Der mondhelle Pfad

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Hanibu wollte gar nicht hinsehen, aber sie sollte ja die Nabelschnur durchschneiden. Und dann war sie richtig erstaunt, als sie ein ganz normales Baby vor sich hatte, nur viel kleiner und von einer dicken Schicht Käseschmiere umhüllt. Viviane legte es auf die saubere Seite vom Lager und holte ein Röhrchen aus ihrer Tasche. Das steckte sie der Kleinen erst in die Nase, dann in den Mund und saugte den Schleim aus den Atemwegen heraus. Nach einem kleinen Klaps quäkte sie leise.

Viviane hielt die Hand hin und Hanibu legte ihr ein feuchtes, lauwarmes Tuch hinein. Damit wischte sie ganz vorsichtig das Blut von der Kleinen und wickelte sie in Tinnes Wolldecke, bis nur noch das winzige Gesichtchen herauslugte.

Tinne sah zu. Dafür musste sie sich fast verrenken, weil sie immer noch vor der Truhe kniete. Tränen schwammen in ihren Augen.

Als die Nachgeburt herauskam, kümmerte sich Hanibu um Tinne. Viviane ging derweil im Haus umher und schüttelte immer wieder unzufrieden den Kopf. Seufzend zog sie ihr Übergewand aus, hielt es vor das Baby und beugte sich schützend darüber.

„Hol mal das Weib herein, Hanibu.“

Zögerlich trat die alte Frau ein. Hanibu gab ihr einen Schubs und schloss schnell die Tür hinter ihr.

Viviane raunte: „Ich brauche eine Tragetasche mit besonders weichem Schaffell, einen Berg gekämmte Wolle, lieber noch Daunen. Ich nehme auch beides. Und die Wiege muss her.“

„D … die b … braucht noch Wahedon für s … seinen Sohn, ho …“

„Bei allen Göttern!“, fauchte Viviane leise. „Stell dich nicht an wie der erste Mensch! Borge dir halt woanders eine! Es wird ja noch mehr Wiegen auf der Burg geben! Habt ihr eine Ziege?“

Die Frau wischte sich über die Augen und nickte hastig.

„W … wir h … haben zwei Z … Ziegen, hohe Druidin.“

„Noch besser. Wir brauchen viel Ziegenmilch für Tinne und das Baby. Und dann holst du noch neues Stroh, ein neues Laken und eine neue Bastmatte. Und neues Wasser zum Saubermachen!“

Die Frau griff nach den Eimern, stolperte wieder zur Tür hinaus und zog sie diesmal schnell hinter sich zu. Hanibu führte Tinne auf den Abort, goss ihr dort kaltes Wasser über den Unterleib und half ihr danach beim Waschen im kleinen Badehaus neben dem Schwitzbad.

Interessiert blickte sie sich um, aber das Badehaus gefiel ihr nicht besonders. Hier oben hatten sie nun mal keinen Fluss nahe beim Haus wie unten in den Dörfern. Da mussten sie sich schon mit einem großen Waschzuber begnügen, in dem das bisschen Wasser kaum zu sehen war, was im Moment zur Verfügung stand. Tinnes Vorrat an Wolle war dagegen höchst zufriedenstellend. Sie nahm sich eine ordentliche Handvoll und wickelte sie in ein großes Leintuch, während Tinne sich abtrocknete und dann tatsächlich ihr Unterkleid in den Zuber warf. Schnell drückte sie ihr das Leintuch in die Hand, um das Kleid selbst in der Pfütze auszuwaschen, und hätte wohl die ganze Zeit missbilligend vor sich hingeschaut, wenn Tinne ihr nicht ein Töpfchen mit dieser famosen Waschpaste aus Rosskastanien hingehalten hätte. Als sie das dreckige Wasser in den Kanal abgoss, brachte sie sogar ein anerkennendes Nicken zustande. Die Tonröhre war gut konzipiert.

Das Schmutzwasser gurgelte und gluckste und schon war es weg.

Frisch angezogen und verpackt huschte Tinne durch die Hintertür wieder ins Haus und Hanibu verriegelte sie sorgfältig. Viviane hielt das Bündel im Arm, summte leise vor sich hin und schob bei ihrem Anblick die Decke einen Spalt breit auseinander. Ihr Blick und ihre Körperhaltung triumphierten geradezu, als sie Tinne mit einem verschmitzten Blick bedeutete, sie solle in die Lücke hineinschauen.

Tinne schwankte einen Moment, presste die Hände auf den Busen und kam zögerlich näher. Zaghaft lugte sie an Vivianes Fingern vorbei. Ihr ängstlicher Blick wich schlagartig einem strahlenden Lächeln, keuchend schlug sie sich ihre zitternden Hände vor den Mund. Und dann, ganz vorsichtig, berührte sie die rosige Wange ihrer neugeborenen Tochter. Sofort schnappte das winzige Mündchen herum.

Viviane lachte leise.

„Sie hat einen starken Saugreflex. Meinen Finger konnte ich gerade noch in Sicherheit bringen. Und sie hat eine sehr gesunde Farbe“, betonte sie. „Sehr groß für knapp sieben Monde und auch sehr kräftig. Sie ist wirklich eine Ausnahme. Es würde mich gar nicht wundern, wenn aus ihr mal eine große Kriegerin wird, genau wie ihr Vater. Komm, Tinne! Nimm sie mal!“

Abwehrend streckte Tinne die Hände vor, doch Viviane verstand die Geste falsch und drückte ihr strahlend das Bündel hinein. Sofort drehte das Baby den Kopf und suchte nach Nahrung. Viviane gluckste.

„Sag ich doch! Überaus kräftiger Saugreflex. Einfach perfekt. Lass sie gleich trinken!“

Energisch beförderte sie Tinne auf die Sitzbank, hakte eine der Fibeln ihres Kleides auf und legte ihr das Kind an. Gierig schnappte der suchende Mund nach Tinnes Brust und saugte sich so fest, dass sie erschrocken japste. Viviane tätschelte ihre Schulter.

„Leg sie an, so oft sie will. Ich lass dir ein Näpfchen Wollfett da. Bei dem Elan wirst du es bald brauchen. Aber bis deine Milch richtig einschießt, gibst du ihr Ziegenmilch. Die ist besonders nahrhaft. Wenn das Weib wiederkommt, zeige ich dir gleich mal, wie du das mit der Kapillare machen musst.“

„So, wie du vorhin den Schleim abgesaugt hast? Das war doch der Kiel von einer Feder, nicht wahr?“

„Schwanenfeder, genau. Ich sehe, du hast gut aufgepasst, Tinne.“

„Und wofür brauchst du die Daunen?“

„Das ist mein Problem“, gab Viviane zu und seufzte. „Bis jetzt hatte ich nur tote Frühgeborene oder sie haben zumindest nicht lange gelebt. Dieses Kind ist aber viel kräftiger als die anderen. Trotzdem müssen wir damit rechnen, dass …“

„Ich habe aber keine Daunen“, schluchzte Tinne und wischte sich mit der freien Hand die aufsteigenden Tränen aus den Augen.

„Beruhige dich, Tinne. Wenn wir auf die Schnelle keine auftreiben können, muss es auch so gehen“, tröstete sie Viviane. „Ich kann dir nichts versprechen, aber ich kann alles versuchen, damit sie am Leben bleibt und gesund. Wir packen sie warm ein, ob mit oder ohne Daunen – Hauptsache Wolle. Damit kommt sie in die Tragetasche mit dem Schaffell und die legen wir in die Wiege, am Besten noch eine Wolldecke drumherum.“

Viviane deutete auf einen starken Deckenbalken in der dunkelsten Ecke von Tinnes Haus.

„Wir nehmen den Balken dort zum Aufhängen. Dort kann sie keinen Zug abbekommen. Davor habe ich nämlich Angst. Wenn du sie wickelst, lass immer die Tür zu und mach eine dicke Decke, besser noch zusätzlich eine Kuhhaut vor die Fenster. Dann brauchst du zwar eine Lampe oder genauer viele Öllampen, aber das wird schon gehen, wenn nötig borgst du dir welche. Wenn du sie stillst, immer auf deiner nackten Haut mit einem Schaffell darüber. So hat sie es am wärmsten. Und wenn du richtig einheizt, kannst du sie auf dem Fell auch nackt strampeln lassen; immer mit einer Decke darüber, versteht sich. Aber Baden ist tabu! Die Käseschmiere ist der natürlichste Schutz, den es gibt. Wir haben wirklich Glück, dass es Sommer ist. Sie hat die besten Chancen, durchzukommen. Hast du schon einen Namen für sie?“

Tinne lächelte auf ihr Töchterchen herab.

„Ich werde sie Germania nennen.“

Viviane nickte.

„Das hätte German sicher gefreut.“

„Kann ich mit ihr raus? Wegen der Sonnenwende?“

Viviane schüttelte vehement den Kopf und sagte in scharfem Ton: „Sie bleibt solange im Haus, wie ich es anordne! Nur wenn das Wetter absolut passt, darf sie unter meiner Aufsicht raus. Da fällt mir ein: Du solltest das Pergament in den Fensterrahmen ordentlich säubern, damit es schön hell hier drinnen wird. Licht ist wichtig, also probieren wir es auf diese Weise. Ich werde natürlich mit dem König reden, damit du nicht an der Sonnenwendfeier teilnehmen musst. Wer ist eigentlich das Weib, das bei dir ist? Das war doch nicht deine Mutter?!“

„Nein, das ist unsere Sklavin. Sie hat schon zu Germans Familie gehört, als ich ihn geheiratet habe. Aber jetzt muss ich sie wohl verkaufen, denn ohne meinen Mann werde ich mir bald nicht einmal mehr die Butter aufs Brot leisten können.“

Viviane winkte ab.

„Darüber rede ich auch mit dem König. Dein Mann ist schließlich für unser Königreich in die Anderswelt gegangen. Was hast du gelernt, als du noch nicht das Weib eines Kriegers warst?“

„Ich habe bei uns am Falkenstein die Schafe gehütet.“

„Du bist Schafhirtin!? Das passt ja wie die Faust aufs Auge. Unser Schäfer, Oen, ist zum Krieger berufen worden und seine Schwester will Harthu heiraten, der auch in den Kriegerstand aufgenommen wird. Sie braucht also garantiert keine Schafe mehr hüten. Wie du siehst, ist der Posten für den Schäfer frei. Du wirst keine Not leiden, Tinne, auch wenn du nicht so schnell einen neuen Mann findest.“

Tinne nahm Vivianes Hände.

„Als mein erster Mann so plötzlich vor zwei Jahren zu Lugnasad starb, konnte ihm keiner helfen. German ergriff sofort die Gelegenheit, obwohl ich hochschwanger war, und warb um mich. Aber weil es mir so gut bei euch gefiel, wollte ich nicht mit in sein Königreich ziehen. German gab nach, bewarb sich bei König Gort und dieser war höchst erfreut, als er einen erfahrenen Lanzenkämpfer bekam.“ Tinne lächelte versonnen vor sich hin, bevor sie seufzend wieder in die Gegenwart zurück kam. „Wenn ich mit German ins Nachbarkönigreich gezogen wäre, hätte das an seinem Schicksal nichts geändert, wohl aber am Leben seiner Tochter. Die Götter lächeln ihr zu, dank dir, Viviane.“

Viviane winkte ab.

„Danke mir lieber nicht zu früh. Ab sofort werde ich dich und deine kleine Germania immerzu belästigen. Sie ist mein Experiment. Und wenn ich zur Sonnenwende mit den Göttern tanze, werde ich sie fragen, ob es gelingen wird.“

 

Es klopfte an der Tür. Diesmal ging Viviane hinaus, denn da standen gleich mehrere Leute; alle hatten die Hände voll. Der eine hielt eine Wiege, der andere ein Bündel Stroh, eine Frau hatte einen Sack gekämmte Wolle, eine andere eine Tragetasche aus Leder, gefüllt mit Babysäckchen, Windeln und Laken. Ein Schuster hielt mit seiner Lederschürze einen Topf dampfender Brühe fest. Daneben stand seine Frau mit einem Laib Brot, rief: „Vom König!“ und schwenkte strahlend ein großes Kissen; die alte Sklavin schielte auf ihre Wassereimer hinab.

„Aha, ich kann mir schon denken, wo ihr Tinnes Sohn gelassen habt!“, lachte Viviane und nickte dem Schuster und seiner Frau dankend zu. „Perfekt. Ich danke euch allen.“ Viviane schnappte sich das Kissen, die Ledertasche und den Wollsack. „Wartet bitte einen Augenblick hier draußen. Ich lasse euch gleich herein.“

Sie bugsierte ihre Utensilien schnell durch die Tür und trat sie mit dem Fuß zu. Sorgfältig legte sie das saubere Laken auf den Tisch, breitete Wolle und die Daunen aus dem Kissen darauf aus und schlug den restlichen Stoff darüber ein. Dann nahm sie Tinne die eingeschlafene Germania ab, wickelte sie erst in die Windeln, als nächstes in das viel zu große Babysäckchen und zum Schluss in das Tuch mit der Füllung, bis nur noch ihr winziges Gesichtchen heraus lugte. Hanibu hielt die Ledertasche auf und Viviane legte ihr Bündel vorsichtig hinein.

Zufrieden besahen sie sich ihr Werk. Jetzt konnten die Leute kommen.

Nachdem alle ihre Glückwünsche ausgesprochen hatten und jeder einen Blick in die Tasche werfen durfte, halfen alle mit. Die Männer hängten die Wiege an den Deckenbalken. Die Frauen nahmen das schmutzige Stroh aus dem Lager und ersetzten es durch frisches. Die Sklavin gab ihnen ein neues Laken aus der Wäschetruhe, knickte die schmutzige Bastmatte zusammen und steckte sie in den Ofen; eifrig schrubbte sie das Blut von den Holzbohlen und legte eine neue Bastmatte vor die Truhe.

Als alles erledigt war, brockten sie sich Brot in die Brühe und tranken einen kräftigen Tee von dem Wasser, das endlich gekocht hatte. Tinne erzählte den wissbegierigen Leuten von der Geburt, bis sie müde wurde. Das war für Viviane das Signal zum Aufbruch. „Wir kommen morgen wieder, Tinne. Sechs mal am Tag gibst du Germania ein Röhrchen von der Ziegenmilch. Mehr nicht! Anlegen kannst du sie aber beim kleinsten Mucks, das wird sie beruhigen. Sie darf ihre Kräfte nicht mit Schreien verausgaben, die braucht sie zum Leben. Deine Gäste möchte ich bitten, nun zu gehen. Ihr habt uns sehr geholfen. Wir werden bei der Quellgöttin auch für euch bitten.“

Die Helfer gingen mit Viviane und Hanibu hinaus und verneigten sich zum Abschied vor Viviane. Die bedankte sich noch einmal für ihre Hilfe, holte mit Hanibu die Pferde von der Koppel und ritt zum Burgtor hinaus. Bis zum Waldrand blieb Hanibu still, doch dann hielt sie es nicht länger aus.

„Viviane, was ist mit dir?“

Viviane drehte sich zu Hanibu und sah sie erstaunt an, weil sie es in äthiopischer Sprache gesagt hatte.

„Ich habe dich verstanden, Hanibu, aber ich weiß nicht, was du meinst.“

„Ich meine, wie du die alte Sklavin behandelt hast. Das warst doch nicht du, nicht die Viviane, die ich kenne.“

Viviane sackte auf Arion zusammen.

„Ich bin aggressiv?“

„So schlimm nun auch wieder nicht, aber …“

Viviane nickte.

„Silvanus hatte also doch recht. Er meinte, ich würde schnell zornig und wäre launisch. Da war ich natürlich erst recht wütend. Vater meinte, das wäre wegen der Schwangerschaft. Na, er muss es ja wissen! Aber ich will doch gar nicht aggressiv sein oder launisch!“

Hanibu schüttelte den Kopf und wechselte wieder ins Griechische.

„Als ich dich kennen gelernt habe, da warst du schon schwanger und du warst immer freundlich zu allen, egal ob Sklave oder Herr. Daran liegt es also nicht.“ Sie sah Viviane nachdenklich an. „Ihr habt gestern viel von dieser Schlacht erzählt, aber ich habe nicht genug davon verstanden. Wenn ihr so schnell redet, ist das schwer für mich. Bitte, übersetze es mir ins Griechische. Wenn dir Worte in meiner Sprache einfallen, kannst du sie natürlich dazu nehmen.“

„Was willst du wissen?“

Hanibu zog die Augenbrauen hoch.

„Ich will alles wissen, auch das, was du nicht erzählt hast.“

Viviane verzog das Gesicht.

„Das dauert aber länger.“

Hanibu deutete auf den Fuhrweg, über dem sich die hohen Ahornbäume zum grünen Gewölbe vereinten.

„Wir können langsam reiten, die Arbeit ist getan.“

Viviane überlegte kurz, womit sie beginnen sollte. Sie entschied sich, mit Baria anzufangen. Ihre Wolfstochter hatte als Erste bemerkt, dass etwas mit ihr nicht stimmte. Sie dachte damals wirklich, sie müsse an einem Geschwür sterben. Deshalb hatte sie sich als Späher gemeldet und so begann ihr Kampf noch vor der Schlacht.

Hanibu zuckte zusammen, als sie ihr aufzählte, wie viele Späher sie getötet hatte; wie sie ihre Köpfe nahm. Dann kam der Vorkampf. Wieder unterschätzten sie die Gegner. Dem einen warf sie den Speer ins Auge, dem anderen stieß sie ihr Schwert in die Lunge, dass sein Blut schäumend aus Mund und Nase quoll. Am nächsten Tag starben die Menschen um Viviane herum, doch diesmal war es meist Silvanus, der sie in die Anderswelt schickte. Viviane war ja nur der Lenker oder wie sie es nannte: die Leitwölfin. Beim Kampf mit den Königen war es wieder Viviane, die tötete. Endlich war die Schlacht vorbei, überall lagen Tote, Sterbende … nicht viele konnte sie retten.

Als sie ein wenig Ruhe gefunden hatte, war es ihre Großmutter Dana, die ihr bewies, dass sie gar kein Geschwür hatte, sondern schwanger war. So wurde sie sehr zornig auf ihren guten Freund Merdin, der sie geschwängert hatte, ohne um Erlaubnis gefragt zu haben.

Hanibu nickte bedächtig.

„Ich habe dir einst erzählt, dass schwarze Weiber in ihrer Hochzeitsnacht die Sterne tanzen lassen. Kannst du dich noch erinnern? Damals hast du nicht gefragt, wie das geht und ich dachte, du weißt es schon. Jetzt ist mir natürlich klar, dass du es nicht wusstest.“

„Ihr kennt diese Droge auch in deiner Heimat?“

„Vielleicht ist es nicht dieselbe, aber die Wirkung ist gleich.“

„Da springen auch Hirsche durch eure Träume?“

Hanibu lachte laut auf und ihre weißen Zähne blitzten in dem braunen Gesicht.

„Hirsche gibt es bei uns nicht. Wir haben Antilopen. Aber jeder hat mit seinem Gefährten seinen eigenen Traum. Dieser Merdin hat dich vielleicht als Hirschkuh gesehen, weil er auch zum Hirschclan gehört, genau wie du.“

„Du meinst, er hat mich anders gesehen?! Genau, wie ich ihn anders gesehen habe?!“ Verdutzt schürzte Viviane die Lippen. „Das wäre … möglich. Normalerweise esse ich keine Kräuter einfach so, aber Hirschkühe tun das wohl. Und ein Hirsch hat auch noch nie still gehalten, wenn ich ihn streicheln wollte, obwohl ich nie mit der Bratpfanne in den Wald gehe. Interessant.“ Viviane sah zur Sonne, die den erhabenen Wäldern von Raino entgegenstrebte. „Daran habe ich noch gar nicht gedacht. Er hat mich also gar nicht erkannt. Schwachsinn! Er hat gar nicht gewusst, was er die ganze Zeit gemacht hat! Er konnte wirklich nichts dafür!“

„So ist es. Aber dein Zorn kommt, glaube ich, nicht davon. Du hast deinen Frieden mit Merdin geschlossen, genau wie Silvanus.“ Hanibu schüttelte entschieden den Kopf. „Nein, ich bin sicher: Es liegt am Kampf, Viviane, an den vielen Toten, deinem Blutrausch, deiner Trauer.“

Viviane seufzte schwer.

„Du ahnst ja gar nicht, wie sich das anfühlt. Jede Nacht sehe ich ein skurriles Wesen, ein monströses Geschöpf mit messerscharfen Krallen, ellenlangen Fangzähnen, dichtem Schuppenpanzer und einem langen Schweif mit Giftstachel. Es springt und rennt an vielen Leibern vorbei und beißt, kratzt, sticht und schlägt um sich. Aus seinem blutverschmierten Maul tropft giftiger Speichel, es brüllt, es jault so bestialisch und es lacht und johlt und jauchzt, dass mir der Schädel dröhnt. Und wenn es mich mit seinen glühenden, roten Augen ansieht … Ich habe Angst, Hanibu.“

„Dass dich die Geister der Menschen heimsuchen, die du getötet hast?“

„Nein, nicht wegen der Geister. Deswegen sind wir schließlich von Afal gereinigt wurden. Es ist auch nur ein einziges Monster und das … bin ich selbst.“

Hanibu schürzte die Lippen und betrachtete Viviane mit schräg gelegtem Kopf.

„Du hast Angst, dich voll und ganz in dieses Monster zu verwandeln. Dass die Bestie aus deinem Kopf entkommt und sich in deinem Körper breit macht? Ist es das, was dich so quält, Viviane?“

„Ja. Es zieht mich wie magisch an, aber ich habe Angst vor ihm, Angst vor mir! Und ich verstehe nicht, warum ich mich nicht befreien kann! Ich will es nicht! Ich will nicht so sein! Ich will Frieden! Aber es klebt an mir fest wie Harz, trotz Reinigungsritual durch unseren höchsten Druiden! Obwohl mir die Götter verziehen haben!“

„Hast du dir selbst verziehen?“

Viviane stutzte und schürzte die Lippen, sagte aber nichts.

Hanibu nickte verstehend.

„Ohne diese monströse Bestie in dir wäre dein Volk jetzt vielleicht versklavt. Auf alle Fälle wären die Hermunduren in die Knechtschaft der Chatten geraten, als Klientel, wie ihr hierzulande sagt. Es war richtig, die Bestie frei zu lassen. Aber dadurch hast du viel mehr durchgemacht als andere. Du hast öfter getötet und bist in einen enormen Blutrausch geraten. Dein Geist hat extrem gelitten. Wenn das Feuer brennt, ist es angenehm warm, aber wenn die Flammen hoch lodern und um sich greifen, dann wird es immer schwerer, es zu löschen.“

„Gegenfeuer oder genügend Wasser hilft.“

Hanibu wiegte den Kopf.

„Weißt du, Viviane, ich habe oft über deinen Geisterflug nachgedacht, den du bei deiner ersten Initiation durchstehen musstest“, murmelte sie und sah Viviane forschend an; wartete, bis diese nickte. „Du hast damals von Bestien erzählt, die dich im finsteren Wald angefallen haben. Du und deine Hilfsgeister haben sie getötet oder in die Flucht geschlagen. Diese Bestien … das waren deine ureigenen Charaktere: Angst, Hass, Boshaftigkeit, Zorn, Überheblichkeit …“

Hanibu hob beschwichtigend die Hände, als Viviane zum Protest ansetzte, und wollte weiter reden, doch Viviane hielt ihr einfach den Mund zu und wartete, bis sie still hielt.

„Kann ich die Hand wieder weg tun?“

Hanibu nickte.

„Gut, dann will ich dir mal was sagen, Hanibu. Jeder Mensch trägt die dunkle Seite in sich! Du, ich, jeder. Das ist das Erste, was man als angehende Druidin erkennen muss. Tagelang haben wir uns gegenseitig analysieren müssen. Das war fast wie nackig ausziehen, aber es ist sehr wichtig, die Gegensätze zu erkennen und festzustellen, wie daraus ein Gleichgewicht entsteht. Wer ein Druide sein will, muss nämlich besonders hohe Anforderungen an sich stellen. Moralisch müssen Druiden einwandfrei sein, schließlich repräsentieren wir die Verbindung der Menschen zu den Göttern. Beide Seiten müssen einen Druiden für hoch achtenswert befinden. Beide Seiten müssen Vertrauen haben in einen Menschen, der vor allen Anfeindungen gefeit ist, denen von innen und denen von außen.

Einem Druiden muss man absolut, ohne Vorbehalte, trauen können. Und das schafft dieser nur, indem er Frieden hält. Frieden mit sich selbst, Frieden mit allen Menschen und Frieden mit den Göttern. Deshalb soll ein Druide nicht kämpfen. Wir Druiden behüten das Wissen und die Weisheit, so bringen wir die Brücke zwischen Menschen und Göttern zustande.“

Viviane musterte Hanibus nachdenkliche Miene und fragte sich, ob sie es in der griechischen Sprache gut erklärt hatte. Deshalb fügte sie noch hinzu: „Du hast also Recht, was meine Initiation angeht. Wenn man normal bei Bewusstsein ist, geht man ganz anders mit seinem Innersten um. Aber wenn man …“ Sie suchte nach den richtigen Worten. „Wenn man in sich selbst schwebt, dann sieht man sich aus einer ganz anderen Perspektive. Man erkennt noch viel mehr, kann andere Wege gehen, weiter laufen, tiefer graben … und alles Schlechte hineintreiben …“ Seufzend hob sie die Hände. „Ich kann es schlecht erklären.“

Hanibu sah Richtung Süden, in weite Ferne.

 

„Um den Frieden zu wahren. Ich weiß, was du meinst und ich möchte behaupten, dass es wenige Menschen gibt, die eine derart geringe Schattenseite in sich tragen wie du, Viviane. Vielleicht liegt das daran, dass deine Hilfsgeister alle schlechten …“ Hanibu wackelte Achtung heischend mit ihrem Zeigefinger vor dem Mund herum. „ … deiner Meinung nach, schlechten Eigenschaften in die Flucht geschlagen haben. Weil du es wolltest. Vielleicht ist das gerade so enorm wichtig, wenn man Druide ist und ihrem Kriegerbund angehört. Also glaube mir: Du bist ein moralisches Vorbild für mich und für jeden, der mit dir zu tun hat. Hast du mich verstanden?“

Viviane bohrte sich im Ohr herum und nickte. Hanibu lächelte, doch sie war noch nicht fertig.

„Jetzt, denke ich, sind ein paar deiner schlechteren Charakterzüge aus ihren Verstecken gekrochen. Manchmal bis du aggressiv, launisch, kurz angebunden … wie ein Hirschhund, den man auf eine Fährte ansetzt.“

Hanibu hob wieder abwehrend die Hände, um Vivianes Protest zuvor zu kommen.

„Es ist, als wäre die Schattenseite größer geworden. Als hätte die Dunkelheit die Bestien hervor gelockt und nun haben sie einen Mordshunger.“

Viviane zog die Augenbrauen hoch und schob die Unterlippe vor, sagte aber nichts. Hanibu machte ein Gesicht wie sonst Viviane, wenn sie einen verunsicherten Kranken vor sich hatte und deshalb ganz genau erklärte, wie sie ihn zu heilen gedachte.

„Du brauchst keine Angst haben! Du wirst deinen Frieden finden! Niemals wird die Bestie von dir Besitz ergreifen, es sei denn, du willst es! Du bist kein ruchloser Mörder, kein Frefler! Natürlich bist du ein Krieger, aber du, Viviane, bist ein Verteidiger des Lebens! Die Götter haben dich in den Kreis eintreten lassen, um auf vielerlei Art Leben zu geben und zu bewahren!

Hanibu deutete auf Vivianes Bauch.

„Du bist ein Weib, Viviane. Du gebärst Leben, wie die große Mutter Erde. Du nährst dieses Leben, wie die große Mutter Erde und du schützt dieses Leben, wie die große Mutter Erde. Und wie die große Mutter Erde tust du das nicht nur für dich! All jenen, denen du mit deinem Können hilfst, gibst du Leben, egal ob als Ärztin oder Kriegerin! Vielleicht geht der Krieger in dir immer noch auf dem blutigen Pfad und fletscht die Zähne wie ein hungriger Hund, dem man seinen Knochen weggenommen hat, jedoch die Ärztin und Mutter in dir weint garantiert. Erst, wenn du beide Teile deiner Seele wieder vereint hast, wird es dir besser gehen.“

„Besser gehen“, echote Viviane und runzelte die Stirn. „Schon mal Holz gehackt?! Ich komme mir nämlich vor wie ein dürrer Ast, den Großmutter Mara für den Ofen auserkoren hat! Und ich garantiere dir, Hanibu: Nie werde ich wieder so sein wie früher!“

„Ich weiß. Dafür hast du zu viel Leid erblickt. Aber …“

Hanibu zuckte die Achseln und betrachtete Viviane, als ob sie sich nun selbst weiterhelfen müsste. Viviane tippte sich auch sogleich gegen den Kopf.

„Aber es ist geschehen, nicht mehr zu ändern, vorbei; man muss daraus lernen und die richtigen Schlüsse ziehen. Und nun sollte ich den Krieger, der ein Teil von mir ist, auf den friedlichen Weg zurückführen. Vielleicht als Wächter?“

„Genau. Wie damals, als du bei deinem Geisterflug gegen die Ungeheuer gekämpft hast. Die hast du ja auch dahin zurückgeschickt, wo sie hergekommen sind. Lass den Krieger in dir all deine Wut und deinen Zorn zur dunklen Seite treiben, werfe noch hinterher, was du nicht haben willst und dann stell deinen Krieger vor dein ganz persönliches Schattenreich und befehle ihm, niemanden durchzulassen, es sei denn, du brauchst etwas aus der Dunkelheit.“

„Hanibu, du wirst mir unheimlich.“

Hanibu zog die Augenbrauen hoch.

Viviane feixte. „Weil du mich besser kennst, als ich mich selbst. Und ich kenne mich schon länger als nur zwei Monde.“

Hanibu verneigte sich.

„Es ist mir eine Ehre, dich besser zu kennen, als du dich selbst, Druidin und Freundin Viviane.“

Viviane verneigte sich ebenfalls.

„Es ist mir eine Ehre, deinen Rat zu befolgen, schwarze Perle und Freundin Hanibu.“

Hanibu ließ ihre weißen Zähne wieder aufblitzen und schüttelte gleichzeitig den Kopf über Vivianes Rede. Sie wusste allerdings aus Erfahrung, dass sie ihr den Vergleich mit der schwarzen Perle nicht austreiben konnte. Viviane war eben Viviane und wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, dann konnte man sie höchstens mit guten Argumenten vom Gegenteil überzeugen – man konnte es aber auch lassen, weil sie eigentlich nie etwas tat, was nicht rechtschaffen war. Bei Geisterflügen und imaginären Bestien konnte sie sowieso nicht mithalten.

„Und wie willst du diese Biester in die Dunkelheit zurück schicken? Mit einem Kräutertrank wie bei deiner ersten Initiation?“

„Bloß keine Giftmischerei! Da wird mir schon schlecht, wenn ich nur daran denke! Meine Initiationen habe ich zum Glück alle hinter mir!“ Viviane schüttelte sich angewidert und schnippte dann schmunzelnd mit den Fingern. „Da gibt es einen anderen guten Weg. Einen viel besseren. Ich werde Baria besuchen, noch vor der Sonnenwendfeier. So kann ich wirklich gereinigt mit den Göttern tanzen. Für heute ist es aber erst mal genug. Robin und Lavinia wollen sicher noch zeigen, wie gut sie auf der Tin Whistle geübt haben, während ich weg war.“

Hanibu lachte auf.

„Sie waren sehr emsig! Jeden Abend haben wir den anderen etwas vorgespielt. Das hat sie immer aufgeheitert.“

Viviane verzog das Gesicht und sah den Weg entlang. Gestern noch – in einem anderen, dunklen Leben – war sie als Kriegerin durch die Buchenwälder von Raino gezogen. Hatten ihre Augen eigentlich wahrgenommen, was die Götter für ein herrliches Gebirge dort erschaffen hatten? Eine Hügelkette dicht aneinander geschmiegter Berge, hoch und erhaben, umgeben von einzeln stehenden Bergen wie Könige, die sich um einen Hochkönig sammeln. Wenn man es so betrachtete, ritt sie selbst gerade einem solchen König, dem Uhsineberga, den Buckel runter.

Seufzend lugte sie durch die Ahornbäume, Buchen und Tannen zum Ausgang des Waldes, der als goldenes Tor inmitten grüner Wände erstrahlte.

„Ihr habt auch eine schlimme Zeit hinter euch. Es ist bestimmt ganz schrecklich, wenn man daheim bleiben muss und gar nicht weiß, wie es den anderen geht.“

„Es war schlimm. Aber deine Mutter hat dafür gesorgt, dass wir zu müde waren, um darüber lange nachdenken zu können. Außerdem ist Königin Elsbeth jedes Mal vorbeigekommen, wenn sie von König Gort eine Taube bekommen hat. Wir waren also immer recht gut informiert. Ach, sieh mal!“ Hanibu deutete zwischen den letzten Sträuchern hindurch über die Wiese. „Da vorne kommen Lavinia und Robin!“

Die Kinder trugen Körbe, winkten und liefen ihnen entgegen oder besser, sie hopsten ihnen entgegen und sangen: „Wir haben kleine Hanibus, ganz viele süße Hanibus! Hanibus, Hanibus, viele, süße Hanibus!“

Viviane sah Hanibu verdutzt an. Die lachte.

„Mein Name bedeutet Himbeere.“

„Sooo? Das hast du mir noch gar nicht erzählt!“

„Wir haben Obst durchgenommen bei unseren abendlichen Lektionen in meiner Sprache.“

„Oh, an die Lektionen habe ich gar nicht mehr gedacht, Himbeere! Quatsch. Jetzt bringst du mich total durcheinander! Ich meinte natürlich, Hanibu! Hoffentlich habe ich nicht zu viel versäumt!?“

Viviane setzte eine leidende Miene auf, Hanibu kicherte und winkte ab.

„Keine Sorge, Viviane. Die Kinder werden sich freuen, wenn sie dir mal etwas beibringen können.“

Vor einem Feld, das dicht mit Färberwaid überwuchert war, trafen sie zusammen. Viviane beugte sich zu den Kindern herunter und rieb sich begeistert die Hände.

„Mmmh, ihr habt ja viele Himbeeren gesammelt! Und groß sind die! Fast so groß wie Hanibu!“