Der mondhelle Pfad

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„Seit ich denken kann …“, knurrte sie und hakte ihre Kieferknochen wieder auseinander. „ … hatte Naharrix immer die schönsten Schnupftücher, feinstes Lein mit aufgestickter Wildsau in einer Ecke. Und in diese Ecke hat er nie hinein geschnäuzt. Nie! Verstehst du, Silvanus?“

„Ja, ich weiß, was du meinst, Viv“, beteuerte Silvanus und nickte sehr tief mit dem Kopf, als stünde er am Krankenlager eines Todgeweihten.

Viviane legte den Kopf schräg und trommelte mit den Fingern auf ihrem Schwertgriff herum, das eindeutige Zeichen, es nicht zu übertreiben.

„Früher haben wir uns gerne darüber lustig gemacht“, beeilte er sich also hinzuzufügen und schniefte übertrieben. „Wir haben immer die Hälse gereckt und spekuliert, wann er denn endlich mal aus Versehen auf sein Wappentier rotzen tut.“

„Und niemals, Silvanus, niemals hat einer von uns die Wette gewonnen.“

„Sehr richtig. Aber was hat ein sauber gehaltenes Wildsau-Emblem mit ‚Er hört sich seltsam an‘ zu tun?“

„Also.“ Viviane holte Luft. „Erstens, Naharrix hat gerade eben … vor meinen Augen … genau auf die gestickte Wildsau gerotzt.“

„Oh! Meinen herzlichsten Glückwunsch, Viv! Da bekommst du von mir bei nächster Gelegenheit eine besonders schöne Elderflöte geschnitzt!“

Viviane verdrehte die Augen wieder gen Himmel, doch dann schürzte sie die Lippen.

„Wetteinsatz angenommen, Silvanus. Gutes Gedächtnis. Aber das habe ich auch und deshalb ist da noch etwas anderes, was mich stutzig macht.“

Silvanus wedelte wieder mit den Ohren und reckte erwartungsvoll den Hals. Viviane beugte sich ganz nah zu ihm hinüber, während sie Arion auf Abstand hielt, damit die Pferde nicht aneinander gerieten.

„Wenn sich Naharrix die Nase putzt, hört sich das jetzt anders an als früher.“

Silvanus reagierte, als wäre der Todgeweihte plötzlich mit viel Elan aus dem Bett gesprungen. Viviane quittierte sein Mienenspiel mit einem sehr ernsten Kopfnicken und machte ihn durch Handzeichen darauf aufmerksam, dass er gleich vom Pferd kippte.

„Ich weiß schon, was du sagen willst, Silvanus. Aber ich bin der Meinung, wir sollten uns noch kein Urteil erlauben. Da ist was faul! Ich kann es förmlich riechen!“

„Du kannst es riechen.“, feixte Silvanus und beugte sich ganz nah zu ihr hin. „Reite doch noch mal hin, Viv! Vielleicht riechen seine Fürze auch anders als früh …“

So schnell konnte er gar nicht reagieren, da hatte sie ihm am Hinterkopf erwischt und knurrte: „Beobachten und analysieren, das ist die Devise! Und wenn ich mich getäuscht habe, kannst du dich immer noch über mich lustig machen.“

„Hm“, brummte Silvanus, brachte seine Locken wieder in Form und rutschte sich auf seinem Pferd zurecht. „Abgemacht, Viv, aber hau mich nicht wieder. Du weißt, ich bin sensibel.“

Das hatte diesmal nicht den gewünschten Lacherfolg bei Viviane, im Gegenteil, sie runzelte sogar die Stirn und murmelte: „Jetzt, wo du es sagst … fällt mir noch was ein.“

„Spuck’s aus, Viv. Du weißt, ich bin neugierig.“

Viviane vergewisserte sich nach allen Richtungen, dass sie keiner hören konnte und kam wieder ganz nah an Silvanus heran.

„Er guckt Wahedon an, wie er jeden anguckt.“

„Wo ist dein Problem, Viv? Ist doch gut so!“

„Nichts ist gut. Wahedon hat mir erzählt, dass er ihm nicht mal gratuliert hat, als er bei König Gort zum ersten Krieger aufgestiegen ist.“

„Vielleicht ist er neidisch, weil es Wahedon so gut geht bei uns. Immerhin ist er in kürzester Zeit zum ersten Krieger gewählt wurden. Dazu noch ein hübsches Weib und einen strammen Sohn … So viel Erfolg und Anerkennung hat er seinem kleinen Bruder bestimmt nicht zugetraut. Schon gar nicht in einem fremden Clan.“

Viviane schürzte nachdenklich die Lippen.

„Ist eigentlich nicht Nahars Stil. Er war doch sonst nie neidisch auf Wahedon, im Gegenteil. Er hat ihm alles beigebracht, was ein Krieger können muss.“

„Ja, genau. Das war dein Glück und seins auch an jenem unseligen Unglückstag, an dem du ihm die Narbe verpasst hast.“

„Erinnere mich nicht daran! Aber weißt du, was komisch ist? Seine Narbe zuckt nicht mehr, wenn er mich sieht!“

„Echt nicht?! Die hat doch jedes Mal unkontrolliert gezuckt, wenn er dich früher immer gesehen hat! Er konnte gar nichts dagegen machen! Aber vielleicht liegt es ja an der langen Zeit. Immerhin hatte er zehn Jahre, um seine Emotionen unter Kontrolle zu bringen. Mir hat er manchmal richtig leidgetan, weil er sich einfach nicht beherrschen konnte, der Ärmste.“

Viviane seufzte.

„Mir auch, das kannst du mir glauben. Aber Fakt ist: Das Zucken ist weg. Außerdem ist seine Narbe verblasst.“

„Verblasst? Wie kommst du denn darauf, Viv?“

„Weil sie früher violett war und jetzt ist sie nur noch rosa.“

Silvanus schaute erst Viviane ungläubig an, dann nahm er König Nahar ins Visier, der sich prächtig mit Amaturix zu unterhalten schien.

„Tja, Viv. Ich schätze mal, das liegt auch an der Zeit. Ist schließlich schon zehn Jahre her, seit du ihm die Narbe verpasst hast.“

„Hör endlich auf! Mir hat schon gereicht, ihm ins Gesicht sehen zu müssen!“

„Hat manchmal auch seinen Nachteil, so ein Gleichstand, Viv!“

Viviane sah ihn streng an und presste die Lippen zusammen. Ein tiefes Grollen kroch ihre Kehle hinauf und sie knurrte: „Fakt ist: Ich habe ihm eine sehr, sehr tiefe Narbe verpasst und sie war immer violett! Zehn lange Jahre war sie violett! Jetzt ist sie rosa. Das ist praktisch nicht nachvollziehbar.“

„Apropos praktisch: Kommst du mit hinter zu Naschu, Hirlas und Zanadu? Ich will wissen, wie ihnen die Reise zu Pferde gefällt.“

„Gut. Aber danach müssen wir noch bei Harthu und seinen Leuten vorbei. Nicht, dass sie beleidigt sind.“

„Soll mir recht sein, Viv. Was hast du eigentlich von Harthus Vater bekommen, damit auch seine Leute auf deinen Pferden reiten dürfen?“

„Onkel Wadi und seine Leute haben auch Pferde von uns. Schließlich müssen wir ja irgendwie zum Lager kommen. Es ist also recht praktisch, dass alle sich geehrt fühlen, wenn wir ihnen etwas vom Braten abgeben. Man sollte sich eh den Mund nicht zu voll stopfen.“ Sie schnalzte kurz und Arion trabte an.

Auch Silvanus schwenkte herum, folgte jedoch in einigem Abstand, weil er sich schon denken konnte, warum sie so kurz angebunden war. Erst die Erinnerung an ihre schlimme Begegnung mir König Nahar und dann war da noch Furia. Die beiden für fast einen Mond zusammen in einem Lager … Bei dem Gedanken kam er richtig ins Schwitzen und das lag nicht am strahlenden Sonnenschein.

Zum Glück war Furia eine Königstochter. So war sie wenigstens in einem separaten Bereich des Lagers untergebracht, und der war weit genug weg von ihnen. König Nahar war somit auch weg und konnte sich ungestört dem Verblassen seiner unschönen Narbe in dem ansonsten recht freundlichem Gesicht widmen … Apropos widmen: War Viviane ihm die Antwort auf seine letzte Frage eigentlich schuldig geblieben?

Abends lagerten sie an einem See und alle rannten übermütig ins Wasser. Loranthus stellte sich neben Silvanus, beobachtete das muntere Treiben und schüttelte den Kopf.

„So viele Leute! Da findet man ja kein nasses Fleckchen mehr, um sich in Ruhe zu waschen. Ich warte lieber, bis es nicht mehr zugeht wie in einer Pfütze mit Kaulquappen.“

„Vollkommen richtig, Loranthus. Ich, für meinen Teil, bringe erst mal Viv ins Schwitzen, damit sich das Waschen auch wirklich lohnt. Vorher schwitzen ist sowieso besser, weil das Wasser nämlich ganz schön kalt ist.“

„Woher weißt du das, Silvanus? Du hast doch noch nicht mal deinen Zeh rein gehalten!?“

„Ach, das ist doch offensichtlich. Sieh mal! Da steht Elektra mit Gänsehaut im Wasser und hüpft immerzu. Ich glaube, sie will Kaulquappen fangen, damit es ihr wärmer wird.“

Loranthus japste erschrocken, hakte seinen Gürtel auf und riss sich Hemd und Hose vom Leib. Dann rannte er los und Viviane, die gerade von Tinne kam, schaute ihm verblüfft hinterher.

„Der hat’s aber eilig!“

„Elektra friert. Da hilft nur Bewegung.“

„So? Dann brauchst du bestimmt auch Bewegung. Den ganzen Tag reiten, davon wirst du ganz … steif“, schnurrte sie in sein Ohr und presste sich an ihn. Mit einem Seufzen kuschelte sie sich in seine Arme. „Ich friere auch. Wir sollten uns ein warmes Plätzchen suchen, bis es leerer wird im See.“

Silvanus strich ihr über die Brust und fühlte sie erschauern.

„Ja, du frierst wirklich ganz schrecklich“, stellte er fest und zwinkerte. Mit Verschwörermiene beugte er sich zu ihrem Hals und hauchte: „Da drüben ist schönes Buschwerk, wind- und blickdicht, inklusive Glut und Schürhaken.“

Viviane hielt ihn am Gürtel fest.

„Nein, da ist Vater schon hin! Hinter dem Hügel, da ist es ruhiger. So ein Feuer prasselt ja ziemlich emsig, wenn es geschürt wird.“

Am nächsten Tag trafen sie auf die Truppen vom Dolmar.

Ihr König Donar begrüßte die anderen Könige und Heerführer sehr huldvoll, dann rief er laut: „Wie geht es meiner Großtante Mara?!“, krachte Viviane die Hand auf den Rücken und ritt mit ihr ein Stück von der Salzstraße weg.

Da Viviane wider Erwarten nicht vom Pferd kippte, lugte Loranthus den beiden ziemlich neugierig hinterher. Seine Augen wurden schmal, als dieser König Donar die eben geschlagene Stelle liebevoll tätschelte.

Überhaupt war sein ganzes Verhalten sehr auffällig, er behandelte Viviane äußerst respektvoll. Nicht, dass die anderen Könige das nicht täten, aber er war mittlerweile zum Schulterstreicheln übergegangen, gestikulierte dabei mit der anderen Hand ausladend und lachte schallend. Jetzt steckten sie die Köpfe zusammen und umarmten sich wortreich. Küsschen rechts, Küsschen links und noch mal von vorn, weil’s so schön war …

 

Loranthus lehnte wir festgezurrt an seinem Wagen und schaute mehr als argwöhnisch drein. Dieser Donar − große Statur, stattlich gebaut, helle Haut, rotes zotteliges Haar, langer Bart, ebenfalls rot und buschig, lautes Mundwerk … Exakt so hatte er sich früher immer einen Keltos vorgestellt, nur mit den Fellkleidern haperte es.

König Donar war nämlich ausgesprochen geschmackvoll bekleidet. Sein kurzärmeliges rotes Hemd war um den Ausschnitt mit einem verschnörkelten Muster bestickt und aus feinstem Lein, genau wie die blau-rot karierten Hosen, kurze Hosen wohlgemerkt. Loranthus hatte freien Blick auf stramme Waden ohne erkennbaren Haarwuchs. Sofort huschte sein Blick noch einmal zum sichtbaren Brustbereich − auch keine Haare. Im Winter brauchte der Kerl auf alle Fälle ein wärmendes Fellkleid.

Obwohl König Donar einen Luchs auf der Standarte hatte, wollte ihn sich Loranthus gerade im Bärenfell vorstellen, da blieb sein Blick an dessen tiefblauem Mantel haften. Der war ihm bisher noch gar nicht aufgefallen. Als sich Donar jedoch ein Stück drehte, wallte er locker an seinem Rücken herab und die Goldfäden in dem hauchdünnen Leinstoff schimmerten wie Sternbilder. Leider waren sie nicht gut sichtbar, aber Loranthus starrte wie hypnotisiert auf die Falten, die der glänzende Stoff auf dem Rücken des Pferdes schlug. Er musste sich fast zwingen, wegzusehen.

Schwerfällig schwenkte er seinen Blick hinauf zu König Donars goldenem Torques, über eine protzige Fibel in Form eines Hammers und weiter zu zwei überdimensionalen Armreifen, die auf enormen Armmuskeln klemmten, dazu noch mindestens drei Ringe an jeder Hand. Überall schillerten bunte Edelsteine inmitten filigran verschnörkelter Goldstreben, sogar in der Gürtelschnalle und auf seinen Schuhen. Und als wäre das noch nicht genug, prangten auch noch in seinem Bart jede Menge eingeflochtener Goldperlen, die aus dem üppigen roten Buschwerk ein apartes Gewächs machten. Dieser König Donar präsentierte irgendwie eine wilde Gepflegtheit, die er in solcher Kombination bei noch keinem König gesehen hatte.

Kopfschüttelnd überlegte Loranthus, wie lange wohl ein Goldwäscher den Flusssand sieben musste, um solche Massen an Gold zu bekommen. Und dann gaben die Leute auch noch alles ab, weil es nur Königen und Druiden vorbehalten war.

Natürlich waren auch die anderen Könige ähnlich gekleidet und mit Schmuck behangen wie König Donar, doch der hatte etwas … Loranthus konnte es nicht genau erklären, aber es machte ihm Angst.

Ihm war es sogar vergangen, sich den Mann im golddurchwirkten Bärenfell vorzustellen. Nicht einmal an einem Diadem zwischen zotteligen Luchsohren konnte er sich belustigen.

Also sah er lieber nicht mehr zu Viviane und König Donar, der wie zur Bestätigung mit seinen Armmuskeln rollte und seine Fäuste gegeneinander krachen ließ. Bei Athene! Dass Viviane da noch lachen konnte?!

Aber halt! Sie sah dabei gar nicht zu König Donar, sondern zu Silvanus. Auch er schien sich prächtig zu amüsieren, er flanierte mit einer schwarzhaarigen Kriegerin umher, die mitsamt ihrem Kopf unter seinem Arm klemmte, so klein und zart war sie. Ihre Rüstung aus übereinander geschichteten Metallplatten stand in so krassem Gegensatz zu Silvanus’ nackten Bauchmuskeln, dass Loranthus bei dem Anblick automatisch zusammensackte, als zerre ihn ein imaginäres Gewicht in die Knie.

Ihre Hose und ihr Umhang waren dagegen aus feinstem roten Lein, beide Ober- und Unterarme verzierten breite, verschnörkelte Silberspangen mit Edelsteinen und sie hatte Muskeln … selbst am Unterarm hatte sie Muskeln. Bei Athene! Eine Amazone! Und dann auch noch mit silbernem Torques!

Das brachte Loranthus, noch ehe er den Mund wieder zu geklappt hatte, auf den Gedanken, dass sie eine Königin sein musste, eine Königin und Kriegerin. Neben ihrer silbernen Gürtelschnalle in Form eines Einhorns hingen nicht nur Lang- und Kurzschwert, sondern auch eine riesige Streitaxt, und alles glänzte vor lauter Edelsteinen. An einem Arm trug sie ganz locker einen Schild komplett aus poliertem Eisen mit − bei Athene! − eingelassenen Edelsteinen. Quer über dem Rücken hing einen Langbogen samt Lederköcher mit gefiederten Pfeilen.

Da waren keine Edelsteine dran, stellte Loranthus befriedigt fest, der Köcher sah sogar mächtig abgewetzt aus. Er konnte es jetzt genau sehen, weil Silvanus die Amazone in die Kurve schleppte, immer noch mit eingequetschtem Kopf.

Ihr schien es zu gefallen, sie strahlte über’s ganze Gesicht und schüttelte ihre unzähligen, langen, schwarzen Zöpfe bis hinunter zur Hüfte … Loranthus interessierte dieses Phänomen allerdings nicht mehr, weil sein Blick wie magisch auf eine Stelle dahinter gezogen wurde.

Dort saßen, wie bereit zum Appell, sieben Maiden auf Pferden. Ihre Töchter, die Ähnlichkeit war unverkennbar, obwohl sie nicht alle die gleiche Haarfarbe hatten.

Von rotblond bis schwarz war alles dabei, als wären sie auf einer Farbpalette gemischt worden. Die jüngste hatte nussbraune Haare und war vielleicht so alt wie Lavinia, die älteste mochte etwa in Noeiras Alter sein. Sie war die einzig schwarzhaarige, trug ein Baby im Wickeltuch vor dem Bauch und unterschied sich etwas von den anderen, nicht durch ihr Aussehen, sondern durch den Kontrast zwischen Haar und Gesicht.

Sie war extrem blass, aber dennoch sehr hübsch, sehr zierlich … nur machte sie einen geistesabwesenden Eindruck und strich mit einem seltsam verschleierten Blick über das Tragetuch. Weder das darin zappelnde Baby, die Anwesenheit ihrer Schwestern, noch ihre Umgebung schien sie wahr zu nehmen, bis sich Viviane und König Donar zu ihnen gesellten. Da schreckte sie auf, wie aus dem Schlaf gerissen, und ihre dunklen Augen huschten hektisch herum, doch niemand schien ihre verstörte Miene zu beachteten.

Im Gegenteil, wieder wurde lauthals geredet und gestikuliert und als Silvanus kehrt machte, ging es noch lustiger zu. Er hatte sein eingeklemmtes Anhängsel nämlich direkt aufs Pferd gewuchtet und sich mit dem Schwung ein wenig verschätzt. Alles johlte, weil er die Amazone am Schild zurück zerren wollte, sie aber schon längst gerade saß und deshalb auf ihn drauf zu kippen drohte. Also stemmte er sich mit ausgestreckten Armen gegen den Schild und das Austarieren begann von Neuem. König Donar rannte schnell um das Pferd herum, riss die Arme auseinander und machte ein erfreut-erwartungsvolles Gesicht, bis die Kriegerin mit so viel Schwung vom Pferd hechtete, dass er rückwärts mit ihr ins Gras krachte.

Plötzlich wusste Loranthus, zu wem die Amazone und ihre Töchter gehörten. Und er wusste auch, wo er sie schon mal in Aktion gesehen hatte, allerdings nicht so prunkvoll gekleidet und schon gar nicht lachend, deshalb hatte er sie nicht erkannt. Sofort schlug sein Instinkt Alarm und er sah schreckliche, bluttriefende Bilder vor seinem geistigen Auge, dazu ein Paar wilder schwarzer Augen, das starr wie ein Adler seine Beute anvisierte und gefletschte Zähne, aus denen das wilde Brüllen einer hungrigen Löwin herausbrach.

Ein hohes Kichern holte ihn wieder in die Gegenwart zurück und er sah die Amazone sich voll Übermut in König Donars Armen winden. Völlig ungehemmt begannen die beiden zu küssen. Bei dem Anblick hallte in Loranthus noch das Lachen der Kriegerin nach, doch egal wie hoch und lustig sie quieksen konnte − ihn beschlich der Verdacht, dass es nicht König Donar war, vor dem er sich fürchten sollte.

Als sie weiter ziehen wollten, hielt es Loranthus vor Neugierde nicht mehr aus. Er winkte Silvanus zu sich und wollte wissen, was es mit der Kriegerkönigin auf sich hatte. Sie hieß Ethel Guda Seba. König Donar war mächtig stolz auf sie, denn solch ein Weib gab es nicht so oft. Sie war nicht nur hübsch, sondern auch klug. Sie war nicht nur eine perfekte Kriegerin, sondern auch eine treue Gefährtin. Dazu war sie noch eine liebevolle Mutter und natürlich gediehen all ihre Töchter nach ihrem Vorbild. Sie kam von den Sueben, weit hinter dem Thuringer Gebirge, und entstammte also dem Ursprungsstamm der Hermunduren.

Loranthus wuschelte sich mit gerunzelter Stirn die Locken durcheinander und verstand nur ‚Stamm‘.

Silvanus sah sich nach Abhilfe um und entdeckte eine Esche mit mächtiger Krone. Die war ein prima Anschauungsobjekt. Ein dicker Ast der Esche waren die Sueben und ein Zweig davon waren die Hermunduren.

Um Silvanus zu demonstrieren, dass er die Logik von Stamm und Abzweig verstanden hatte, deutete Loranthus auf den dicken Ast, verfolgte besagten Zweig der Hermunduren, bis er zu einer neuen Gabelung kam und sah ein Blatt ganz verliebt an. Das war Elektra.

Silvanus verdrehte die Augen, konnte sich ein erfreutes Grinsen aber nicht verkneifen. Er war mit sich als Lehrmeister zufrieden und ertappte sich sogar dabei, auf einem anderen Zweig ein besonders schönes Blatt zu suchen, moosgrün wie Vivianes Augen wenn möglich. Er fand tatsächlich eines und hatte es plötzlich sehr eilig, wieder neben Viviane zu reiten.

Loranthus lehnte sich bequem auf seinem Kutschbock zurück und betrachtete diese Ethel Guda Seba jetzt mit ganz anderen Augen. Das lag nicht daran, dass er sie nun von hinten sah, aus dieser Perspektive zog sie seinen Blick genauso an wie von vorne. Nein, es war die Art, wie sie auf dem Rücken ihres Hengstes saß, aufrecht und erhaben, als wäre sie mit ihm verbunden. Ihrer beider Bewegungen waren geschmeidig und doch zeugten sie von Kraft. Genauso war sie auch mit ihren älteren Töchtern damals über das Schlachtfeld geritten.

Sie jetzt, in Friedenszeiten, zu beobachten, erweckte in ihm ein seltsames Gefühl, dass er schon damals bei Viviane bemerkt hatte, als sie sich kennen gelernt hatten: Er fühlte sich sicher, behütet. Augenblicklich schwelgte er in Erinnerungen an seine ersten Erfahrungen mit Hermunduren im Allgemeinen und Vivianes Familie im Besonderen … Er war richtig erstaunt, weil sich die Sonne schon ihrem Nachtlager entgegen neigte und der lange Tross eine Wegkreuzung erreichte. Dort standen drei Eichen und davor ein behauener, mannshoher Stein. Sofort gab er seinen Gedanken einen anderen Drall.

„Aha! Eine Leuga!“, rief er begeistert in Griechisch und reckte den Hals, um besser sehen zu können, was darauf eingemeißelt stand.

„Das ist eine Lieska!“, verbesserte Robin und bedachte Loranthus mit einem Blick, als hätte er das doch wissen müssen.

„Lieska oder Leuga, das ist gehüpft wie gesprungen! Hauptsache, es ist ein Wegweiser, der einem sagt, wo es lang geht!“, rechtfertigte sich Loranthus sehr leise in Mundart der Hermunduren und bedachte Robin mit einem Blick, als hätte er das doch wissen müssen.

„Und, was steht drauf? Wo geht’s lang“, fragte Robin gelangweilt.

Loranthus kniff die Augen zusammen.

„Also, im Westen liegt Raino, sieben Wegstunden bis auf die Kuppe.“

„Eine Wegstunde wird danach berechnet …“, dozierte Robin und betrachtete Loranthus, als sei er sein begriffsstutziger Schüler. „ … wie lange ein Pferd für fünfzehntausend Fuß braucht. Im Tross geht es natürlich wesentlich langsamer.“

Loranthus wusste allerdings schon aus Erfahrung, was es mit diesen ominösen Wegstunden auf sich hatte. Er konnte sogar in römische Meilen und griechische Stadien umrechnen. Da Robin zwar alles essen konnte, aber nicht alles zu wissen brauchte, nickte er nur anerkennend und widmete sich wieder seiner Lektüre.

„Aha! Danke Robin! Im Osten liegt Thuringia mit ebenfalls sieben Wegstunden. Im Süden liegt Alpina und bis dorthin dauert es … äh … Ich kann es nicht lesen.“ Robin seufzte.

„Ich dachte …“, fing er extrem laut an und bekam einen Rippenstoß von Lavinia. Erst wollte er sich beschweren, doch da bemerkte er seinen Fehler, beugte sich zu Loranthus und raunte: „Ich dachte, du kannst unsere Sprache?“

Loranthus beugte sich ganz nah an sein Ohr und wisperte zurück: „Es liegt nicht an mir. Es liegt am Wetter.“

Robin musterte Loranthus mitleidig, als sei bei ihm eine seltene Krankheit ausgebrochen, die ihn demnächst dahin raffen würde.

Bis es soweit war, grinste Loranthus noch recht lebensfroh.

„Die eingekerbte Schrift ist verwittert.“

„Ach so“, nuschelte Robin und kam wieder näher heran.

Lavinia schüttelte tadelnd den Kopf.

„Vor vielen Jahren hat man es bestimmt noch gut lesen können, aber da jeder Händler diese Kreuzung kennt, macht sich wohl keiner die Mühe, die Schrift nach zu meißeln. Bei den Händlern, die über die Alpenpässe müssen, kommt es auf ein paar Wegstunden mehr oder weniger bestimmt nicht an. Im Moment interessiert uns sowieso nur die große Festwiese und bis dorthin ist es bloß noch eine halbe Wegstunde. Für uns dauert es natürlich länger.“

 

„Aha! Also dann, gerade aus, nach Süden!“, rief Loranthus sehr laut in Mundart der Hermunduren, jedoch mit starkem griechischem Akzent, und deutete enthusiastisch nach vorne, als habe er jetzt endlich begriffen. Aus den Augenwinkeln sah er etliche Leute in der näheren Umgebung nachsichtig lächeln.

Das war Sinn und Zweck der Täuschung, sichtlich zufrieden schmunzelte er in sich hinein. Sollten sie ihn ruhig für schwer von Begriff halten. Jetzt noch ein bisschen zurücklehnen und vor sich hin freuen …

Dazu hatte er sogar allen Grund: Dieses Reisen mit dem Wagen war so gemütlich, viel besser als zu Fuß oder zu Pferde. Das Lenken ging ihm leicht von der Hand und seine neuen Pferde gehorchten willig, sie trabten so leichtfüßig. Das lag daran, dass es sachte bergab ging und es dauerte diesmal wirklich einen Augenblick, bevor er es bemerkte. Erst, als der Wagen vor ihm die Sicht freigab, stemmte er sich fasziniert aus seinem Sitz.

„Beim Hermes, diese Aussicht ist ja herrlich! Und alles ist genauso, wie ihr es mir berichtet habt!“

Es war ein weites, flaches Grasland mit einigen kleinen Wäldchen, das sich da vor ihm erstreckte, soweit das Auge reichte. Mitten durch die grüne Ebene mit ihren dunkelgrünen Tupfen zog sich die breite Werra mit ihren vielen Nebenflüssen. Links der Werra gab es Weideflächen und abgeerntete Felder, am rechten Ufer reihte sich ein Zelt ans andere. Noch weiter rechts erstreckte sich die breite Handelsstraße, auf der sie unterwegs waren, gesäumt von Apfelbäumen, Apfelbäumen und nochmals Apfelbäumen. Ihre endlos lange Reihe wurde nur ab und zu von Beerensträuchern unterbrochen.

Rechts von der Handelsstraße gab es drei Besonderheiten: als erstes ein Stadion, als zweites ein frisch gemähter Festplatz mit überdachtem Holzbau und am weitesten weg ein fast kreisrunder See mit üppigen Sträuchern und noch mehr Schilfbewuchs. Dort hinten war der Lagerabschnitt für die Könige. Sie hatten sogar einen eigenen Nebenfluss, der ein wenig breiter war als andere Zuflüsse der Werra.

Loranthus beschirmte seine Augen.

„Wunderschön, wie der See in der Abendsonne schillert! Und die Werra sieht aus wie ein endlos langes, glänzendes Band, an dem sich massenhaft bunten Perlen reihen!“

„Das Band hat einen Knick und die bunten Perlen sind in Wirklichkeit Zelte“, half Robin nach und fragte sich, ob Loranthus schlechte Augen hatte.

„Zelte!“, rief Loranthus begeistert in Landessprache und redete auf Griechisch weiter.

„Zelte, Zelte und nochmals Zelte! So viele habe ich in meinem ganzen Leben noch nie gesehen! Beim Zeus! Das müssen ja zwei-, dreitausend Leute sein, die dort am Fluss lagern! Rechts von der Straße erkenne ich ganz deutlich den Festplatz und davor die Backöfen und Feuerstellen. Und als erstes sehe ich natürlich das Stadion.“

„Stadion?“, wiederholte Lavinia mit großen Augen.

„Sehr richtig, Lavinia. Ein Stadion. So sagen wir Griechen zu einer Wettkampfstätte. Eigentlich ist Stadion ein Längenmaß und bedeutet sechshundert Fuß, aber irgendwann hat es sich so eingebürgert, es als Wort für Wettkampfstätte zu nehmen.“

Robins Augen begannen zu leuchten.

„Das würde ich mir zu gerne mal ansehen! Unsere Wettkampfstätte, also unser Stadion, wird abends immer umfunktioniert, zum Tanzplatz. Auf der Festwiese zwischen See und Stadion wird nämlich immer gemeinsam gegessen und abends wird musiziert. Dann schwärmen die Massen aus und verteilen sich über See und Stadion. Wenn du willst, kannst du auch mal auf deiner Flöte mitspielen, Loranthus.“

„Nein, da muss ich noch ein bisschen üben, Robin!“, wehrte Loranthus schnell ab und sah schon die Leute in Panik vor seinen musischen Ergüssen auseinander stieben. Die einen ersäuften sich im See, die anderen rannten den Marathon. „Vielleicht nächstes Jahr.“

Robin kicherte: „Wenn du krumme Töne spielst, merkt das eh keiner, das kannst du mir glauben! Die Leute sind abends immer so beschäftigt mit tanzen und saufen und …“

„Ja, das kann ich mir vorstellen!“, rief Loranthus begeistert und sah ganz genau vor sich, was sich da alles für Möglichkeiten eröffneten. „Dieser überdachte Flachbau auf der Festwiese macht einen soliden Eindruck.“

„Ganz genau! Aber der Platz dort reicht nur für die Könige und oberste Druiden. Wenn das ganze Großkönigreich zusammen kommt, passen nicht mehr rein. Außerdem ist es sowieso besser, wenn die Krieger nicht zusammensitzen.“

Loranthus ließ den Kopf hängen. Gerade hatte er sich neben Elektra sitzen sehen und nun war für ihn kein Platz. Für Krieger zum Glück auch nicht.

„Warum kein Platz für Krieger? Wegen ihrer Essmanieren?“

„Nein“, gluckste Robin und hob Achtung heischend den Finger. „Wenn viele Hunde zusammengepfercht werden, dauert es nicht lange, und der erste beißt um sich. Du weißt doch, Loranthus, kein Streit zu den Festen. Zu Lugnasad sind die Druiden der Rechtssprechung besonders streng. Da muss der hohe Rat oftmals Streitfälle schlichten, die gar nicht eingeplant waren.“

„Streitfälle schlichten? Interessant! Das muss ich mir unbedingt ansehen.“

„Apropos ansehen!“, rief Robin und deutete nach hinten. Eilig kletterte er auf den Sitz und hielt sich an Loranthus’ Schulter fest. „Guckt mal! Dort drüben kommen die Bären von Raino! Ja! Juhu! Urgroßmutter Dana kommt!“

Loranthus sah nach rechts.

„Ich sehe nur eine Staubwolke, Robin, mit Königen und ein paar Kriegern an der Spitze. Woher weißt du, dass es die Bären von Raino sind?“

„Da sind noch mehr Clans dabei, aber egal, es ist doch einfach, Loranthus! Sie kommen aus der richtigen Richtung. Guck mal nach links! Was siehst du da?“

„Den Thuringer Wald.“

„Und?“

„Hm, auch eine Staubwolke. Ach, da kommen eure Verwandten vom Hermannsberg und von der hohen Möst, und natürlich noch andere Clans!“

„Richtig, Loranthus, unsere Buchen- und Eichenleute!“, lobte Robin und hockte sich ächzend wieder hin wie ein betagter Lehrmeister nach einer anstrengenden Lektion.

„Aber du ahnst ja gar nicht, mit wem wir alles versippt sind. Wenn wir unsere Zelte aufgeschlagen haben, zeige ich dir mal die ganze Sippschaft.“

„Das hört sich so an, als würde es lange dauern. Vorher will ich was Ordentliches zum Abendbrot!“

Robin tätschelte ihm mitleidig die Schulter, sein Schüler musste noch sehr viel lernen.

„Ess lieber nichts, Loranthus, alle werden dir Essen und Trinken anbieten. Und glaube mir, ich meine wirklich alle.

Lavinia feixte: „Vergiss die siebenköpfige Raupe nicht mitzunehmen, Loranthus!“