Der mondhelle Pfad

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„Nicht du, Loranthus. Nur die, die bei der Schlacht dabei waren.“

„Aber ich war dabei!“

„Na gut. Dann hätte ich besser sagen sollen: Nur die, die gekämpft haben.“

Loranthus sah Medan verständnislos an und schaute Viviane hinterher, die mit den anderen über die Holzbohlen vom Burggraben lief und gerade den Wall passierte. Sie hatte einen so schleppenden Gang.

„Wohin gehen sie?“

„Sie betreten das Heiligtum.“

„Und wieso dürfen wir anderen nicht mit?“

„Weil sie dort von Afal gereinigt werden.“

„Gereinigt?! Wir haben uns doch heute morgen erst in der Ulster gewaschen!“

Medan schüttelte ernst den Kopf.

„Sie haben Menschen getötet, Loranthus. Diese Toten sind nun in der Anderswelt. Ihre Seelen müssen versöhnt werden, damit sie zu Beltaine oder Samhain nicht in unsere Welt zurück kommen und ihre Bezwinger mit sich ziehen.“

Loranthus beäugte Medan, als würde er plötzlich die Landessprache nicht mehr verstehen. Abrupt zuckte seine Hand zum Burgtor und sein Zeigefinger stieß vor.

„Aber die Chatten haben uns doch angegriffen! Nur wegen Salz! Da wurde gekämpft! Mann gegen Mann! Oder Weib! Das ist ja bei euch egal! Denkst du, da hätte auch nur ein einziger Chatte dich am Leben gelassen, wenn du dich nicht gewehrt hättest?! Ich, ein außenstehender, objektiver Grieche! Ich selbst habe gesehen, wie man aussieht, wenn man sich nicht gut genug gewehrt hat! Und glaube mir: So will ich nie aussehen! So willst du nie aussehen! So will keiner je aussehen!“

Medan legte Loranthus beruhigend die Hand auf die Schulter.

Doch der schüttelte sie brüsk ab, schubste Medan zurück und sprach mit verstellter Stimme: „He, du Hermundure! Ich habe ja nichts gegen dich persönlich, aber mein König sagt, ich soll dich töten, damit wir an euer Salz ran kommen. Euer Eisen bekommen wir natürlich auch noch mit dazu, gratis sozusagen! Und wenn ich mit dir fertig bin, komme ich in dein Dorf und hole mir dein Weib und deine Tochter! Was ich von deinen Kindern nicht gebrauchen kann, bringe ich auf den Sklavenmarkt! Oder …“ Loranthus fuhr sich mit dem Finger über seine Kehle und funkelte Medan angriffslustig an. „Bei Pallas Athene! Zeig mir einen …“ Er fuchtelte mit erhobenen Daumen vor Medans Nase herum. „ … einen Einzigen, der sich da nicht wehren würde!“

Medan blieb ruhig stehen, nickte.

„Komm. Ich kenne einen gigantischen Bergahorn. Von dort können wir ziemlich gut sehen. Es ist nur eine Zeremonie, Loranthus. Du brauchst dir keine Sorgen um sie machen.“

„Keine Sorgen?“

„Nein, keine Sorgen.“

Loranthus trottete Medan hinterher, der mit den anderen seines Alters zum Waldrand zurückging, und sie kletterten an einem wirklich hohen Baum bis hinauf in die Spitze. „Es ist zwar nicht so gut wie auf einer Warte mit Fernrohr …“

Loranthus beugte sich gewagt nach vorne und drückte einen dünnen Ast mit gefiederten Blättern nach unten.

„Es ist perfekt.“

Medan lächelte und beugte sich ebenfalls vor.

„Schade“, seufzte er. „Wirklich schade, dass wir keine Kriegsbeute gemacht haben.“

„Natürlich haben wir Kriegsbeute gemacht“, verkündete Loranthus so stolz, als hätte er höchst persönlich dafür gesorgt. „So viele Schwerter, Schilde, Speere, Äxte, Streitwagen … und der ganze Schmuck erst noch. Man hätte meinen können, die Chatten wäre zu einem Fest unterwegs gewesen.“

„Aber wir haben nichts davon mit nach Hause gebracht! Wo ist das ganze Zeug hin? Hat wohl alles unser Hochkönig eingeheimst!?“

„Nein, natürlich nicht!“, entrüstete sich Loranthus und warf Medan einen tadelnden Seitenblick zu. „Alles wurde euren Kriegsgöttern geopfert!“

„Alles? Alles geopfert?!“

„Alles.“

„Auch die Pferde?“

„Auch die Pferde.“

„Und wieso haben wir welche dabei, meine Schwester mehr als alle anderen zusammen?“

„Ach so, die! Die meisten sind von den Spähzügen, da haben sie ihre erbeuteten Pferde angebunden, sodass sie ausreichend grasen konnten und sie später geholt. Nach der Schlacht hat euer ranghöchster Druide auch bestimmt, dass nur die Pferde geopfert werden, die sowieso schon verwundet waren. Tödlich verwundet, wohlgemerkt! Er sagte, solange er der höchste Druide der Hermunduren ist, wird kein lebendes Wesen geopfert. Es sei denn, es ist dem Tode schon näher als dem Leben.“

„Weise gesprochen …“, lobte Medan und nickte beifällig. „ … und den verwundeten Pferden hat er damit ein gnädiges Ende verschafft. Aber …“ Er kniff die Augen zusammen. „ … wo haben sie alles geopfert? Ich meine, diese ganzen Dinge …“

„Ich weiß schon, was du meinst, Medan“, verkündete Loranthus im Brustton der Überzeugung. „Also, das war so: Die Körper der toten Chatten wurden auf Hochgerüsten angebunden und ihre Köpfe darum auf Pfähle gesteckt, damit sie jeden, der vorbeikommt, an die Schlacht gemahnen. Alles andere haben sie kaputt gemacht und im Moor versenkt.“

„Kaputt gemacht und im Moor versenkt?“

„Ja. Damit das Böse, das die Chatten euch antun wollten, auf sie selbst zurückfällt.“

„Verstehe“, murmelte Medan nachdenklich vor sich hin.

Loranthus betrachtete seinen jungen Freund wehmütig und flüsterte heißer: „Das ganze Moor hat sich rot gefärbt. Ein rotes Moor! Kannst du dir das vorstellen? Selbst als die Leiber der Pferde mit ihrem herrlichen Zaumzeug schon längst untergegangen waren und die verbogenen Schwerter, die zerbrochenen Torques, Streitäxte, Speere, Lanzen, Pfeile, Bögen, Messer, Armspangen, Ringe mitsamt …“

„Ist gut, Loranthus“, sagte Medan schnell. „Denk nicht mehr dran. Schau! Die Bauern beugen sich unter dem letzten Steintor und steigen nacheinander die Stufen zum Heiligtum hinauf. Die ersten Krieger sind schon oben angekommen und stellen sich im Kreis auf.“

„Ihr immer mit euren Kreisen …“

„Du weißt, das ist symbolisch gemeint. Der äußere Kreis ist das Symbol für die Menschen in dieser Welt, der innere Kreis, in diesem Fall von einem Scheiterhaufen gebildet, ist das Symbol für die Seelen der Verstorbenen in der Anderswelt. Es gibt aber noch einen anderen Grund, einen ganz simplen, irdischen: Sie können gleichberechtigt warten, bis Afal das Zeichen gibt.“

„Ach so.“

„Siehst du Afal? Er schreitet gerade mit dem vergoldeten Schädel auf den Scheiterhaufen zu.“

„Ja, ich kann euren obersten Druiden gut sehen. Er hat wieder diesen seltsamen Fellmantel mit den Rabenfedern um, den er schon zu Beltaine getragen hat. König Gort geht neben ihm und dieser Druide … wie heißt er noch mal? Hört sich irgendwie nach Gärtner an … Ach ja! Gardan.“

„Gut gedacht, Loranthus. Jetzt dauert es nicht mehr lange.“

„Aha! Afal winkt! Die Kämpfer treten der Reihe nach in den Kreis und knien sich nieder. Der erste ist Amaturix, danach kommt gleich Viviane.“

„Das liegt an ihrem hohen Rang – Druiden des Drachenbundes. Danach kommen alle, die unter ihnen stehen. Zuerst Wahedon, der erste Krieger. Silvanus wird auch als Krieger geehrt, danach die Handwerker, Dorfvorsteher und die anderen Bauern, als letzte die Sklaven. Kannst du sie gut sehen, Loranthus? Wie sie um Afal knien?“

„Nicht besonders. Ich kann mich aber auch nicht noch weiter zur Seite beugen, sonst falle ich vom Ast. Siehst du es von deiner Warte aus besser, Medan? Was macht Afal mit dem Schädel?“

„Er gießt jedem geweihtes Wasser über die Hände. Natürlich nur ein bisschen. Es ist ja symbolisch gemeint. Das Wasser hat Afal heute Morgen selbst mit seinem Sklaven, Luis, bei Pauline geholt.“

„Den kleinen Luis kenne ich. Aber wer ist Pauline?“

„Pauline ist die Quellgöttin auf dem Uhsineberga.“

„Aha. Ich verstehe. Ihr habt drei Quellen: Pauline oben auf der Burg und die Quellgöttinnen unten im Tal heißen Sünna und Uhsine. Oh! Was macht Gardan dort hinter Afal?“

„Er füllt den Schädel immer wieder nach.“

„Dieser Gardan war auch mit im Tross dabei und kennt sich in eurer Götterwelt aus. Er ist von der Bruderschaft der Wanderdruiden. Ich habe gehört, dass er drei Tage lang eine Geschichte erzählen kann und zwar mit dem exakten Wortlaut, wie sie schon vor zweitausend Jahren erzählt wurde. Stell dir das mal vor! Was der sich alles merken kann!“

„Das ist die Grundvoraussetzung, wenn man ein Druide werden will. Sie nehmen einen nur auf, wenn man ein starkes Gedächtnis hat, sonst braucht man sich gar nicht bewerben. Das beste Buch ist das Gedächtnis und gelehrt macht nicht, was man liest, sondern behält.“

„Tja, wer sein Wissen auf mündliche Art weiter gibt, der muss sich schon auf sein Gedächtnis verlassen können! Das habe ich begriffen, wenn ich auch weiterhin für Aufschreiben bin. Aber was ich absolut nicht verstehe … Gardan besitzt nichts, absolut nichts! Kannst du dir das vorstellen, Medan?! Alles, was er braucht, bekommt er geschenkt. Das wäre kein Leben für mich!“

Medan nickte bedächtig vor sich hin.

„Er muss ein sehr reicher Druide sein.“

Loranthus’ Kopf ruckte herum und er sah Medan an, als würden dem gerade Eselsohren wachsen.

Medan lächelte prompt mit gebleckten Zähnen zurück, in seinen Augen war allerdings Loranthus der Esel, er hatte sogar ein paar Ahornblätter an den richtigen Stellen.

„Na, stell dir doch mal vor, Loranthus: Überall, wo du hinkommst, wirst du mit offenen Armen empfangen. Ausnahmslos alle Menschen schenken dir Essen, Trinken, Kleidung, Unterkunft und sogar das eigene Weib oder die eigene Tochter. Glaube mir, es ist die höchste Ehre für eine Maid, bei einem Druiden zu liegen. Du brauchst dir also in deinem ganzen Druidendasein nie Sorgen machen, ob die Ernte gut ausfällt, ob dein Vieh gesund bleibt, ob dein Haus dem Sturm standhält oder das Dach kaputt geht, oder der Lehm abbröckelt … und nachts wird auch noch dein Lager angewärmt, ohne dass du werben musst. Geschweige, dass du dich um die eventuellen Auswirkungen kümmern musst.“

 

Loranthus überlegte. Ein interessanter Glanz bemächtigte sich seiner Augen und er sah in weite Ferne.

„Wahrlich, das wäre ein göttliches Leben …“, lallte er mit verschleierten Blick, doch plötzlich packte er einen Ast und keuchte: „Ha! Was ist denn das für ein riesiges blaues Feuer?!“

„Genial, nicht war?! Die Flammen züngeln extrem schnell hoch. Afal macht das. Schau genau hin! Sie halten ihre Schwerter oder Messer in die Flammen, schneiden sich damit ein paar Haare ab und werfen sie ins Feuer. Das ist die Buße dafür, dass sie einen Menschen getötet haben.“

„Aha. Und was machen die, die mehr als einen getötet haben? Müssen die sich dann auch mehr Haare abschneiden?“

„Hm, keine Ahnung. Aber wir gucken uns nachher Viviane und Silvanus mal genauer an.“

„Beim Zeus! Jetzt wird das Feuer grün!“

„Ja. Das machen die obersten Götter der Anderswelt, Hall und Ogmios. Sie haben die Opfergabe angenommen und versöhnen nun die unsterblichen Seelen der Getöteten. So finden sie dort ihre Ruhe und kommen nicht mehr mit Rachegelüsten zurück, wenn sie wieder in unsere Welt eintreten dürfen.“

„Das ist gut. Ich hätte mir sonst echte Sorgen gemacht. So ein angriffslustiger Wurm oder eine gefräßige Made sind ja auch wirklich zum Fürchten.“

Medan prustete los.

„Wenn sie als Wildsau wiedergeboren werden, können sie einen richtig arg erwischen.“ Loranthus verzog das Gesicht.

„Daran habe ich gar nicht gedacht. Und wenn ich so recht darüber sinniere, kann auch ein Wurm giftig sein und manch einer ist auch schon an anderen Kleinigkeiten gestorben: verdorbener Fisch, Gräte, Hühnerknochen, Schlangenbiss, Hundebiss … Jetzt liegen alle auf dem Boden.“

„Sie danken Dis und allen anderen Göttern, dass ihre Bitte erhört wurde, besonders aber Hall und Ogmios. Guck, der Schwellenrauch erlischt langsam. Die Schwelle zur Anderswelt kann nun nicht mehr überschritten werden. Gleich kommen sie aus dem Heiligtum heraus.“

„Sag mal, Medan, kann ich eigentlich auch mal euer Heiligtum betreten?“

„Natürlich. Wenn du Afal noch eine Opfergabe für das Nementon mitbringst, führt der dich bestimmt extra lange herum und du kannst jede Opfergabe einzeln betrachten, nebst Erklärung, warum sie dort liegt. Kommst du gegen Abend, schleppt dich Afal vielleicht sogar mit rüber zum Geißkopf. Dort erklärt er dir ganz genau, wie er die Sterne vom Himmel holt und zeigt dir seine Sammlung an Knotenmustern. Wenn du Glück hast, darfst du seine Sternenmuster mit der echten Konstellation vergleichen. Pass also auf, dass du nicht in den See der Weisheit fällst.“ Medan deutete nach vorne. „Sie kommen zurück. Guck mal zum inneren Burgtor, Loranthus! Dort laufen die Opferdruiden mit den jungen Stieren für das Großopfer. Wir können wieder runter. Die Reinigung ist vorbei.“

Als Loranthus, Medan und die andern jungen Leute wieder bei ihren Familien standen, liefen gerade zwei Stiere nacheinander aus dem äußeren Burgtor und steuerten einen Wall aus Gras und Holz mitten auf der Wiese an. Loranthus konnte seinen Blick gar nicht mehr abwenden. Es war eine erhabene Prozession, die er da zu sehen bekam.

Die Stiere waren mit Blumenkränzen geschmückt, ihre langen Hörner mit Efeu umwunden. Sie wurden von je einem niederen Opferdruiden geführt, deren weiße Gewänder einen schlichten Gegensatz zu den prachtvollen Stieren bildeten. Dahinter liefen Afal, König Gort, Gardan und die Kämpfer in Zweierreihen. Medan und Loranthus sahen Wahedon, Silvanus, Oen, Harthu, Arminius, Tarian, Conall, Zanadu, Hirlas, Wadi, Rivu, Nion, Susanne, Ria, Beth … über die Wiese schreiten, doch ihr besonderes Augenmerk galt Viviane. Sie hatte nicht mehr diesen schweren Schritt wie vorhin, sondern ging aufrecht und würdevoll neben Amaturix. Und ihr wallendes Mahagonihaar war noch genauso üppig wie vorher.

Die Stiere machten vor dem Wall halt, der fast mannshoch über die Wiese ragte. Die Kämpfer stellten sich im Halbkreis darum, der restliche Clan postierte sich gegenüber und vollendete den Kreis. Loranthus stand ganz still zwischen Hanibu und Medan, erwartungsvoll beobachtete er Afal.

Er hatte immer noch diesen exotischen Mantel aus Tierfellen und Rabenfedern an und wenn sein Kopf nicht eindeutig menschlich gewesen wäre, hätte er auch ein skurriles Wesen aus der Anderswelt sein können. Wie zu Beltaine reichte er auch diesmal jedem Tier aus einer goldenen Schale eine Hand voll Kräuter und machte mit seinem Daumen das Zeichen der vier Himmelsrichtungen auf ihrer Stirn. Mit sanfter, aber kraftvoller Stimme bedankte er sich bei ihnen, weil sie ihr Leben gaben. Seine letzten Worte waren kaum verklungen, da legten sich die Stiere auch schon ins Gras. Schnaufend schlossen sie die Augen.

Vollkommene Stille trat ein. Afal breitete die Arme aus, senkte sie herab zur Erde und schwang sie hinauf zum Himmel. Alle knieten nieder.

„Allmächtige Götter! Wir, die Nachkommen des stolzen Cernunnos danken euch. Ihr habt uns in der Not beschützt, unsere Waffen gelenkt und uns den Sieg über die beschert, die den Frieden nicht ehren, den ihr uns gelehrt habt. Nirgends werden die Bitten von uns Sterblichen so nahe vernommen wie hier, wo durch eure Huld das weiße Gold entsteht und deshalb bitten wir euch: Nehmt unsere toten Gefährten in allen Ehren in der Anderswelt auf und gebt ihren unsterblichen Seelen Ruhe und Frieden. Lasst sie wieder eintreten in diese, unsere, Welt, wenn ihr es denn wollt und wacht mit eurer göttlichen Macht über den ewigen Kreis unser aller Sein, hier und immerdar. Ihr Götter! Dieses Großopfer soll euch beweisen, wie sehr wir eure Gunst achten und begehren. Wir bitten euch: Nehmt unser Opfer wohlwollend an.“

Afal hob sein Hirschhornmesser zum Himmel und drehte sich mit ausgestreckten Armen um seine Achse. Würdevoll, ja sogar anmutig, schnitt er damit den Stieren die Halsschlagadern auf; betäubt von den Kräutern, merkten sie es nicht mehr.

Ihr Blut wurde von den niederen Opferdruiden aufgefangen und in große bronzene Kannen geschüttet, deren Ausgüsse wie Hirschköpfe geformt waren, die Henkel wie Geweihe. König Gort und Afal nahmen die Kannen entgegen, stellten sich Rücken an Rücken und hoben sie feierlich zum Himmel. Dann gingen sie in entgegengesetzte Richtungen und gossen den Inhalt im Kreis um den Wall, bis der letzte Tropfen geopfert war. Als sie zusammentrafen, ließen sie die Kannen erneut füllen und hoben sie wieder zum Himmel. Drei mal umrundeten sie so den Opferplatz und es entstanden drei rote Kreise.

Den Stieren wurden nun die Köpfe abgetrennt. Auch das machte Afal selbst und Loranthus stellte fest, dass es ihn gar nicht störte, so nahe dabei zu stehen. Es waren ja auch keine Menschenköpfe, die auf den Wall gelegt wurden. Aber es wirkte schon irgendwie grotesk, wie die Stierköpfe von der Erhöhung herabsahen, der eine nach Osten, der andere nach Westen. Blumen und Efeu waren so üppig, dass es nicht nur den gesamten Wall bedecke, sondern auch noch bis ins Gras hinab rankte.

Loranthus überlegte, wie es wohl von oben aussehen musste, aus der Sicht der Götter. Er kam zu dem Schluss, dass es auf sie wirken müsste wie ein abstraktes Blumengebinde. Seltsam belustigt richtete er seinen Blick wieder auf die irdischen Dinge.

Die Opferdruiden häuteten die Stiere, schnitten lange Fleischscheiben ab und legten diese in große Holzbottiche. Alles wurde mit einer dünnen Schicht Salz und Kräuter bedeckt, darauf folgte die nächste Lage Fleisch. Herzen und Lebern wurden ebenfalls geschnitten und gewürzt, kamen aber in kleinere Bottiche. Die Mägen der Tiere wurden mit Speck und Blut gefüllt und verknotet, die restlichen Eingeweide waren für die Hunde. Jetzt blieben nur noch die Gerippe übrig. Sie wurden in mehrere Kessel verteilt und zu Holzstößen getragen, die etwas abseits aufgeschichtet waren. Nun war von den Stieren alles da, wo es hingehörte.

Loranthus kam nicht umhin zu bemerken, wie sauber der Platz am Ende aussah.

Afal schabte einen Feuerstein über sein Feuereisen und ließ gekonnt die Funken in das trockene Gras spritzen. Schon qualmte es und die Boten begaben sich von Mutter Erde zu Vater Himmel. Bald entschwand der Rauch, dafür brannte nun der ganze Wall lichterloh und lockte die Götter herbei zum Opferschmaus.

Afal hielt eine Fackel ins Feuer und reichte sie König Gort. Der lief damit von einem Holzhaufen zum nächsten und zündete sie an.

Als wäre dies eine Aufforderung, gingen alle Clanmitglieder an den Bottichen vorbei und nahmen sich Fleischscheiben, die Stücken von Herz und Leber waren allerdings den Kriegern des Königs vorbehalten.

Nach Dörfern geordnet setzten sie sich um die Feuer, steckten das dünne Fleisch wellenförmig auf bereitliegende Spieße und hielten es in die Flammen.

Loranthus wartete darauf, dass seine Scheibe gar wurde und lugte nebenbei in den Kessel, der an einem Dreibein über dem Feuer hing. Morgen würde es also Fleischbrühe geben. Lavinia schien seine Gedanken zu erraten, sagte aber nichts, sondern lächelte nur. Bis auf schwaches Babygeschrei war auf der gesamten Wiese kein Laut zu hören. Abrupt verstummte auch dieses Geräusch, alle warteten.

Arminius drückte sein Fleisch prüfend zwischen den Fingern und nickte zufrieden. Bedächtig schnitt er die Hälfte ab und warf sie ins Feuer. Es zischte kurz auf, teilte sich, und schon schlugen die Flammen wieder zusammen, züngelten gierig empor. Arminius schob seinen Spieß in die Erde, ging auf die Knie und legte die Hände flach auf die Wiese. Alle taten es ihm nach, auch Loranthus und Hanibu.

„Heilige Mutter Erde, du gibst uns das Leben, du gibst uns Nahrung, du gibst uns Unterkunft, du gibst uns Heilung, du gibst uns alles, was wir brauchen und dafür danken wir dir. Wir achten dich und wir ehren dich, solange unsere unsterblichen Seelen im großen Kreis existieren. Aber du bist auch die Mutter aller anderen Wesen: aller Tiere, aller Pflanzen, allen Seins auf Erden. Deshalb: Vergib uns. Wir haben gegen unsere Brüder und Schwestern gekämpft. Wir haben sie verletzt und getötet und sie taten uns das Gleiche an. Ich weiß, wir alle, ob Götter oder deren Kinder, sind der Allmacht unterworfen, und natürlich bin ich froh, dass wir den Sieg errungen haben und unser göttliches Erbe verteidigen konnten. Doch ich bin kein Krieger und kein Druide und kein König, ich bin Bauer. Deshalb, ehrwürdige Mutter, erhöre meine Bitte: Lass mein Blut nie wieder gegen deine Kinder kämpfen und wenn es doch sein muss, hilf. Hilf den Gerechten.“

Loranthus zog nachdenklich die Stirn kraus. Nicht weil Arminius diese sanftmütige Einstellung demonstrierte – als objektiver Grieche hatte er schon längst begriffen, dass nicht alle Keltoi rauflustig waren; das traf nur für die Krieger zu und auch da nicht bei jedem. Nein, er wunderte sich, weil er diese Bitte an Mutter Erde noch nie gehört hatte. Was meinte er denn mit ‚hilf den Gerechten‘? Sollten sie möglichst schnell den Sieg erringen, damit Menschenleben verschont wurden? Und wenn doch einer von den Gerechten starb? Sollte Mutter Erde den gut in sich aufnehmen, damit er ein friedvolles Dasein in der Anderswelt führen durfte? Wie war das dann bei den ‚Ungerechten‘, die besiegt werden sollten? Wenn die nur gezwungenermaßen kämpften und ihre bösen Taten bereuten – gehörten sie dadurch zu den Gerechten? Wer richtete darüber?

‚Gerechte‘, ‚Gerichtete‘ … so oder so, oder alles zusammen – sonst sprach Arminius immer eine andere Bitte vor dem Abendbrot. Aber eigentlich war das hier ja auch kein Abendbrot. Dafür war es viel zu früh. Dieses Großopfer war also etwas ganz Außergewöhnliches. Das gab es scheinbar nur deshalb, weil die Kämpfer siegreich aus der Schlacht heimgekehrt waren, genau wie es Madite prophezeit hatte.

Loranthus sah zu Madite, die mit König Gort, Amaturix, Afal, seinem Weib Fea und Gardan am Feuer saß, da schossen plötzlich grüne Flammen aus dem Opferwall empor. Afal hob sein Horn und stieß drei Mal hinein, dass es laut über die gesamte Wiese schallte. Alle erhoben sich, streckten ihre Hände zum Himmel, jubelten, klatschten und hüpften hoch, so sehr freuten sie sich. Medan nickte ihm bedeutsam zu: Die Götter hatten ihr Opfer wohlwollend angenommen. Jetzt fehlte nur noch die ausgelassene Feier, dann würde Madite mit einem Teil ihrer Weissagung zu Beltaine schon mal recht gehabt haben.

 

Als wären seine Gedanken erhört wurden, erklang von Ferne Musik. Loranthus drehte sich um, und sein Herz machte einen Freudensprung. Sein Körper hüpfte hinterher, auf seiner Haut knisterte es, in seinen Adern loderte es auf und von seinem Kopf bis zum Fuß begann sein ganz persönliches Freudenfeuer zu prasseln.

Elektra erschien im Burgtor.

Neben ihr gingen Königin Elsbeth und davor der Barde, der sich ihrem Tross angeschlossen hatte. Kablitu hieß er und war ein guter Freund von Lew, dem Barden des Hirschclans. Lew war ja auch gerade auf Wanderschaft durch das Großkönigreich und hatte sich König Ebu vom Hermannsberg im Thuringer Wald angeschlossen, wo er schon vor der Schlacht zu Gast gewesen war.

Auch Kablitu beherrschte sein Spiel auf der Leier perfekt; Elektra und Königin Elsbeth tänzelten zu seiner Melodie über die Wiese Richtung Opferwall. Es sah so aus, als wären ihre Bewegungen vorgegeben, denn sie machten immer genau drei Schritte nach rechts vorne, drehten sich um sich selbst und machten darauf drei Schritte nach links vorne. Es war kein einziger Sprung dabei und als sie näher heran gekommen waren, wusste Loranthus auch, warum. Sie hielten große Weidenkörbe. Aus denen warfen sie bunte Blütenblätter heraus und verstreuten sie im Kreis um den Opferwall und um alle Leute an den Feuern. Anmutig setzten sie sich zu König Gort und Amaturix, die ihnen Spieße reichten; Afal blies in sein Horn und schwenkte den seinen auffordernd durch die Luft.

Jetzt konnten alle mit dem Essen beginnen.

Nach der ersten Scheibe holten sie sich neue. Die Sklaven teilten Met für die Erwachsenen, Tee und noch etwas anderes für die Kinder aus. Auch für die Erwachsenen hatten sie ein zweites Getränk in den Fässern und Loranthus ließ sich nicht lange bitten, es einmal zu probieren.

„Mmmh, das ist einfach köstlich! Euer Birkensaft zu Beltaine war schon wunderbar, aber das hier …“ Loranthus schmatzte genüsslich. „ … mmmh. Was ist das, Arminius?“

„Elder.“

„Was für’n Zeug?“

„Du kannst auch Holunder sagen. Wenn der Hollerbusch blüht, machen wir davon einen Sud und geben reinen Alkohol dazu. Schmeckt gut, nicht wahr?“

„Oh ja, daran könnte ich mich gewöhnen. Richtig lieblich und süffig.“

„Süffig, garantiert! Wenn es dir in den Kopf steigen sollte, es gibt auch Eldersud für die Kinder. Der wird aus Blüten, Wasser, Honig und Essig gemacht, schmeckt herrlich erfrischend und dreht den Kopf nicht schneller als man tanzen kann.“

„Tanzen, Elder ohne Alkohol, muss ich probieren“, murmelte Loranthus, schnupperte fasziniert an seinem Horn und sah zu Elektra hinüber. Sofort verschleierte sich sein Blick, als hätte er schon ein halbes Fass Elder intus.

Arminius griente Flora an, die nickte Großmutter Mara zu, Viviane und Lavinia kicherten und flatterten mit den Händen, als wollten sie fliegen lernen … Loranthus nahm nichts davon wahr.

Er schlürfte langsam aus seinem Horn und merkte nicht einmal, wie Bewegung in die Leute kam. Sie gingen umher, setzten sich an andere Feuer, redeten, lachten, tranken sich zu … der Barde spielte auf seiner Leier, andere Musikanten zückten ihre Instrumente, Lavinia füllte sein Horn mit Elder ohne Alkohol auf, Kinder fassten sie an den Händen und hüpften jauchzend zwischen den Feuern hindurch … „Ich freue mich, Loranthus, dich wohlbehalten wiederzusehen.“

Loranthus rieselte es heiß den Rücken runter.

Hastig drehte er sich zu Elektra um, die ihm die Hand auf die Schulter gelegt hatte und sich ganz ungezwungen neben ihn setzte. Wie war sie unbemerkt hinter ihn gekommen? Er hatte sie doch die ganze Zeit angestarrt!

„Elektra!“, krächzte er. „Wie bist du …?“ Er fuhr sich verlegen durch die Haare. „Die Freude ist ganz auf meiner Seite. Deine Eltern haben mir schöne Grüße für dich aufgetragen. Sie waren sehr freundlich zu mir. Besonders deine Mutter und deine Großmutter Dana. Schau mal, das habe ich für dich geschnitzt, als ich bei ihn … äh … Großmutter Dana war.“

Bloß gut, dass er diese Begrüßung schon geübt hatte. So kam es fast fehlerlos über seine Lippen, nur ein bisschen zu eilig. Betont ruhig nahm er ihre Hand und legte ein kleines geflügeltes Pferd hinein. Mutig gab er sich einen Ruck, umarmte sie und hauchte ihr dabei rechts und links einen Kuss auf die Wange.

Elektra tippte auf das Holzpferdchen und zog ein vorwurfsvolles Schnutchen.

„Aber, Loranthus! Das kann ich doch nicht annehmen!“

Loranthus legte sich ins Zeug.

„Es ist nur eine Kleinigkeit! Klein, im wahrsten Sinne des Wortes!“ Er winkte ab. „Einer Königstochter nicht würdig, ich weiß. Aber Königin Birgie, also deine leibliche Mutter, meinte, du liebst phantastische Wesen und würdest dich darüber sehr freuen.“

Eigentlich hatte Königin Birgie ihm das Lindenholz zum Schnitzen gegeben, damit er aufhörte, vor Aufregung an seinen Fingernägeln zu kauen. Die untätige Wartezeit bis zur Schlacht hatte ihn dermaßen hibbelig gemacht, dass sie ihn vor die Wahl stellte: entweder Baldrian oder Schnitzen. Wenn er kein Fernrohr ans Auge gedrückt hielt, hatte er also das Holz statt seiner Nägel bearbeitet. Und siehe da! Königin Birgie war mit seinen ordentlich gestutzten Fingernägeln zufrieden und von dem geflügelten Pferdchen richtig beeindruckt. Darum hatte sie ihm auch ein schmales Lederband gegeben, damit er daraus einen Anhänger machen konnte.

Elektra sah ihn schelmisch an und zog sich den Anhänger über den Kopf.

„Da hat meine Mutter recht, aber trotzdem …“ Sie tippte sich tadelnd an den Hals.

„Nein, Loranthus! Ich kann wirklich nicht annehmen, dass das schon alles war!“

Loranthus sackte in sich zusammen und betastete den fast verheilten Schnitt am Daumen. Waren seine Mühen also doch umsonst gewesen. Vielleicht hätte er ihr lieber die Lilien schenken sollen, die ihm auf dem Weg zur Burg so gefallen hatten? Aber dieser Schmollmund …

Elektras azurblaue Augen blickten vorwurfsvoll, sie schniefte, ihr Mund zuckte, prustend warf sie sich auf ihn, wühlte ihre Lippen in seine und schob ihre Zunge verlangend hinterher. Loranthus riss die Augen auf, bewegte nichts – außer seine Zunge – und hielt sie sachte umschlungen. Gleichzeitig versuchte er, ihrem Druck standzuhalten und nicht umzukippen; seine Bauchmuskeln zitterten, Elektra schnurrte. Es dauerte eine Ewigkeit, bis sie ihren Mund löste. Sofort huschten ihre Lippen an sein Ohr und ihr heißer Atem trieb ihm wohlige Schauer vom Genick bis sonst wohin.

„Ich kann wirklich nicht annehmen, dass deine steife Rede schon alles war!“ Feixend biss sie Loranthus ins Ohrläppchen und ihre Hand rutschte an seinen Bauch hinunter. „Hmmm, schon besser. Das ist ja wohl eher die richtige Stelle dafür. So möchte ich ab sofort immer von dir begrüßt werden. Das ist einer Königstochter würdig.“

Loranthus japste. Ohne Gegenwehr ließ er sich von Elektra umdrücken und ergab sich stöhnend in sein Schicksal: Einer Königstochter musste man jeden Wunsch erfüllen. Das hatte sie ihm ja schon zu Beltaine im See erklärt.

Seine Sklavin Hanibu tanzte derweil mit Medan um die Feuer. Vor ihnen hüpften Viviane und Silvanus, Nora und Harthu, Susanne und Hirlas. Viviane drehte sich zu Hanibu um, deutete zwinkernd auf das Knäuel neben ihrem Feuer und flatterte wieder mit den Händen, als wolle sie fliegen. Sie grienten sich alle an; ihr Tanz wurde noch ausgelassener.

Bis in die Nacht hinein wurde getanzt, getrunken, gegessen, gelacht, erzählt … als die Sonne aufging, lag der ganze Clan über die Burgwiese verstreut, paarweise oder in Gruppen.

Die Kinder schliefen zusammen innerhalb der Feuer. Die Nacht war mild, sodass sie eigentlich keine zusätzliche Wärme gebraucht hätten, aber die Mitte gab ihnen einen besseren Schutz. Ihre Eltern, Großeltern und erwachsenen Geschwister waren vom Fest zwar noch benommen, doch der eine oder andere hätte es bestimmt bemerkt, wenn sich ein Raubtier angeschlichen hätte.