Der mondhelle Pfad

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Viviane wäre die Erste gewesen, denn sie lag am Waldrand und hatte keinen Alkohol getrunken. Wenn sie bloß an einem Horn mit Met roch, wurde ihr schon übel. Deshalb trank auch Silvanus nur Tee und Eldersud für Kinder, er wollte ja keinen Schritt von ihr weichen.



Es war für ihn nicht schlimm, nüchtern zu bleiben; er fand es sogar lustig, dass Viviane so extrem auf Gerüche reagierte. Genau genommen zollte er dieser Erscheinung ihrer Schwangerschaft sehr große Ehrfurcht. Ihr Geruchssinn glich dem eines Hundes – er konnte das einschätzen, seine Ethmanja war die beste Hirschhündin weit und breit – und so hatte Viviane ihnen als Späher einen immensen Vorteil verschafft. Aber nicht nur ihre empfindliche Nase, sondern auch ihre listigen Täuschungen waren genial und Silvanus war überzeugt: Viviane war die personifizierte Todesgöttin für alle Feinde, die sich ihr in den Weg stellten.



Dieses Weib war nun seines. Offiziell zwar erst zu Lugnasad, wenn sie vom höchsten Druiden zusammengeführt wurden, aber Viviane hatte sich ihm bereits versprochen. Seit Beltaine waren sie zusammen und Silvanus war total stolz, Viviane sein eigen nennen zu können. Es störte ihn nicht einmal, dass sie das Kind eines anderen erwartete. Sie konnte ja nichts dafür. Außerdem hatte sie einmal erwähnt, dass dieser britannische Merdin fast so aussah wie er. Nur seine Augen waren nicht dunkelbraun, sondern blau. Wenn der Kleine dann Vivianes moosgrüne Augen bekäme, wäre das irgendwie befriedigend: Der Sohn des zukünftigen höchsten Druiden von Britannien würde bei ihnen aufwachsen und jeder, der ihn ansah, würde ihn für sein Kind halten.



Viviane blinzelte, sah in die lächelnden Augen von Silvanus und schlang ihm die Arme um den Nacken. Voller Leidenschaft gab sie ihm einen wilden Kuss, nahm seine Hüften in die Beinzange und presste ihn an sich, bis er stöhnte.



„Schon wieder Angriff ohne Vorkampf?“, hauchte ihr Silvanus ins Ohr und seine Lippen flüsterten weiter zu ihrem Nacken: „Seit wir es das erste Mal richtig gemacht haben, sind wir nicht mehr zum Spielen gekommen.“ Seine Zunge strich leicht über ihr Schlüsselbein, sachte biss er in ihre Schulter. „Du bist unersättlich.“



Viviane japste, bäumte sich auf und zog einen Schmollmund, während sie ihre Beine noch mehr verschränkte.



„Das liegt an meiner Schwangerschaft. Wir müssen es schließlich ausnutzen, wenn es eh schon zu spät ist. Außerdem: Wenn ich solchen Hunger habe, kann ich nicht spielen wie die Katze mit der Maus. Schon gar nicht …“ Sie rutschte sich ein wenig zurecht und schnurrte: „ … wenn sich die Maus so einladend vor dem Mauseloch präsentiert.“ Knurrend schnappte sie mit den Zähnen nach seiner Gurgel und Silvanus keuchte: „Friss mich!“



Lavinia drehte sich auf die andere Seite, gähnte und blinzelte verschlafen in die goldene Morgendämmerung. Hastig riss sie die Augen weit auf und rüttelte Robin, der neben ihr leise schnarchte. Brummend öffnete er ein Auge, sah Lavinia strafend an und drehte sich von ihr weg. Die ließ sich davon aber nicht beirren, zerrte ihn unsanft wieder zurück und drückte ihm mit den Daumen die Lider hoch. Robin knurrte und wollte sich auf sie stürzen, hielt aber mitten in der Luft inne, riss die Augen auf und ließ sich neben Lavinia fallen. Den Kopf behielt er jedoch oben.



Die Sonne stand schon hoch am Himmel, als Bewegung in die Leute kam. Gemächlich zogen sie die Speckblasen aus der noch warmen Asche, wischten sie sauber und schnitten sie in Scheiben. Die Feuer wurden neu entfacht und die Fleischbrühe erhitzt; dazu kam noch das restliche Fleisch. Die jungen Maiden hatten kühles Quellwasser geholt und manch einer schöpfte gleich mehrere Hörner hintereinander, um sie gierig in einem Zug zu leeren.



Viviane und Silvanus grienten sich an und beobachteten Conall, der jetzt das Wasser hinunter kippte wie gestern Met und Elder. Nur Loranthus schien kein Interesse an Ess- oder Trinkbarem zu haben und widmete die ganze Aufmerksamkeit seinen Händen, die er immer mal zur Nase führte. Silvanus ließ seinen Mittelfinger über Vivianes Hand kreisen und sie schnappte zu. Da grienten sie sich wieder an und winkten Elektra, die gerade zwischen Königin Elsbeth und dem Barden Kablitu saß und zu Loranthus herüber sah. Elektra hielt triumphierend den Daumen hoch, grinste breit und nahm noch ihren Zeigefinger und ihren Mittelfinger dazu. Silvanus schüttelte mit gespielten Entsetzen den Kopf; er sah gerade noch, wie Viviane ihre Finger einzog und die Faust in Siegerpose in die Luft stieß.



Nach der Mahlzeit erklang ein melodischer Posaunenstoß und Ruhe trat ein. Afal stellte sich neben die abgebrannte Opfergabe und deutete auf die geschwärzten Tierschädel.



„Nachkommen des stolzen Cernunnos! Die Götter haben unser Großopfer wohlwollend angenommen. Wenn sich die Sonne das dritte Mal neigt, werden sie zu uns herabsteigen und mit uns tanzen. Lasst sie uns ehrerbietig begrüßen. Lasst uns mit weitem Herzen über Mutter Erde wandeln und am Tag der Birke den Göttern huldigen. Geht nun in Frieden.“



Beschwingt fuhren alle in ihre Dörfer. Loranthus rannte mit Silvanus und Medan den kürzeren Weg quer durch den Wald. Als Arminius mit dem Rest der Familie ankam, hatten sie schon die Hühner aus dem Gehege gelassen, die Eier eingesammelt, Brunnenkresse am Fluss geholt, Zwiebeln und Möhren geputzt und Brot geschnitten. Loranthus musste schmunzeln, als Viviane eintrat und ihm dabei zusah, wie er die Kresse auf Butterbrote schnippelte und sie akribisch zusammenklappte.



Arminius klopfte ihm zufrieden auf die Schulter, wickelte die Brote in ein Leintuch und legte es mit Eiern und Gemüse in eine Kütze. Die Männer liefen los, um die Felder zu begutachten.



Viviane stand in der Tür und beobachtete Medan, wie er die Kütze schulterte und Robin, der stolz an den Fingern aufzählte, was sie alles für Arbeiten verrichtet hatten. Sie wäre auch gerne mitgegangen, aber ihre Mutter hatte Schmerzen im Unterleib. Da wollte sie ihr lieber einmal den Bauch abtasten.



„Also, Mama, ich kann nichts Ungewöhnliches finden. Alles sitzt da, wo es hingehört. Werden wohl die Bänder sein, die sich dehnen müssen. Die Gebärmutter ist immerhin schon faustgroß.“



Viviane drehte sich zu Lavinia um und hielt Daumen und Zeigefinger ein Stück auseinander.



„Unser Schwesterchen dürfte jetzt etwa so groß sein.“



Lavinia nahm sich das kleinste Ei aus der Bastschale und hielt es prüfend zwischen den Fingern.



„Dann ist es ja so groß wie das Ei von einem jungen Huhn!“



Vorsichtig legte sie das kleine Ei in ihre Hand, strich liebevoll darüber und wiegte es hin und her.



„Mein liebes Schwesterchen. Wenn du geboren bist, wiege ich dich genauso immer hin und her. Das kann ich schon gut, sagt Noeira.“



Viviane gluckste und wollte schon den Mund aufmachen, doch Flora schüttelte warnend den Kopf. Ihr stand nämlich gerade das Bild vor Augen, auf welche Weise Viviane damals Medan gewiegt hatte.



Sie hatte sich unter die Wiege gehängt und war daran hin und her geschaukelt. Das ging gerade noch gut. Der Balken an der Decke war ja stark genug, um die hängende Wiege

und

 Viviane zu halten. Doch auf die Wiederholung dieser Belastungsprobe konnte Flora gerne verzichten und der Deckenbalken bestimmt auch, immerhin war er nun schon seit elf Generationen im stetigen Gebrauch und musste geschont werden.



Noeira stemmte die Hände in die Hüften.



„Da wir gerade von Babys reden … Wie bist du eigentlich zu

deinem

 gekommen?“



Viviane schnaufte, als wäre ihr eine Fliege in die Nase geflogen.



„Das habe ich euch doch schon erzählt!“



Noeira winkte gelangweilt ab, von Fliegen – egal welcher Art – ließ sie sich nicht beirren, wenn es etwas Neues zu erforschen gab.



„Ja, ja, wir haben aufgepasst. Morgens Prüfung für das Drachenschwert im Wald, abends Initiation für den Orden mit himmlisch duftender Schale in einem sonst leeren Raum. Was mich persönlich dabei interessieren täte, ist das, was nach dem Riechen an der Schale passierte.“



„Na, nichts!“ Viviane warf die Hände in die Höhe und verscheuchte einen ganzen Schwarm Fliegen. „Nichts, nichts und nochmal nichts!“ Es war die reinste Fliegenplage. „Einfach nur am nächsten Morgen orientierungslos mit schmerzenden Gliedern aufgewacht!“



Noeira reckte das Kinn und sah Viviane herausfordernd an.



„Hast du nicht gesagt, du hättest einen Traum gehabt?“



Jetzt winkte Viviane ab, als wolle sie eine ganz besonders lästige Fliege mit einem Wisch schnappen.



„Ach, das war doch nur ein total abstrakter Traum, Noeira! Absolut surreal! Skurril! Abstrus! Hervorgerufen durch Drogen! So was Irres sehen nicht mal die Feinschmiede, wenn sie in Trance sind und ihre phantastischen Figuren ins Edelmetall treiben.“



Noeira wedelte mit ihrem Zeigefinger vor Vivianes Nase herum und beförderte sie energisch auf die Sitzbank.



„Da wäre ich mir nicht so sicher! Schließlich ist bei dir ja auch ein Kunstwerk entstanden. Hauptsache, der Kleine hat keine Hufe oder einen Hirschkopf, wenn er raus kommt! Das wird nämlich schwierig mit dem Anziehen.“



Viviane schüttelte übertrieben tadelnd den Kopf, verdrehte die Augen und nickte zur Tür.



„Du denkst schon wie Silvanus! Der hat letztens erst gemeint, ich solle bei den Mützchen Löcher rein machen, damit das Geweih gut durchpasst.“



„Also wirklich!“ Noeira klatschte entrüstet die Hand auf den Tisch. „Das schlägt dem Fass den Boden aus! Ich hoffe doch, du hast ihn für so eine freche Rede ordentlich bezahlen lassen!?“



Viviane grinste listig.



„Der bezahlt mir jeden Tag dafür! Doppelt und dreifach.“



„Recht so! Also los! Erzähl schon von diesem phantastischen Traum! Je mehr abstrakt, surreal, skurril und abstrus, umso besser.“

 



Mit rollenden Augen schaute Viviane zu Noeira und allen andern, die sich nun erwartungsvoll um den Tisch platzierten. Lavinia huschte schnell zwischen Großmutter Mara und Taberia, damit sie Viviane exakt gegenüber saß, und beugte sich sogar noch weiter vor als Noeira. Nur Hanibu sah aus, als wüsste sie schon Bescheid. Viviane seufzte und verschränkte die Hände auf dem Tisch.



„Also. Mein oberster Lehrer, Akanthus, hatte Merdin und mich in ein mickriges kreisrundes Grubenhaus ohne Mobiliar geführt und von außen den Riegel vorgeschoben. Da es nur ein winziges Fenster hatte, haben wir neben der Tür darauf gelauert, was nun kommt, denn wir waren auf einen erneuten Reaktionstest gefasst. Doch es passierte nichts, überhaupt nichts. Also haben wir uns auf die Bärenfelle gesetzt und erzählt, wie es uns bei der Prüfung früh morgens im Wald ergangen ist.



Merdin war in einem anderen Teil des Waldes unterwegs gewesen als ich und der irrigen Annahme, dass ich als Maid nicht so hart geprüft würde wie er. Bei Tarnung und Spurensuche war es ja egal, aber er hat gestaunt, weil ich mich gegen jeden meiner fünf Angreifer genauso erwehren musste wie er. Einen hatte ich sogar früher erwischt als er mich, weil ich ihn von einem Baum aus gesehen hatte. Zwar nur seinen blinkenden Schwertknauf, aber gesehen ist gesehen.



An den habe ich mich herangeschlichen wie ein Wolf auf Beutefang und habe ihm aus meinem längsten Blasrohr eine ordentliche Ladung Pfeile verpasst. Bis er endlich von seinem Baum unten war, hatte er einen im Hintern, einen im Oberschenkel und einen mitten im Genick. Natürlich ohne Betäubungsgift dran, er sollte mich ja im Schwertkampf testen, was er danach auch ziemlich rabiat tat. Am Ende sah er richtig zerzaust aus.

Ich

 dagegen bin tadellos aus dem Wald herausgetreten und meine Prüfer hatten nichts zu bemängeln. Der Zerzauste hat mir sogar feixend sein Schwert hingehalten und Revanche gefordert. Ich habe es natürlich nicht berührt, es war ja nur Spaß.



Merdin musste lachen, als er sich die Szene vorstellte. Er konnte sich gar nicht mehr beruhigen und sprang in dem winzigen Raum herum, als hätte er einen von meinen Blasrohrpfeilen im Hintern. Weil es mittlerweile schon dunkel geworden war, nahm ich ein Stück Glut aus meinem Zunderschwämmchen und legte es in eine Ölschale, die vom obersten Deckenbalken hing. Merdin musste mich hochstemmen, sonst wären wir gar nicht an die Schale herangekommen, so extrem weit oben war sie angekettet. Kaum brannte das Öl, verströmte es auch schon einen ganz intensiven Duft, unbeschreiblich gut, einfach genial. Wir konnten gar nicht genug davon bekommen und reckten beide die Hälse, um möglichst viel von den Duftschwaden einzuatmen.



Wann ich die Besinnung verloren habe, kann ich absolut nicht sagen. Jedenfalls sah ich einen Hirsch in meinem Traum. Der stand vor mir auf einer großen Wiese und rief mich. Ich lief auf ihn zu, schlug im letzten Augenblick einen Haken und rannte an ihm vorbei. Er stellte sich auf die Hinterläufe und preschte mir lachend hinterher. Übermütig trieben wir uns gegenseitig durch einen schattigen Birkenwald und einen steilen Berg hinauf. Oben auf der Kuppe befand sich eine sonnige Wiese mit herrlichen Blumen und Kräutern.



Ich pflückte Blumen und steckte mir die wohlriechenden Kräuter in den Mund. Die Sonne wärmte mich so angenehm, also legte ich mich auf die Wiese und ruhte mich aus. Als die Sonne im Zenit stand, begann ich zu schwitzen.



Der Hirsch legte sich neben mich und leckte mir den Schweiß ab. Das kitzelte, aber ich fühlte mich gleich viel besser und döste kurz ein. Als ich aufwachte, äste der Hirsch an einem kleinen Weiher. Wir tranken das herrlich erquickende Wasser und liefen gemeinsam von einem duftenden Kraut zum anderen.



So kamen wir zu einem Weg, der zum nächsten Berg führte. Dort glitzerte es in der Sonne und wir wollten sehen, was das war. Also sind wir wieder losgelaufen, aber der Pfad wurde immer schmaler und abschüssiger. Kurzerhand nahm mich der Hirsch auf seinen Rücken, damit ich nicht vom Wege abglitt.



Ich wollte ihm danken und streichelte über seine Flanken, seinen Rücken, die Schultern, den Hals und das Geweih. Bei jedem seiner Schritte konnte ich seine sehnigen Muskeln spüren. Er strotzte vor Kraft. Sein Fell war weich und warm. Sein stattliches Geweih fühlte sich herrlich an. Ich musste es einfach immer wieder berühren und meine Finger glitten über jeden Zacken in seiner Krone.



Der Pfad ging bald steiler nach oben, doch der Hirsch trug mich sicher hinauf und ich war froh, so einen guten Weggefährten zu haben. Auf der Bergkuppe fanden wir wieder eine große Wiese mit saftigem Gras. Was von Weitem so gefunkelt hatte, waren Tautropfen, die in der Sonne glänzten. Das wunderte mich, denn nachmittags gibt es eigentlich keinen Tau mehr.



Erstaunt betraten wir die Wiese und schon beim ersten Schritt merkten wir, dass es kein echter Tau war, sondern winzige Kristalle. Die Wiese war übersät mit Kristallen und es fühlte sich ganz seltsam an, darüber zu laufen. Aber der Hirsch rannte wieder übermütig vor mir her und so trieben wir uns gegenseitig, bis wir erschöpft ins Gras fielen und er mir eifrig den Schweiß ableckte. Kaum hatte er mich auf diese Weise ein wenig abgekühlt, neigte sich die Sonne zum Horizont und die Kristalle erstrahlten in den zartesten Farben.



Ich wollte mir die blauen und grünen genauer ansehen, der Hirsch lief zu den goldenen und veilchenfarbenen, doch wir konnten sie nicht berühren, weil plötzlich Wind aufkam. Die Kristalle trudelten über die Wiese, wie zuvor wir, und als der Wind stärker wurde, trennten sie sich sogar nach Farben. Es sah seltsam aus, aber sie reihten sich tatsächlich aneinander und bildeten einen breiten, vielfarbigen Weg.



Der Hirsch sah mich fragend an, ich nickte und wir betraten den Pfad. Er ging auf der goldenen Bahn, ich legte ihm die Hand auf die Schulter und betrat die grüne. Es wurde heiß und immer heißer, die Abendsonne gleißte, wir konnten kaum noch den Weg vor unseren Füßen erkennen. Mir kam das Laufen auf dem Pfad unwirklich vor. Es war, als würde ich auf der Stelle gehen, aber ich kam trotzdem vorwärts, die Kristalle selbst trugen mich voran. Je weiter wir aufstiegen, desto heißer und strahlender wurde das Licht der Sonne und ich musste die Augen schließen. Der Hirsch führte mich.



Dann waren wir am Ende angekommen und der Sonnenkönig saß vor uns in seinem großen Himmelswagen. Er lächelte und sprach: ‚Danke, dass ihr mir meinen Götterpfad zurückgebracht habt. Dafür gebe ich euch das Schönste, was ein Gott einem Menschen schenken kann.‘ Bei diesen Worten senkte er seine Hände zu den farbigen Kristallen und warf sie hoch in den azurblauen Himmel. Dort tanzten sie, bis sie ihren angestammten Platz fanden und ihre Farben erstrahlten noch heller. Staunend blickten wir hinauf, voller Ehrfurcht.



Der Sonnenkönig sah uns freundlich an und sagte: ‚Und nun euer Lohn.‘ Er hob die Hände zu den Göttern, die um den See der Weisheit im Himmel saßen und bat sie um einen Schluck Wasser daraus. Sie nickten, schöpften jeder eine Hand voll Wasser und warfen es uns mit vollendeter Anmut entgegen. Ganz sanft nieselte es auf uns herab und die große Hitze wich einer angenehmen Frische. Die Regentropfen perlten an uns herunter, vereinigten sich zu einem kleinen Bach und wir glitten darauf zur Erde zurück. Der Sonnenkönig winkte zum Abschied, freudig wiehernd strebten seine Pferde ihrem Nachtlager entgegen.“



Viviane betrachtete die verträumten Gesichter der Frauen. Sie alle schienen noch auf dem Weg zwischen den Welten zu sein. Hanibu hatte garantiert nicht alles verstanden, aber sie sah vor sich hin und ihre Augen wiesen diesen entrückten Blick auf, den sie schon einmal gehabt hatte – damals, bei ihrer ersten Begegnung mit Lew.



Noeira fing sich als Erste. Übermütig schnalzte sie mit der Zunge und schürzte mit Verschwörermiene die Lippen.



„Also, ich will dir mal was verraten, Viviane. Wenn Conall zum Höhepunkt kommt, tanzen vor seinen Augen auch die Sterne.“



Taberia kicherte und dann prusteten alle Frauen los, sogar Großmutter Mara. Lavinia sah interessiert von einer zur anderen.



Flora tätschelte ihren Bauch. „Ja, ja. Und wenn es dann zu nieseln anfängt … und man findet keinen Unterschlupf …“ Sie tippte gegen ihren Unterleib. „ … ist man nass.“ Alle grölten, nur Viviane zog einen Schmollmund.



„Ha, ha. Wie lustig“, knurrte sie, kniff die Augen zusammen und sah sich suchend im Langhaus um. Allerdings schien sie nicht zu finden, wonach sie suchte und lugte deshalb auch noch unter den Tisch. Noeira bückte sich hinterher.



„Was suchst du denn?“



„Was wohl, meinen Humor natürlich. Der scheint mir gerade abhanden gekommen zu sein.“



Alle schmunzelten, nur Lavinia beugte sich über den Tisch und deutete zur Tür.



„Dort!“



„Was, dort?“



„Na, dort! Mitten auf der Wiese! Da läuft er, dein Humor!“



Viviane reckte den Hals.



„Ich kann nichts sehen. Wo denn?“



„Oh je! Oh je, oh je! Jetzt kommt er mit vollem Karacho wieder zurück! Achtung! Ha!“



Lavinia sprang auf, riss die Arme hoch und klatschte die Hände zusammen. „Hab ihn erwischt! Bitte schön! Sag mal ‚aaaa‘, Viviane!“



Viviane schmunzelte, sagte artig „aaaa“ und Lavinia stopfte ihr den Humor in den Rachen zurück. Höchst erfreut über den guten Geschmack kaute sie alles ordentlich durch, nuschelte „Nichs desdo drodz, dad hädd mi jama eine vohe sang gönn“, schluckte laut und leckte sich die Lippen. Lavinia kicherte.



Noeira nahm das Spucktuch, das sie immer für Belisama über der Schulter hängen hatte, und wischte Viviane damit sorgfältig den Mund ab. Nebenbei tätschelte sie ihr die Schulter und ließ ihren Gedanken freien Lauf:



„Erstens: Du hast nie danach gefragt. Und zweitens: Wer von uns hätte ahnen können, dass es derlei Initiationen gibt!? Wir sind einfache Bauern! Mutter webt und färbt, ich schnitze Holz, Taberia und Großmutter Mara töpfern, Vater ist Schmied, Conall Sattler, Tarian Tischler, Silvanus Wagenbauer, Schuster und Glasmacher. Dafür braucht man doch keine Initiation! So was gibt es eben nur bei Druiden! Und wenn …“ Noeira fuchtelte mit dem Zeigefinger und tippte sich gegen den Kopf. „ …

wenn

 wir es geahnt

hätten?

 Was hätten wir – deiner Meinung nach – der Taube für einen Brief mitschicken sollen?“ Sie kniff die Augen zusammen und tat so, als müsse sie ein winziges Stück Papyrus beschreiben. „Viviane, hüte dich vor zutraulichen Hirschen im Wald und lass dich nicht nass regnen, sonst bekommst du ein kleines Hirschlein geschenkt?“



Viviane schnaubte. „Da hätte ich bestimmt das Gegenteil davon gemacht, nur um das Hirschlein zu bekommen. Das habe ich noch nicht in meiner Tiersammlung.“



Noeira tätschelte grinsend Vivianes Bauch. „Nur Geduld! Bald hast du eins. Musstest du vor dieser Initiation eigentlich wieder hungern?“



„Ja, natürlich. Wir verbrachten drei Tage in der Höhle mit dem kleinen See, genau wie beim ersten Mal. Es gab also nur geweihtes Wasser.“



„Sonst nichts?“



Viviane schüttelte den Kopf.



„Wie konntest du dann überhaupt gegen all die Krieger im Wald bestehen? Mich hätte der erste bloß anhauchen müssen, da wäre ich schon umgefallen!“



Viviane lachte laut auf und verscheuchte erneut einen Fliegenschwarm.



„Das geht besser, als du dir vorstellen kannst, Noeira. Immer, wenn man Hunger bekommt, trinkt man sich den Bauch mit dem geweihten Wasser voll. Sonst sitzt man nur in der Höhle und wandert zwischen den Welten. In Trance zu geraten, muss man natürlich erst lernen. Bei meiner ersten Initiation habe ich das noch nicht so gut hinbekommen. Da hat mich der Hunger viel stärker gequält. Aber als ich bei dieser letzten Initiation aus der Höhle heraus in die Morgendämmerung trat … Das war absolut genial!



Ihr ahnt gar nicht, was ich plötzlich alles sehen, hören, fühlen, riechen und sogar schmecken konnte! Fährten lesen war ein Kinderspiel! Verstecken erst recht! Und ich spürte eine Kraft in mir wie noch nie zuvor! Jeden, der sich mir in den Weg stellen wollte, den habe ich einfach umgerannt. Mein Lehrer Akanthus hat es die ‚pure Macht der Sinne‘ genannt, die unserem Körper durch das geweihte Wasser dargebracht wird.“



Noeira winkte ab.



„Das hört sich alles recht interessant an, aber auf so eine Erfahrung kann ich gerne verzichten. Mir gluckert schon der Magen von dem ganzen Wasser-Gerede.“

 



Flora klatschte in die Hände, stand auf und ging hinter den Ofen.



„Da hilft nur eines: Wir essen zu Mittag. Viviane, hol mal die Buttermilch aus dem Keller. Lavinia, hier sind die Holzbrettchen. Noeira, schnipple die Kresse. Taberia, schäl die Zwiebeln. Mara, stech Löcher in die Eier, die schlürfen wir aus.“



Viviane streute sich gerade Salz über ihr zweites Kressebrot, da ertönten die Hörner. Alle traten verwundert auf den Vorbau; nur Viviane blieb sitzen, klappte schnell ihr Brot zusammen und rief Hanibu zurück. Die kam an den Tisch, stopfte sich noch den Rest Zwiebel in den Mund, klatschte einen dicken Klumpen Butter aufs Brot und rollte es halbwegs zusammen. Nach einem Griff in das Näpfchen mit Kresse rannte sie neben Viviane her zur Koppel und versuchte nebenbei, ihr Brot umzudekorieren.



Viviane scheuchte eine Schar Hühner aus dem Weg und rief: „Das gilt mir! Ich habe zwar gestern niemanden gesehen, der meine Hilfe nötig gehabt hätte, aber wer weiß, was da passiert ist! Es hört sich jedenfalls so an, als könnte ich deine Hilfe gebrauchen, Hanibu.“



Hanibu zäumte Dina in Windeseile wieder auf, Viviane ihren großen Arion. Dabei hielt sie ihr Kressebrot zwischen den Zähnen, weil sie es auf die Schnelle nicht weglegen wollte. Arion schnappte einmal zu und grinste sie aus seinem Pferdegesicht schelmisch an. Viviane ließ die Zügel los und stemmte die Hände in die Hüften, da sprang der Schalk auch in ihre Augen. Sie tätschelte seine Nüstern und kraulte ihn hinter den Ohren, während sie ihm das Zaumzeug überstreifte.



„Du bist scheinbar der einzige Mann, der sich um meine Figur sorgt. Silvanus hält mir immerzu was Essbares unter die Nase und schaut nach, wie lange meine Bauchmuskeln noch durchhalten.“



Arion schnaubte und kaute gemächlich weiter.



„Ganz recht. Ich will ja nicht auseinandergehen wie Brotteig. Da es dir so gut schmeckt, gebe ich dir natürlich gerne was ab, wenn ich wieder Kressebrot habe, aber sei froh, dass es kein frisch gebackenes Brot war, Arion. Sonst würdest du bald Bauchschmerzen bekommen und wer würde dich da wohl verarzten müssen, na?!“



Arion schnaubte wieder, schluckte und Viviane schwang sich auf seinen Rücken. Nebenbei bemerkte sie, dass auch Dina zufrieden kaute und Hanibus Hände brotlos waren.



„Und jetzt wie Bruder Wind zum Uhsineberga!“



Arion preschte vorneweg, Dina galoppierte hinterher, wild flatterten die Haare der Pferde und Frauen im Wind. Ohne Streitwagen waren sie viel schneller wieder oben auf dem Berg und sahen schon von Weitem eine alte Frau vor dem Burgtor stehen. Unruhig trat sie von einem Fuß auf den anderen und knetete ihre Hände. Beim Näherkommen gewahrten sie ihr verweintes Gesicht, bevor sie sich tief und lange verbeugte.



Der Wächter nahm ihnen die Pferde ab und Viviane lief mit Hanibu eilig neben der Frau her. Nach zwei Versuchen gab sie es allerdings auf, die alte Frau nach dem Problem zu fragen, da sie kein ordentliches Wort herausbrachte und nur wehklagte, während sie mit kleinen Schritten an den einfachen Häusern der Handwerker vorbei trippelte, hoch zu den größeren der Krieger, bis sie vor einer Tür anhielt und sich wieder tief verbeugte.



Viviane und Hanibu traten ein und wussten sofort Bescheid.



Eine junge blonde Frau saß auf dem Strohlager und krümmte sich wimmernd. Ihr Unterkleid und das Laken waren blutverschmiert. Ein kleiner Junge klammerte sich an ihren Arm und schluchzte jämmerlich.



„Tinne, jetzt doch noch nicht! Es sollte doch erst in zwei Monden kommen!“, rief Viviane, ging schnell die paar Schritte zum Lager und fasste nach ihren Händen. Doch Tinne stöhnte nur und krümmte sich noch weiter vor.



Viviane sah Hanibu an und schüttelte den Kopf. Die alte Frau schnappte laut nach Luft, doch Viviane herrschte sie an: „Ich brauche heißes Wasser!“



„Es ist …“, sie schniefte und wischte sich die Augen, „ … nur noch ein bisschen Wasser da, hohe Dru …!“



Viviane fauchte: „Bei allen Göttern! Dann schaff es bei, Weib! Du hattest Zeit genug!“ Die Frau stand stocksteif. Erschaudernd griff sie nach zwei Holzeimern und schlurfte benommen zur Tür hinaus. Hanibu überlegte nicht lange und rannte ihr nach. Viviane redete unterdessen beruhigend auf Tinne ein, wusch sich die Hände, träufelte Essig darauf und untersuchte Tinne. Mit dem bisschen Wasser, das übrig war, bekam sie gerade noch das Blut von den Händen und strich dem