Der mondhelle Pfad

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Sein und Schein

Am nächsten Tag schlenderte Loranthus mit Silvanus und Ethmanja durch das Lager. Er war überwältigt, was er alle paar Schritte auch kund tat − besonders, wenn er einer Horde spielender Kinder aus dem Weg springen musste, um nicht umgerannt zu werden. Bei der ersten Begegnung hätte er dabei fast ein Zelt eingerissen und bekam doch tatsächlich sofort ein Honigbrot gereicht, weil er es nicht geschafft hatte. Strahlend nahm er seine Abfindung entgegen und machte sich mit vielen Dankesworten auf den Rückzug. Silvanus durfte auch einmal abbeißen, das meiste bekam allerdings Ethmanja. Loranthus konnte ihren bettelnden Hundeaugen einfach nicht widerstehen und außerdem war er noch vom gestrigen Rundgang voll bis Oberkante Unterlippe.

Es dauerte jedoch keine halbe Wegstunde, da war alles abgesackt und sein Magen knurrte laut und vernehmlich, er solle beim nächsten Schwung Kinder was zu Essen ergattern, sonst wäre es mit der Ruhe vorbei.

Die passende Gelegenheit bot sich recht schnell, leider ging er da gerade an einer Brombeerhecke vorbei.

Das hatte allerdings auch seine Vorteile, nun lernte er endlich den Dreiecksprung. Den kannte er bisher nur vom Hörensagen, im Gegensatz zu Honigbroten. Zu seiner eigenen Verwunderung kollidierte er weder mit Dornen, noch mit Kindern − er war eben ein Naturtalent.

Bei den Halbstarken funktionierten die Ausweichmanöver schon gesitteter und vor allem gefahrloser. Sie grüßten ordentlich und warfen ihnen interessierte Blicke zu, während die Maiden nebenbei kicherten und die jungen Männer abschätzend ihre Gestalten musterten.

Als Loranthus sich dessen bewusst wurde, drückte er die Brust raus, wobei sich sein Bauch automatisch straffte, und gaffte genauso zurück. Solche Begegnungen hatten allerdings auch ihre Tücken, denn er musste ja noch Luft holen und dann stimmten die Proportionen irgendwie nicht mehr.

Erwachsene Männer und Frauen bedachte er daher mit einem erwachsenen Kopfnicken ohne Extras, und wenn sie jemanden trafen, den sie kannten, brauchte er sich gar keine Mühe mehr geben, da lag nämlich der Wert auf einem kurzen Schwätzchen.

Sie kamen also in etwa so schnell voran wie eine Schnecke mit Atemnot, Ethmanja gähnte immerzu.

Etwa sechstausend Menschen waren zusammengekommen. Solche Massen brauchten natürlich auch massenhaft Platz, aber es herrschte trotzdem eine gewisse Ordnung.

Das Viehzeug weidete auf weiträumigen Wiesen, die von Beerensträuchern begrenzt wurden. Die Pferde hatten Weiden gleich beim Lager der Könige. Schlachtvieh und das Vieh zum Tausch wurde abseits gehalten, damit es keine Verwechselungen gab. Milchkühe standen auf den nächstgelegenen Weiden, genau wie die Gehege der Hühner. Das Federvieh wurde sogar durch ein dichtes Weidengeflecht abgeschirmt, als Schutz vor Raubvögeln. Für zusätzliches Futter türmten sich überall noch Heuhaufen, die auf der Festwiese und im Stadion abgemäht worden waren.

Aber nicht nur das Vieh, sondern auch die Menschen hatten für jedes ihrer Bedürfnisse gesonderte Plätze.

Wenn man zum Abort wollte, musste man ein Stück die Werra entlang laufen. Dort gab es für jeden Lagerabschnitt überdachte Senkgruben mit einem Holzgestell darüber, eine simple Konstruktion, aber es tat seinen Zweck. Ab und zu würde dort die Asche aus den Feuerstellen darüber gestreut werden. Das neutralisierte den Geruch.

Ins Zelt ging man eigentlich nur, wenn man sich hinlegen wollte. Das gesellige Beisammensein spielte sich draußen ab, anfallende Arbeiten wurden gemeinsam erledigt.

Gegessen wurde auf dem riesigen Festplatz zwischen See und Stadion. Dort reihten sich auch die Backöfen, Feuerstellen mit Dreifüßen und Kupferkesseln darüber und allem anderen, was man für die Verpflegung brauchte, sogar eine Schmiede mit richtigem Blasebalg, falls mal jemandem sein Essmesser abbrach. Jeder Bereich wurde durch Sträucher voneinander abgegrenzt, die voller Johannisbeeren, Stachelbeeren und Brombeeren hingen.

Aus jedem Königreich waren ein Dutzend junge Leute ausgelost worden, die hier tagelang Gras gemäht, Holz gemacht, Senkgruben für den Abort ausgehoben, Backöfen neu gebaut oder repariert und Gatter in Stand gesetzt hatten. Natürlich hatten sie auch die Wettkampfstätte hergerichtet und auf der Rennbahn Unmengen an Erde glattgezogen, um Stolperstellen einzuebnen.

Loranthus war etwas neidisch gewesen, dass er nicht als Helfer ausgewählt worden war, tröstete sich jedoch damit, dass keiner aus seiner Gastfamilie früher hier war als er.

Dafür begutachtete er nun wie ein Oberaufseher höchst akribisch das Resultat anderer Leute Arbeit, doch wo er auch hinsah, machte alles einen ordentlichen und gepflegten Eindruck.

Sogar die Zelte waren hinter den Apfelbäumen in einer Linie zur Handelsstraße ausgerichtet, als wären sie zur Parade angetreten. Dieser Vergleich drängte sich ihm förmlich auf.

Es gab kleine Zelte, große Zelte, breite Zelte, lange Zelte, meist mit zwei Spitzen, manchmal auch mit einer im Zentrum und vier, fünf, sechs, sieben oder vielleicht auch acht niederen Spitzen − da konnte man sich schon mal verzählen − und natürlich gab es auch welche in einfacher Kegelform. Aber wie sie auch gestaltet waren, immer war der Zelteingang zurückgeschlagen. Als Einladung einzutreten?

Da er nicht zu neugierig erscheinen wollte, entschied er sich für einen langen Hals.

Mit Kennerblick stellte er fest, dass bei vielen die Zeltstützen Schnitzereien aufwiesen und die Leinwände sogar mit Ornamenten oder Bildern bemalt waren, eines schöner und auffälliger als das andere. Schmucklose Holzstützen und einfarbige Leinwände gab es natürlich auch. Diese erstrahlten allerdings auf Hochglanz poliert, beziehungsweise in allen möglichen Farbgebungen.

Der Hirschclan konnte, zum Beispiel, mit so einem herrlich satten Grün aufwarten, welches jeden Vorbeieilenden automatisch in seinen Bann zog. In diesem grünen Bereich gab es noch eine Besonderheit, sie hatten nämlich ein Arzt-Zelt, selbstverständlich auch in Grün. König Gort hatte es Viviane geschenkt und höchst persönlich mit aufgestellt. Es war das größte Zelt im gesamten Lagerabschnitt und hatte exakt zwei Dutzend Stützstreben, Loranthus hatte nachgezählt. König Gort hatte ein größeres, aber nur unwesentlich viel.

Im Lagerabschnitt der Könige hätte jeder Juwelenhändler seine wahre Freude gehabt. Hier prunkten die Zelte ganz und gar noch mit eingelassenen Edelsteinen im Schnitzwerk der Stützstreben und wehenden Standarten in Gold und Silber am Eingang.

Der gesamte Bereich schillerte schon von Weitem in der Sonne und Loranthus brummte zufrieden, als er das grüne Zelt von König Gort und den Hirsch auf der Standarte silbern schimmern sah. Gegen die anderen wirkte es eher schlicht, doch für das Auge war es eine Wohltat. Und so blieben auch hier viele Leute stehen und hefteten ihre Blicke darauf. Je länger man hinsah, desto besser erkannte man ein filigranes Muster aus Silberfäden in der Zeltleinwand, die ein Rudel Hirsche und Jagdszenen darstellten. Wer im Hirschclan konnte so kunstvoll weben? Loranthus seufzte tief, drehte sich hierhin und dorthin und überlegte.

Es war eine Frage des Prestige, eindeutig. Alle Königreiche kamen zu Lugnasad zusammen und zeigten sich von ihrer besten Seite. Wenn sie vor jedem Clan ein Schild aufgestellt hätten ‚Wir sind wohlhabend, einflussreich und imponierend‘, hätte es nie im Leben denselben Effekt gehabt. Die wehenden Standarten vor den Zelten vermittelten auch noch den Eindruck eines skurrilen Tierasyls. Die normalen Bilder von Löwe, Hirsch, Bär, Falke, Gans, Hase, Hahn, Huhn, Hund, Luchs, Pferd, Stier, Taube, Widder und Zaunkönig flatterten zusammen mit den abnormalen Varianten als wäre dies hier der Treffpunkt, um sich zu kreuzen und noch ein paar weitere fantastische Gattungen hervor zu bringen, Hauptsache alles strahlte und funkelte in den sattesten Farben; je glamouröser, desto besser.

Diese Hermunduren protzten doch wirklich mit allem, was sie hatten.

Natürlich hatte sich auch jeder mit Schmuck behängt.

Fibeln, Broschen, Ketten, Armreifen, Handreifen, Fußreifen, Fingerringe oder Ohrringe in Kupfer, Bronze, Messing, Silber, Gold, Holz, Horn oder Glas mit Perlmutt, Bernstein, Koralle, Emaille oder Edelsteinen im Farbspektrum von Kristall bis Onyx … Man musste richtig blinzeln, um überhaupt noch ihre verschiedenen Torques zu erkennen, so sehr gleißte es in der Sonne.

Eine Frau schleppte sogar einen kleinen Hund mit einem breiten Halsband aus aufwendig verflochtenen Kupfersträngen mit sich herum. Vor lauter Windungen, Schlingen und Knoten war der Hund kaum noch zu erkennen, da musste man schon genauer hinsehen, was Loranthus auch tat, weil sie genau auf ihn zukam.

Ihr Blick war der eines Milans, der einen frei laufenden Hahn gesichtet hatte. Loranthus konzentrierte sich auf ihren Hals, um die Gefahr besser einzuschätzen und gab seinem eingezogenen Kopf gleich Entwarnung.

Sie hatte einen besonders dicken Torques, aber nur aus drei gedrehten Kupfersträngen. Ihre Augen huschten mehrmals an ihm hoch und runter, bis sie sicher gehen konnte, dass er weder Schmuck noch Torques vorzuweisen hatte. Da stolzierte sie an ihm vorbei, als hätte sie einen Stock verschluckt und kraulte den Hund oder das Halsband, was ja dasselbe war.

Ethmanja gähnte ihr gelangweilt hinterher, doch Loranthus war über ihr Gehabe eher belustigt. Er nickte sogar anerkennend, schließlich war sie die erste, die einen Stelzgang perfekt imitieren konnte und das wohlgemerkt ganz ohne Hilfsmittel. Daher kam er lautstark zu der Erkenntnis, dass sie in einem früheren Leben ein Storch gewesen sein musste. In diesem Leben war sie jedenfalls das Weib eines Händlers, erfuhr er von Silvanus in der gleichen Lautstärke.

 

Prompt sah er ihr lange nach und rümpfte die Nase.

Ihre aufgetürmten roten Haare sollten wohl römisch oder griechisch wirken und waren garantiert gefärbt, wahrscheinlich mit derselben Farbe wie ihr Mund und ihre Wangen. Ihr dunkelrosa Kleid war auch nichts Besonderes. Da gab es viel schönere in leuchtenden Farben, mit komplizierten Brettchenwebkanten am Saum und mit Blumen bestickt … Sogar er trug ein kurzärmeliges Hemd, bestickt mit Misteln. Flora hatte es ihm genäht. Zum einen schmeichelte es seiner schlanken Figur, zum anderen passte es so schön zu seinem Namen. Der bedeutete ja schließlich auch Mistel.

Sichtlich mit sich selbst zufrieden, schlenderte Loranthus an den Backöfen vorbei, erschrak und duckte sich hinter Silvanus.

Da kam dieser furchteinflößende König Donar mit noch einem König, den er nicht kannte, genau auf sie zu.

König Donar war wieder an jeder freien Stelle mit Schmuck behängt, die goldenen Bartperlen schaukelten bei jedem Schritt und machten aus seinem Wuschelbart einen roten Sternenhimmel. Vielleicht bildete sich Loranthus das nur ein, aber eine der Bartperlen war gar nicht golden, sondern aus roter Koralle und die goldenen Perlen drum herum bildeten das Sternbild des Skorpion. Leider oder zum Glück tat ihm König Donar nicht den Gefallen und blieb stehen.

Der König, der ihn begleitete, trug seinen braunen Bart zu zwei langen Zöpfen geflochten, was keine Sterndeuterei zuließ, aber dafür hübsch ordentlich aussah. Am Ende eines jeden Zipfels hing eine lange Perle aus Horn mit eingelassenen Kristallen, wie Regentropfen, die an einem verharzten Baumstamm funkelten.

Als Loranthus seinen Blick davon losgerissen hatte, bemerkte er daneben noch einen jungen Mann mit welligen, rotbraunen Haaren bis hinab zu den Hüften. Diese Mähne, sein Gesicht und besonders die Augenpartie erinnerte ihn irgendwie an Viviane. Er hatte sogar die gleiche Gestalt und den gleichen geschmeidigen Gang wie sie.

Loranthus konnte sich nie so recht entscheiden, ob Viviane nun eher wie ein Reh oder wie eine Löwin ging, denn anmutig und effizient passte ja bei beiden, tödlich nur zu letzterem. Bei diesem jungen Mann war es ebenso, mit leichter Tendenz zum Löwen wegen des Bartwuchses.

Wie die Könige trug auch er einen goldenen Torques, aber ansonsten nur Schmuck aus Holz, der jedoch derart filigran gefertigt war, dass Loranthus fasziniert die Augen aufriss. Auf den breiten Armreifen konnte er Jagdszenen erkennen und seine einzige Bartperle hatte die Form eines Baumes, wobei winzige Smaragde die Blätter darstellten. Es war eindeutig eine Buche.

Plötzlich huschte Loranthus die Erkenntnis wie ein heller Blitz durch den Kopf: Der andere König war Eburix und der junge Mann musste sein Sohn sein.

Bei allen dreien blitzten die Schwertscheiden, als würden sie den ganzen Tag nichts anderes tun, als sie zu polieren. Jeder hatten je zwei Hörner in den Gürtelschlaufen stecken und Loranthus fragte sich gerade, warum nicht eines zum Trinken reichte, da sah er noch eine Doppelaxt bei jedem an der Seite.

Doppelt und dreifach, das war zu viel.

Im Affekt packte er Silvanus und wollte ihn weg zerren, doch der zog zurück, so dass er eine unfreiwillige Verbeugung machte. Auch Silvanus verneigte sich tief, aber gewollt, und schon waren die drei an ihnen vorbei. Sie riefen sogar ein dreistimmiges „Seid gegrüßt, Silvanus und Loranthus!“, womit Loranthus absolut nicht gerechnet hätte.

Er war darüber so verdutzt, dass Silvanus ihnen alleine hinterher rief: „Auch wir grüßen euch, Donarrix, Eburix und Hermann.“

Loranthus lugte ihnen hinterher und hätte schwören können, dass auf den Äxten die Todesgöttin in Dreiergestalt eingraviert war. Jede hatte einen Raben auf der Schulter sitzen und hob ein Signalhorn an den Mund.

„Nichts wie weg hier“, murmelte er, als die drei außer Hörweite waren und wollte sich über den Weg in Sicherheit bringen. Doch er musste warten und sich schon wieder verneigen, denn jetzt kreuzte Aodhrix seine Bahn.

Auch dieser König hatte seinen dunkelbraunen Bart zu zwei langen Zöpfen geflochten und die Zipfel mit zwei riesigen Diamanten verziert. Loranthus musste richtig die Augen zusammen kneifen, so sehr funkelten sie im Takt seiner schnellen Schritte. Dazu bildeten Bart und Perlen noch einen interessanten Kontrast zu den seltsamerweise kupferroten Haaren, die ihm offen vom Scheitel bis zu den Hüften reichten und beim Gehen anmutig nach hinten wehten.

‚Charismatisch‘ war das einzige Wort, das Loranthus zur Erscheinung von Aodhrix wirklich passend erschien, inklusive ‚intelligent‘ und ‚durchsetzungsstark‘, was seine Augenbrauen und die Augen verrieten, die genauso dunkel wie der Bart waren; auch seine Nase machte einen geradlinigen Eindruck.

Summa summarum hatte Aodhrix eine total autoritäre Ausstrahlung und als ob das nicht schon genug wäre, besaß er noch etwas ganz Außergewöhnliches: Er hatte einen besonders langen knorrigen Stab in der Hand, um den sich eine Schlange mit einer Zeichnung aus Runen wand.

Natürlich waren Stock und Schlange nur geschnitzt, die Runen ins Holz eingebrannt, doch Loranthus fragte sich, ob er ihn zum Laufen brauchte, zum Lesen oder ob er anderen Zwecken diente, denn hinter ihm ging eine ganze Reihe Kinder, der Größe nach geordnet, im Gänsemarsch. Sie sahen sich zwar aufmerksam nach allen Seiten um, aber keiner sagte ein Wort.

Das konnte nicht mit rechten Dingen zugehen.

Alle trugen einen geschlossenen goldenen Torques um den Hals. Nur beim letzten Kind war es anders, der Kleine hätte auch noch mit den Schultern durchgepasst.

Loranthus nickte der Gruppe hinterher.

„Ich wusste gar nicht, dass es auch ruhige Kinder gibt?“

„Keine Sorge! Nur, weil es Königskinder sind, können sie genauso toben und schreien wie die anderen.“

„Ist mir irgendwie entgangen“, konsternierte Loranthus und steckte sich den Finger prüfend ins Ohr.

Silvanus lachte.

„Sie wissen natürlich, wie sie sich zu benehmen haben, wenn sie mit dem ranghöchsten Druiden des gesamten Großkönigreiches unterwegs sind.“

„Aha! Ich verstehe. Und ich dachte schon, es liegt an dem großen Stock, den Aodhrix so kraftvoll bei jedem Schritt niedersausen lässt.“

Silvanus prustete los.

„Völlig verkehrt! Das ist das Statussymbol für den höchsten Druiden! Die Schlange, die sich schützend um den Baum des Lebens windet. Wenn du ihn mal richtig zu Gesicht bekommst, solltest du dir die Runen ansehen. Die Schlange ist über und über damit verziert und jede hat ihre eigene heilige Bedeutung, genau wie die Schlange und der Stock selbst. Aodhrix braucht keinen Knüppel zum Draufhauen. Es ist eine große Ehre, hinter dem obersten Druiden der Hermunduren zu gehen. Das weiß jedes Kind.“

„Lernen sie bei Aodhrix etwas über die Rechtsprechung?“

„Ganz recht. Sind alles seine Schüler. Seine kleinen wohlgemerkt.“

„Das ist mir aufgefallen! Dem kleinsten rutscht sogar noch der Torques über den Kopf, wenn er sich bückt!“

„Ha. Adalrich ist wirklich sehr zierlich, aber dafür ist er zäh und klug und freundlich, das genaue Gegenteil von seiner Schwester, Furia.“

Loranthus blieb abrupt stehen und stieß seinen ausgestreckten Zeigefinger in die Richtung, wo die Kinder gerade in der Menschenmenge verschwanden. Der letzte drehte sich nach ihnen um und winkte, als hätte er gewusst, dass sie ihm nachsahen. Selbst auf diese Entfernung leuchteten seine Augen wie zwei blaue Saphire.

„Der dort mit den hellbraunen Haaren und den azurblauen Augen?! Der letzte! Das ist der kleine Bruder von Furia?“

„Ja. Und da wir gerade bei der Verwandtschaft sind …“, begann Silvanus und deutete auf Adalrich, der in diesem Moment einen gellenden Pfiff ausstieß und sich suchend umschaute. „Dort kommt ein Sohn von Ethmanja!“

Loranthus und Ethmanja hoben beide gleichzeitig den Kopf, als ein junger Hirschhund an ihnen vorbei zischte und Richtung Adalrich stürmte. Mitten auf halber Strecke blieb er wie angewurzelt stehen, drehte sich um und rannte wieder zurück. Er hatte so viel Schwung, dass er in Ethmanja hinein krachte. Ethmanja riss das Maul auf und dann wirbelten die beiden Hunde so wild umeinander, dass nur noch zwei wedelnde Schwänze erkennbar waren.

Silvanus schüttelte schmunzelnd den Kopf.

„Ich wusste gleich, dass der Kleine nicht für die Jagd taugt. Aber für Adalrich ist er genau der richtige Gefährte. Liebevoll, verspielt, treuherzig … später schenke ich ihm einen Hirschhund, den er perfekt für die Jagd nehmen kann, jetzt ist er ohnehin noch zu klein für derart gefährliche Unternehmungen.“

Ein Pfiff gellte zu ihnen herüber. Sofort hörte das spielerische Gerangel auf und der junge Hirschhund hob den Kopf. Adalrich strahlte über’s ganze Gesicht, winkte ihnen zu und pfiff noch einmal. Sein Gefährte gab Ethmanja noch einen Nasenstüber, schon rannte er los.

„Vier Beine und alle in der Luft“, lachte Silvanus und tätschelte Ethmanja den Kopf.

„Bei Hera! Der hat enormes Temperament!“

„Wie gesagt: Er passt perfekt zu Adalrich. Man muss die beiden einfach gerne haben.“ Silvanus seufzte und schürzte nachdenklich die Lippen. Mit vorsichtigem Tonfall sagte er: „Apropos ‚gerne haben‘ … Wolltest du nicht gerade weg von hier, Loranthus?“

„Äh, ja! Wird besser sein!“, gluckste Loranthus und warf Silvanus einen feixenden Seitenblick zu. Wenn sie Adalrich begegnet waren, konnten sie auch jederzeit Furia über den Weg laufen. Darauf konnte er gut und gerne verzichten. Ihm war schon längst aufgefallen, dass Silvanus dieses Weib nicht leiden konnte. Warum wohl nicht. Schmunzelnd schob Loranthus seinen Freund zwischen riesigen Johannisbeersträuchern hindurch.

Exakt zwei Schritte weiter blieb er schon wieder wie angewurzelt stehen.

Irritiert starrte er auf eine ganze Kohorte in die Erde eingelassener Holzluken, erkannte aber recht schnell einen sicheren Weg durch ihre Anordnung und schritt zielstrebig voran, nur um wieder zu erstarren. Ethmanja dagegen wirkte höchst erfreut.

Viele Sklaven waren damit beschäftigt, Fleisch zu teilen, zu würzen oder Speck in Tiermägen zu füllen. Andere Sklaven saßen sich vor einem Holzbrett gegenüber, das so breit wie ein Zelt war. Jeder hielt einen Holzgriff in den Händen und zwischen ihnen sausten riesige, gebogene, blutbesudelte Messer auf und ab.

Sie sahen aus wie die Wiegemesser, mit denen er selbst schon Kräuter zerkleinert hatte. Doch diese hier waren nicht klein und handlich, sondern machten einen gefährlichen, wenn nicht sogar monströsen, Eindruck. Deshalb hätte Loranthus auch hier am liebsten die Flucht ergriffen, aber er wollte unbedingt sehen, was unter den Messern zerschnitten wurde.

Also trat er sachte näher heran und beugte sich über die Sklaven. Im selben Augenblick klatschte seine Hand von ganz alleine auf seinen Mund und er unterdrückte ein Würgen. Alles Mögliche an Schlachtresten wurde von den Messern in Stücke gehackt. Es sah widerlich aus. Die Sklaven schien das nicht zu stören. Sie riefen sich zu, hoben ihre Messer, schoben die Brocken damit zusammen und zerstückelten fröhlich weiter. Es war eine einzige, schmierige, blutrünstige Metzelei und sie sangen sogar dabei. Einer winkte mit blutiger Hand zu ihnen hinüber, krallte lachend seine Finger in die Brocken und warf einen Fleischfetzen mit Schwung durch die Luft.

Ethmanja sprang hoch und schmatzte.

Loranthus würgte und drehte sich um, doch das war keine gute Idee.

Andere Sklaven steckten bis zum Ellenbogen in Bottichen mit genau derselben Masse, bekamen Salz und andere Gewürze dazu geschüttet und wühlten weiter in der Pampe. Daneben stand ebenfalls ein Bottich. Hier hielten schon Sklaven Trichter bereit und quetschten die Masse in einen endlos langen Darm, bis er vollgestopft und ineinander gerollt da lag wie eine Schlange.

Wenigstens war es keine blutige Schlange, da sie alle paar Windungen mit Wasser gesäubert wurde. Loranthus trat dennoch einen Schritt zurück, was seinem Oberkörper leider immer noch nicht reichte. So stand er also ziemlich schräg nach hinten geneigt und beobachtete, wie die Sklaven das Darmende verknoteten und das lange Ding in einen riesigen Kupferkessel mit kochendem Wasser gleiten ließen. Darin schwammen schon die Tiermägen mit ihrem blutigen Inhalt und blubberten gemächlich vor sich hin. Ein alter Sklave rührte mit einem Holzstock in der Brühe, der so lang war wie er selbst und auch genauso dünn.

Ein paar Schritte weiter schürte ein anderer mit einem Handblasebalg ein Feuer unter einem wahren Berg aus Holzkohle. Das Eisengitter darüber hatte ein Gestell, das fast so groß war wie das Schneidebrett vorhin.

 

Loranthus rümpfte die Nase und zupfte Silvanus am Ärmel.

„Wenn ich nicht gleich etwas anderes zu sehen bekomme, würge ich dir meinen Gerstenbrei vor die Füße!“

„Bloß nicht! Die habe ich erst frisch gewaschen! Aber ich weiß einen Ort, wo es dir besser gefällt. Ist gleich um die Ecke, hinter den Johannisbeerhecken.“

„Ach ja? Und warum sollte es mir dort besser gefallen?“

Silvanus schüttelte den Kopf und grinste.

„Mal sehen, ob du es alleine herausfindest!“

Vor sich hin grummelnd, schlurfte Loranthus neben Silvanus her und stand gleich darauf unter mächtigen Apfelbäumen. Erleichtert atmete er tief ein und sah sich um.

Hier standen mannshohe Fässer, eine Armspanne breite Bottiche, riesige Kupferkessel mit langen dünnen Rohren, dahinter gab es noch lange Holzrinnen und andere seltsame Gerätschaften.

Zwei junge Männer betätigten sich gerade an einer dieser Konstruktionen, die aussah wie ein riesiger Holzeimer mit Ablaufrohr und Holzgestell darüber. Sie schütteten körbeweise Äpfel in den Eimer, bis er fast überquoll. Dann zückte der eine einen Holzgriff, an dem sich unten lange Klingen kreuzten. Dieses gefährliche Instrument setzte er lachend auf die Äpfel und drückte fest dagegen. Sofort gaben die Äpfel ein schmatzendes Geräusch von sich und sackten ein Stück zusammen.

Loranthus legte den Kopf schief, denn das kam ihm irgendwie bekannt vor, außer, dass hier kein Blut floss. Das Prinzip war jedoch das gleiche: Das Schneidewerkzeug wurde aus der Apfelmasse gezogen und wieder neu hinein gerammt. Nach mehrfachem Auf und Nieder ruhte sich der erste Mann aus, der zweite schüttete Äpfel nach und machte weiter. Dann besahen sich beide ihr Werk, nickten zufrieden und setzten einen Deckel auf.

Loranthus ging noch ein Stück näher, nun war die Gefahr gebannt, und außerdem schien es interessant zu werden. Der eine zückte nämlich ein gewundenes Ding, das so lang und so dick war wie sein Arm. Es war aus Holz und das verblüffte Loranthus so sehr, dass er unwillkürlich die Hand danach ausstreckte, um sicher zu gehen. Die beiden Männer verstanden sein Interesse etwas falsch, denn plötzlich lag die riesige Holzschraube in seinen Händen. Loranthus starrte die stabilen Windungen an und das Loch an einem Ende. Prüfend betrachtete er das Holzgestell und setzte die Schraube an ihren Platz, einem genau passenden Ring mit Innengewinde.

Die beiden Männer nickten anerkennend und schoben ein Querholz durch das Schraubenloch. Der erste fasste es an beiden Enden und begann zu drehen, der zweite löste ihn ab.

Loranthus stellte sich auf die Zehenspitzen und sah, wie sich der Deckel immer weiter in den Eimer schraubte, unten plötzlich Saft aus dem Rohr austrat und in den bereitgestellten Eimer lief.

„Das ist eine Saftpresse! Eine riesige Saftpresse!“, rief er begeistert und hockte sich vor das Austrittsrohr. „Und diese Konstruktion dort …“ Er zeigte auf den kupfernen Kessel mit Rohren. „ … ist zum Destillieren! Ihr macht hier Wein! Apfelwein!“

„Das hast du gut erkannt, Loranthus. Unsere Saftpresse im Dorf ist zwar kleiner, aber für unsere Zwecke reicht sie vollkommen. Und wie zu Hause machen wir auch hier nicht nur Apfelwein, Loranthus, sondern auch Apfelessig, Korma und natürlich … „Silvanus nickte zum Eimer, der sich rasch füllte. „Apfelsaft und Saft aus verschiedenen Beeren, Wein aus Beeren, Essig aus Beeren …“

Er nahm sein Horn, hielt es unter den austretenden Saftstrahl und winkte Loranthus, es ihm gleichzutun.

„Mmmh, ja! Euer Fruchtsaft ist wirklich genial und der hier schmeckt seeehr fruchtig“, befand Loranthus, schmatzte und nahm noch einen Schluck. „Und leicht säuerlich.“

„Also säuerlich würde ich nicht sagen …“ Silvanus leckte sich die Lippen. „ … eher aromatisch.“

„Aber auch ein bisschen säuerlich. Aromatisch-säuerlich!“

„Nein! Eindeutig aromatisch-fruchtig-würzig-süffig!“

So ging es eine Weile hin und her, bald gingen ihnen die Umschreibungen für ‚Apfel‘ genauso aus wie ihr Saft.

Loranthus wollte sich noch einmal nachholen, doch Silvanus meinte, er solle mit purem Saft vorsichtig sein, sonst könne er sich auf dem Abort häuslich niederlassen. Da sie aber beide jetzt noch mehr Durst hatten, schöpften sie nur einen kleinen Teil Saft und füllten den Rest mit Wasser auf. Wieder schmatzten sie und gaben ihre Kommentare ab. Dann wollten sie auch noch Apfelessig mit Wasser verdünnt probieren, aber leider war der noch nicht fertig. Also tranken sie das Wasser pur und selbst hierzu musste Loranthus nach jedem Schluck seinen Kommentar abgeben. Er war nämlich fest davon überzeugt, das Wasser aus der Sünna schmecke besser als das aus der Werra und hätte einen würzigen Beigeschmack nach Bergen, Eisen, Kiesel, Moos, Tannennadeln …

Silvanus beteiligte sich nicht mehr an der Lektion über Wasserqualität und wann immer Loranthus ihn nach seiner Meinung fragte, hatte er gerade den Mund voll Wasser. Doch bald kam seine Ablösung in Form eines Duftes. Loranthus schnupperte genüsslich und nach dem dritten Atemzug stand sein Mund ohne zu trinken unter Wasser, so dass er nur noch schlucken und nicht mehr sprechen konnte. Seine Beine setzten sich ganz von alleine in Bewegung.

Schnell gingen sie immer der Nase nach und standen plötzlich wieder da, wo Loranthus eigentlich nicht noch einmal hin wollte. Ihm lief jedoch derart das Wasser im Mund zusammen, dass er keine Skrupel mehr kannte.

Breitbeinig stellte er sich vor den Rost und machte niemandem Platz, bis er endlich ein Stück Wurst in einer Scheibe Brot gereicht bekam. Anerkennend lobte er die praktische Verwendung des Brotes als Topflappen und Silvanus hätte schwören können, das er beim Kauen das Lied summte, welches die Sklaven vorhin beim Fleischschneiden gesungen hatten.

Zum Essen machten sie es sich unter einem Apfelbaum bequem. Die standen überall am Weg, waren behangen mit grünen, gelben oder roten Früchten und spendeten angenehmen Schatten. Als sie ihre Würste vertilgt hatten, streckte sich Silvanus, holte von den kleinen, hellgrünen Äpfeln ein paar herunter und gab Loranthus welche ab.

„Die müssen zuerst weg, weil sie sich nicht lange halten.“

„Bloß keine Hektik! Ich bin gerade erst angekommen.“

Silvanus kicherte und rieb seinen Apfel am Hemd, bis er glänzte. Loranthus tat es ihm nach, betrachtete prüfend das Ergebnis im Schein der Mittagssonne und bemerkte noch mehr Leute, die Äpfel pflückten.

„Warum stehen hier so viele Apfelbäume, Silvanus? Die ganze Handelsstraße rechts und links entlang, dann noch über die Wiesen verteilt … Das geht doch nicht mit rechten Dingen zu!“

„Doch, doch! Du musst wissen, Loranthus, dieses Gebiet hier ist die Königsleite. Jeder König kommt hierher und pflanzt einen Apfelbaum, wenn er zum König erhoben worden ist. Über die vielen Generationen von Königen wurde die Königsleite immer größer und größer. Zu Lugnasad kommen unsere Clans hier zusammen, um den Frieden zu sichern.“

Loranthus war gerade dabei, genüsslich an seinem glänzenden Apfel zu schnuppern. Hinein beißen tat er jedoch nicht, im Gegenteil, er streckte ihn mit misstrauischen Blick von sich.

„Wie sichert ihr Hermunduren den Frieden? Schwören sich sämtliche Könige jedes Jahr aufs Neue gegenseitig ihre Loyalität unterm Apfelbaum?“

„Kann schon sein, aber am besten sichert man den Frieden, indem sich die Clans miteinander vermischen.“

„Sich vermischen“, echote Loranthus, polierte noch einmal über seinen Apfel und schnippte gleich darauf mit den Fingern. „Jetzt hab ich’s! Alle Clans kommen hierher, die Leute knüpfen Bekanntschaften, manche verlieben sich ineinander und heiraten. Die Familienbande werden erweitert und natürlich will niemand dem anderen Clan ein Leid antun, wenn er dort Blutsverwandte hat.“