlappen geschlossen, drehte er sich um und ging eilig Richtung Tor davon, ohne sich noch einmal umzudrehen.

Viviane schnalzte mit der Zunge, doch sie ließ die Pferde mit Absicht langsam gehen. Bis zur Dorfumfriedung war es nicht mehr weit und sie wollte Conall nicht noch einmal über den Weg laufen. Lavinia und Robin kicherten. Viviane sah sie erstaunt an.

„Was ist denn los, ihr beiden?“

Robin grinste schelmisch.

„Na, wie du mit Papa gehandelt hast! Selbst Mama könnte das nicht besser!“

„Ja, genau!“, gluckste Lavinia. „Es war wie auf dem Markt. Du hast einen sehr guten Handel abgeschlossen.“

Viviane prustete los.

„Ja, das habe ich wirklich, Lavinia. Aber eigentlich wollte ich Conall doch nur sagen, dass ich alleine schon neunzehn Pferde mitgebracht habe, Silvanus’ nicht mitgerechnet. Da reichen Conall, Tarian, Medan und Loranthus nicht aus, um sie in Bewegung zu halten. Und wenn sie die restlichen Pferde hinten dran binden, könnten sie sich unterwegs verheddern.“

Jetzt kicherten alle und Lavinia zwinkerte Hanibu zu.

„Hanibu könnte sie als Karawanenführer ausbilden. Ihr Großvater ist das nämlich in ihrer Heimat. Und die Kamele dort können ganz viel Wasser trinken und deshalb dauert es ganz lange, bevor sie loslaufen. Und ihre Dörfer sind bei Oasen. Dort gibt es Brunnen, wie auf den Burgen. Das hat sie uns erzählt.“

Robin klatschte begeistert in die Hände.

„Oasen und Kamele will ich mir später einmal ansehen, wenn ich groß bin. Hanibu nehme ich mit und sie wird dann mein Karawanenführer.“

Viviane sah Hanibu verschmitzt an und lenkte Arion zum Gatter.

„Da musst du als Erstes lernen, wie du ein Pferd zäumst, Weltreisender Robin. Denn das bekommst du ja, wie versprochen, von mir. Hier, setze dich mal auf den Pfosten und nimm Arion die Zügel ab.“

Robin bekam ganz große Augen und kletterte wie gewünscht von Arion hinüber auf den Pfosten. Arion stellte sich davor und streckte ihm seinen Kopf entgegen, als hätte er Viviane verstanden. Er hielt ganz still und als Robin voller Stolz das Zaumzeug über das Weidengeflecht legte, schnaubte er zu Dina hin.

 

„Ach ja, Arion! Da hast du natürlich vollkommen recht“, meinte Viviane und tätschelte ihm den Hals. „Lavinia kann das auch gleich lernen. Komm, Lavinia, setzt dich mal wie Robin.“

Dina stellte sich auf die andere Seite vom Gatter, damit Lavinia bequem von ihrem Rücken auf den Torpfosten hinüber klettern konnte, hielt ruhig ihren Kopf hin und ließ sich das Zaumzeug abnehmen. Zur Belohnung streichelte Lavinia ihre lange, silberne Mähne und umarmte ihren Kopf, soweit ihre Hände herumreichten.

„Ich hab dich ja so lieb, meine schöne und kluge Dina.“ Arion schnaubte und kam sogleich neben Dina. „Und dich natürlich auch, mein großer, schöner Arion.“ Lavinia wollte auch ihn umarmen, doch Arion stupste sie sachte in die Schulter. „Arion, du Schelm! Natürlich bist du auch klug! Das größte und schlaueste Pferd im ganzen Land!“

Jetzt schien Arion zufrieden und drückte seine Nüstern in Lavinias offene Hände.

Hanibu zeigte zum hinteren Tor.

„Seht mal, da reiten die Männer gerade los!“

Viviane hob anerkennend den Daumen.

„Absolut korrekt, Hanibu! Du lernst wirklich sehr schnell!“

Viviane bemerkte nicht, wie Hanibu strahlte, denn sie recke ihren Hals zum Wegende.

„Sie haben jeder noch ein Pferd im Schlepptau und scheinbar auch ihr Abendbrot dabei. Ach, Vater und Silvanus sind auch mit von der Partie! Das hätte ich mir ja denken können. Na, wenn sie jeden Tag die Pferde tauschen, wird es ihnen in nächster Zeit nicht langweilig.“

Viviane drehte sich zu Lavinia und Robin.

„So ihr zwei. Das ging ja schon richtig gut. Ab jetzt könnt ihr jedes Mal die Pferde zäumen.“

„Auch aufzäumen?“, fragte Robin hoffnungsvoll und hüpfte im hohen Bogen ins Gras. „Natürlich! Aber jetzt nehmt mal die Körbe mit rein und sagt Mutter, dass wir noch schnell zum Fluss gehen. Gegessen haben wir schon bei Tinne.“

Als Viviane und Hanibu ihnen nach dem Waschen hinterher kamen, waren Robin und Lavinia gerade eifrig damit beschäftigt, Tontöpfe auf den vordersten Tisch zu stellen, die sie von Flora und Großmutter Mara gereicht bekamen. Taberia setzte die kleine Armanu in die Ecke auf ein Kuhfell und gab ihr kleine Holztiere zum Spielen, Noeira wickelte die schlafende Belisama in eine Wolldecke und legte sie daneben. Dann gingen die Frauen geheimnistuerisch die Treppe hoch, um etwas äußerst Wichtiges zu erledigen, wie sie Viviane versicherten. Viviane sah ihnen verdutzt nach, lenkte ihre Aufmerksamkeit aber gleich wieder auf die Kinder.

Lavinia nahm geschäftig von drei hübsch bemalten Tontöpfchen die Deckel ab und verdrehte die Augen, weil Robin die Töpfe noch einmal unschlüssig hin und her tauschte. Als Robin endlich alles zu seiner Zufriedenheit arrangiert hatte, bedeutete er mit einer übertriebenen Geste, Viviane solle sich hinsetzen. Viviane setzte sich und schaute besonders erwartungsvoll drein. Robin breitete auch sogleich einladend die Arme über den Töpfen aus, als hätte er soeben seinen Marktstand eröffnet.

„Schau mal, Viviane, was wir alles geschafft haben, als du weg warst!“

Er zeigte auf den vordersten Topf.

„Das ist Honig aus der ersten Klotzbeute. Den haben ich und Mama gemacht. Das hier ist Honig aus der zweiten Klotzbeute, den haben Lavinia und Großmutter Flora gemacht. Der hier ist aus der dritten, den haben Hanibu, Taberia und Urgroßmutter Mara gemacht. Du musst unbedingt mal probieren, Viviane! Wir wollen mit dir ein Experiment machen.“

Robin zückte sein Messer und schabte konzentriert ein Stückchen Honig aus dem ersten Topf. Dann hielt er Viviane das Messer hin, als wolle er ihr etwas äußerst Wertvolles darbieten. Viviane nahm den Honig deshalb auch besonders ehrfürchtig entgegen und steckte ihn in ihren Mund.

„Hmmm, sehr gut! Nicht zu süß … sehr fruchtig … mild … Ich würde mal sagen: Das ist Honig von Himbeerblüten und Erdbeerblüten.“

Lavinia nickte eifrig. Robin nickte auch, aber ganz bedächtig.

„Ganz genau, Viviane. Und der hier?“

Er zückte wieder sein Messer und hielt Viviane eine zweite Scheibe hin.

„Hmmm, das schmeckt süß … nach Sonne, Wiese, Wind … Das ist Honig von Löwenzahn.“

Robin riss die Augen auf und sah Lavinia bestürzt an. Leicht zögernd nahm er wieder sein Messer und schnitt aus dem dritten Topf ein dünnes Scheibchen, doch diesmal musste ihm Lavinia erst einen Schubs geben, damit er es über den Tisch streckte.

Viviane ließ den Honig im Mund zergehen und lächelte mit geschlossenen Augen.

„Wald, Laub, Regen, Harz, Birken, Linden, … Es ist eindeutig Honig von Bäumen.“

Robin sackte auf die Bank und kippte kraftlos mit dem Rücken an die Lehne. Er beäugte Viviane, als wäre sie ein Geist aus der Anderswelt. Viviane musterte ihn ebenso besorgt.

„Welchen habe ich falsch gehabt?“

Lavinia ließ sich schwungvoll neben ihn plumpsen und tätschelte grinsend Robins Hand. „Keinen einzigen, Viviane. Also …“ Sie hielt Robin ihre Hand unter die Nase.

Robin versuchte, die Hand zu ignorieren, bis sie gegen seine Brust klatschte. Da seufzte er tief und kramte übertrieben lange in seiner kleinen Gürteltasche. Sein Mienenspiel entsprach sieben Tagen Regenwetter, als er endlich ein leeres Schneckenhaus herauszog. Lavinia schnappte es ihm aus der Hand und johlte triumphierend.

„Na endlich! Und jetzt das gleiche Spiel noch mal mit der Marmelade, Viviane! Schließlich hat Robin noch so ein schönes Schneckenhaus. Das wird dann mit dem hier …“ Sie drehte ihre neue Errungenschaft prüfend vor den Augen hin und her. „ … einen Ehrenplatz in meiner Sammlung bekommen.“

Robin fuchtelte abwehrend mit den Händen durch die Luft.

„Da bekommt Viviane aber die Augen verbunden, sonst erkennt sie die ja schon an der Farbe!“

„Ts, ts, ts!“ Lavinia stemmte die Hände in die Hüften und sah ihn mitleidig an. „Die Begründung hättest du dir besser sparen sollen!“

Robin stutzte, verstand nicht, was sie damit sagen wollte und holte, statt zu fragen, lieber ein Leintuch vom Nagel neben dem Tellerbord.

Nachdem Viviane auch drei verschiedene Marmeladen am Geschmack erkannt hatte und Lavinia ihren Wetteinsatz hüpfend die Treppe hochbrachte, lugte Großmutter Mara kopfüber herunter und strahlte.

„Warte einen Augenblick, Viviane. Noeira ist gleich fertig. Mach’s dir so lange bequem!“

Also setzte sich Viviane zu Robin, der ihre Gesellschaft allerdings nicht zur Kenntnis nahm. Doch als Noeira mit aufgesteckten Haaren die Stufen herunter kam und Vivianes Augen mit jedem ihrer Schritte größer wurden, war er in seiner Verblüffung nicht mehr alleine – wenn auch aus einem anderen Grund.

Noeira drehte sich in ihrem neusten Kleid vor den beiden hin und her, schlenderte langsam bis zur offenen Tür, schwang dort betont würdevoll herum und kam noch gemächlicher zurück, wobei sie übertrieben ihre Hüften wiegte und den Sitz ihrer aufgetürmten Haare prüfte. Viviane klappte der Mund auf und Noeira winkte ab.

„Ja, ja! Ich weiß, dass ich noch ein bisschen schlanker werden muss! Etwa so, guck!“

Sie presste sich die eine Hand auf den Bauch, die andere in den Rücken und posierte vor Viviane. Ihre erwartungsvoll lächelnde Miene wurde nach einem Wimpernschlag eine ungeduldig lächelnde; im nächsten Augenblick war nur noch die ungeduldige übrig.

„Bei allen Göttern! So schlimm ist es doch nun auch wieder nicht! Conall sagt, mein Bauch ist schon wieder schön fest. Und das nach nicht mal zwei Monden und immerhin beim zweiten Kind! Noch hundert Mal Butter stampfen und circa zwei Dutzend Hühner rupfen, dann bin ich wieder knackig wie ein frisch gepflückter Apfel! Vielleicht noch den Rest des Jahres Korn mahlen?“

Prüfend schaute sie an sich herunter und runzelte die Stirn.

„Oder meinst du, gelb passt nicht zu mir?“

Viviane erwachte aus ihrer Starre und wedelte beschwichtigend mit den Händen.

„Nein, nein, Noeira, es liegt nicht an deiner Figur! Du bist wirklich schon wieder schön schlank … beneidenswert schlank!“ Viviane tätschelte ihren Bauch und strich das Kleid glatt, worauf sofort die kleine Beule sichtbar wurde. „Hoffentlich geht das bei mir dann auch so schnell … Und dieses leuchtende Gelb passt einfach genial zu deinen rotblonden Haaren, wie … wie ein herrlicher Sonnenaufgang. Nein, Noeira, ich bin einfach nur so perplex! Das ist doch die Seide, die ich euch aus Britannien mitgebracht habe!?“

Noeira nickte stolz und hielt ihr Kleid hoch, damit Viviane sich überzeugen konnte. Bewundernd strich sie über den weichen Stoff und schüttelte langsam den Kopf.

„Ich habe schon so viele schöne Kleider gesehen … aber dieses hier ist einfach … fantastisch.“

Noeira klatschte begeistert in die Hände und jauchzte vergnügt.

„So sehr gefällt es dir?“

Viviane hielt beide Daumen hoch und nickte anerkennend.

„Das hatten wir gehofft! Wir haben alle zusammen überlegt, wie wir dieser göttlichen Seide am besten gerecht werden. Hanibu hat uns aufgemalt, wie sie die reichen Griechinnen in Massalia und Antibes getragen haben. Peblos sagen sie dazu!“ Sie breitete die Arme aus und drehte sich im Kreis. „Und das ist dabei herausgekommen! Man beachte die Raffung an den Schultern und die filigranen Broschen in Form von Rosen!“

„Du siehst aus wie eine griechische Göttin. Das müssen wir unbedingt Loranthus nachher zeigen.“

Noeira wackelte verneinend mit dem Zeigefinger und feixte.

„Wir haben noch mehr griechische Göttinnen!“ Sie lugte zur Treppe, von der aus es erwartungsvoll kicherte, und klatschte schallend in die Hände. „Wir haben noch Thera in Goldbraun … Hera in Lindgrün … Leto in Violett und … Iris in Rosa …“

Dabei schritten Großmutter Mara, Flora, Taberia und Hanibu nacheinander die Stufen herab auf Viviane zu. Die rieb sich begeistert die Hände.

„Ich muss zu Lugnasad ein paar Flaschen Massageöl mitnehmen! Alle Weiber werden sich wegen euch die Köpfe verrenken! Ach, was red ich da! Am besten ein ganzes Fass! Ich habe die Männer vergessen!“

Noeira wedelte wieder verneinend mit ihrem Zeigefinger und streckte ihn Achtung gebietend in die Höhe. So ging sie die Treppe hinauf und kam mit einem dunkelgrünen Kleid zurück, dass sie mit übertriebener Verbeugung Viviane entgegenstreckte.

„Am meisten wegen dir, Viviane, oh du Ursache aller verzerrten Gliedmaßen und Behebung der Wirkung! Ach, apropos Ursache – Wirkung! Keine Angst, Viviane! Ob mit oder ohne Gürtel, das Kleid ist so konzipiert, dass es jeder Figur angepasst ist, weil die Griechinnen die Gürtel genau unter dem Busen schnüren. Das zeigen wir dir gleich. Wir können sogar untereinander tauschen und variieren wie wir lustig sind, weil wir die Gürtel und Taschen von den Resten gemacht haben. Es passt alles gut zusammen und je nachdem, wie du die Taschen trägst, wirkt es jedes Mal anders.“

Viviane hielt sich das Kleid an, strich sachte über den Stoff und sah strahlend an sich herab.

„Ich ahne Schreckliches, Noeira.“

Noeira zog die Augenbrauen hoch und wollte schon fragen, doch Viviane grinste sie an.

„Eine schreckliche Dürre wird über alle Weiber kommen, wenn wir zu Lugnasad damit herumlaufen.“

„Verrenkte Hälse verstehe ich ja, aber wieso auch noch eine Dürre?“

„Na, was meinst du, was die für einen Durst bekommen, wenn sie immer mit offenem Mund gucken, jedes Mal, wenn wir vorbeigehen.“

Taberia klatschte begeistert in die Hände, rannte schnell die Treppe hoch und kam mit kleinen Seidentäschchen und den passenden Gürteln wieder. Viviane raffte alles an sich und hielt es sich der Reihe nach gegen ihr grünes Kleid. Taberia assistierte ihr und schmunzelte zufrieden.

„Ich sehe schon: Du wirst zu Lugnasad ganz schön was zu tun bekommen, Viviane!“ Sie zählte an ihren Fingern ab: „Verrenkte Hälse, trockene Rachen, vielleicht noch ein paar gebrochene oder verstauchte Glieder, weil manche nicht dahin gucken, wohin sie laufen …“

Alle Frauen ahmten sogleich mögliche Varianten nach und stachelten sich gegenseitig an, als es um die korrekte Darstellung des Unfallhergangs ging. Viviane warf ihnen mehrmals einen strafenden, aber nachsichtigen Blick zu und drehte sich tänzelnd mit ihrem Kleid hin und her. Bewundernd verfolgte sie die geschmeidigen Bewegungen der Seide und ihr Blick fiel auf Robin, der sie immer noch mit einem abwesenden Blick bedachte. Sie hielt inne, schlug das Kleid zurück und kramte in ihrer Gürteltasche.

 

„Robin! Hast du das schon mal gesehen?“

Sie streckt ihm die Hand entgegen. Robin erwachte aus seiner Starre und betrachtete den seltsamen Gegenstand auf ihrer Hand genau.

„Hm, das kommt mir irgendwie bekannt vor. Was ist das, Viviane?“

„Ein Schmetterling. Habe ich vorhin an einem Blatt hängen sehen. Seine Brüder und Schwestern sind wahrscheinlich alle schon ausgeflogen.“

Robin schüttelte den Kopf.

„Viviane. Ich weiß doch, wie ein Schmetterling aussieht und das ist garantiert keiner.“

„Noch ist es kein richtiger Schmetterling, aber bald. Wenn du ihn jeden Tag beobachtest, dann wirst du sehen, wie er sich verändert. Und wenn du den Tag nicht verpasst, dann wirst du ein Wunder erleben, das nur unsere große Mutter vollbringen kann.“

Robin klatschte sich die Hand gegen die Stirn und nickte begeistert.

„Jetzt weiß ich’s, Viviane! Das war mal eine Raupe! Ihr Lebensfaden ist abgelaufen, Mutter Erde schickt sie in die Anderswelt und die Götter geben ihr ein neues Leben. Es ist wie bei den Fliegeneiern aus Naschus Bein! Erst waren es Eier, dann sind daraus Maden geschlüpft und die haben das faule Fleisch gefressen, bis sie ganz dick waren. Nach einem halben Mond war Naschus Wunde sauber und die Maden wurden plötzlich ganz starr und haben sich verpuppt. Lavinia meinte, sie hätten es sich redlich verdient, als Fliegen wiedergeboren zu werden, weil sie so hilfreich waren. Deshalb hat Naschu sie uns geschenkt und wir haben jeden Tag nachgesehen, wann sie aus der Anderswelt zurückkommen. Und plötzlich … schwupps …“ Robin zog an seinem Hemd, als wolle er es zerreißen. „ … waren sie wiedergeboren! Erst sahen sie klebrig aus und dann haben sie geglänzt wie ein Kupferspiegel, nur in Grün.“ Robin stieß begeistert seinen Finger in die Luft. „Guck mal, Viviane! Das da oben könnte eine von unseren fleißigen Maden sein!“

Robin verfolgte mit seinem Finger den Flug einer dicken Fliege, die hektisch am Deckenbalken entlang schwirrte, bis sie endlich den Ausgang fand. Enttäuscht nahm er den Arm herunter.

„Ach, jetzt ist sie raus geflogen. Na, auch gut. Ich zeig Lavinia mal meinen Schmetterling!“ Ausgelassen hopste er zur Treppe, hielt aber mitten im Sprung inne und grinste schelmisch. Dann polterte er ganz langsam die Treppe hoch und rief mit verstellter, tiefer Stimme: „Laviniaaa! Ein eeechtes Geschöpf aus der Anderswelt kommt die Treppe herauf! Uuuuuuh! Es kommt auf dich zuuu und will dich hooolen! Uaahuu!“

Lavinia kreischte auf und sie hörten, wie oben ihre kleinen Füße eilig herum trippelten, bis es einen Schlag tat. Lavinia war garantiert in ihr Lager gesprungen und hatte sich wohl auch mindestens zwei Wolldecken über den Kopf gezogen, denn ihr Kreischen klang jetzt deutlich dumpfer.

„Robin!?“, rief Viviane die Treppe hoch. „Die Fliege schwirrt gerade zum Tor hinaus! Sie will bestimmt deinen Vater begrüßen! Ich kann ihn schon hören!“ Sie drehte sich zu den Frauen und flüsterte: „Haben die Männer unsere Kleider schon zu Gesicht bekommen?“

„Wir wollten sie erst dir zeigen“, flüsterte Flora und scheuchte die anderen hinter den Ofen. „Los, versteckt euch! Die überraschen wir! Mal sehen, ob denen die Augen auch so groß werden wie bei Viviane.“

Flora lugte noch mal kurz hinter dem Ofen hervor und schnappte sich das grüne Kleid, da kam auch schon Silvanus hereingestürmt und riss Viviane von den Füßen. Sie hängte sich lachend an seinen Hals und gab ihm einen langen Kuss.

„Na, ihr Pferdehirten! Habt ihr eine geeignete Weide gefunden, damit unsere Tiere auch ja alle satt werden?“

Silvanus stellte sie wieder auf die Füße.

„Nicht nur das, Viv. Wir haben sogar das Problem mit dem Transport dorthin gelöst. Das heißt, wenn es dir zusagt.“

Viviane sah ihn fragend an, doch da kamen auch schon die anderen Männer herein, oder besser gesagt: Jeder von ihnen versuchte, als Erster durch die Tür zu kommen. Da aber keiner nachgeben wollte, steckten sie im Türrahmen fest.

Silvanus schüttelte den Kopf und verdrehte die Augen. Doch als sich Medan durch die Beine der anderen hindurch quetschte, nickte er anerkennend.

„Klein kann man sein, man muss sich nur zu helfen wissen und … darf aus dem Krabbelalter noch nicht raus sein.“

Medan baute sich vor Silvanus auf, legte seinen Kopf übertrieben weit in den Nacken und grinste.

„Wo du recht hast, hast du recht, großer Bruder.“

Loranthus drückte sich rückwärts.

„Der Klügere gibt nach“, sagte er selbstgefällig grinsend und rieb sich die Schultern.

Jetzt hätten eigentlich Conall und Tarian genug Platz gehabt, blockierten sich aber hartnäckig weiter. Arminius stützte sich auf den Schultern seiner beiden Söhne ab, drückte sie seitwärts an den Türrahmen und schwang sich durch die Lücke.

„Wenn zwei sich streiten, freut sich der dritte.“

Conall und Tarian reichten sich die Hand und traten gemeinsam durch die Tür.

„Wenn du einen Kampf nicht gewinnen kannst, dann gewinne wenigstens die Eintracht.“

„Ach! Apropos Eintracht …“ Arminius schlug sich die flache Hand vor die Stirn. „Wir haben dir was mitgebracht, Viviane! Loranthus!?“

„Hab schon!“, rief Loranthus und kam mit zwei langen Holzstangen herein, die er Arminius entgegen streckte. „Das hat uns Naschu mitgegeben. Er meinte, es könnte dir gefallen, Viviane.“

Arminius stellte die Stangen vor sich hin und machte ein höchst konzentriertes Gesicht. Dann stieg er vorsichtig auf die kleinen Querhölzer, die in Kniehöhe abstanden und machte ein paar Schritte vorwärts. Viviane schürzte die Lippen und neigte sich nach rechts und links, einmal, um Arminius die Sicht hinter den Ofen zu versperren, und natürlich auch, um die Stangen genauer anzusehen.

„Papa, du machst einem Storch alle Ehre. Achtung, tiefhängende Äste!“

Arminius schwenkte vor dem Deckenbalken herum, kam ins Straucheln, hüpfte von den Fußstützen und hielt Viviane die Stangen hin.

„Probier’s erst mal selbst! … von wegen Storch.“

Lavinia und Robin kamen gerade einträchtig die Treppe herunter.

„Lässt du uns auch mal, Viviane? Das macht bestimmt großen Spaß! So sind wir auf einen Schlag ein ganzes Stück größer!“

„Natürlich, ihr zwei. Aber dann bin ich dran! Immerhin ist das wirklich eine gute Idee von Naschu. Er wollte bestimmt, dass ich mich nicht mehr so strecken muss, um zu Silvanus hochzukommen.“

„Sag das doch gleich“, piepste Silvanus, ging in die Hocke und trippelte übertrieben schnell vor Viviane hin und her.

Viviane kuschelte sich in seine Arme und sah zu ihm hinab.

„So geht’s natürlich auch.“

Dann schauten alle Lavinia und Robin zu, die sich gegenseitig überbieten wollten, wer am weitesten mit den Stangen laufen konnte. Sie hatten schon lange nicht mehr so gelacht, und sogar die Frauen lugten hinter dem Ofen hervor.

„So, jetzt versuch ich mal mein Glück.“

Viviane nahm Robin die Stangen ab und stieg auf die Fußstützen. Johlend stakste sie durchs Zimmer und drehte eine Extrarunde um den Ofen. Dabei zwinkerte sie den Frauen zu.

„Und nun kommen wir zum Höhepunkt des heutigen langen Sommerabends! Dazu müsst ihr euch alle hinsetzten, sonst fallt ihr eventuell um. Jetzt kommen nämlich die Göttinnen des Olymp zu den Nachfahren des Cernunnos und präsentieren die neusten Kleiderkreationen aus der Heimat von Loranthus.“

Die Männer setzten sich auf die Bänke und blickten erwartungsvoll zu Viviane, die immer noch auf den Stangen balancierte.

„Zuerst erscheint die ehrwürdige Mutter aller Götter, Thera – repräsentiert von Großmutter Mara – in einem ihrem Rang ebenbürtigen goldbraunen Kleid. Man beachte die auffällige Raffung an den Schultern, erhaben und sinnlich zugleich!“

Großmutter Mara trat verlegen lächelnd hinter dem Ofen hervor und alle Männer klatschten begeistert in die Hände.