Der mondhelle Pfad

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Mit diesen Worten hatte er natürlich den Ehrgeiz seiner Brüder geweckt. Sie betrachteten ihre Hände und den Verlauf der Seile, schon hatte Conall die Lösung gefunden.

„Nichts leichter als das! Tarian, geh mal mit deinen Händen ein Stück runter! Ich muss über dein Seil steigen!“

Tarian bückte sich und ließ sein Seil extra durchhängen, Conall machte einen großen Schritt, drehte sich und hob die Seile über seinen Kopf. Triumphierend schaute er nach oben und Tarian lachte. Nichts war passiert.

„Lach nicht! Lass dir lieber auch was einfallen! Ich mach mich hier doch nicht alleine zum Deppen! Los, Bein hoch! Ich muss mich da durchschieben!“

Und so begann ihr Seiltanz. Sie drehten sich, kletterten übereinander, schoben sich untereinander, machten die Arme und Beine lang und quetschten sich durch … Ihre Zuschauer johlten und gaben gut gemeinte, aber unnütze Ratschläge. Es dauerte eine Weile, bis sie sich so umgarnt hatten, dass sie sich nicht mehr bewegen konnten.

„Hanibu!“, schnaufte Conall, der Tarian fast huckepack trug. „Jetzt brauchen wir deine Hilfe!“

Hanibu war sofort zur Stelle und begutachte mit fachmännischem Blick das Desaster.

„Wir müssen euch erst einmal aus diesem Knäuel befreien! Erst danach kann ich euch zeigen, wie ihr es machen müsst.“

„Ja, Hanibu! Dafür wäre ich dir sehr dankbar.“

Hanibu fasste nach seinen Handgelenken.

„Schneidet der Strick zu sehr ein, Conall?“

„Nein, du hast ihn gut gebunden. Es tut nicht weh.“

„Gut. Also, dann musst du erst einmal mit deinem linken Arm unter dem rechten Bein von Tarian durch.“

„Wenn’s weiter nichts ist …!“

Alle Zuschauer grölten, bis ihnen die Tränen liefen und schlugen sich begeistert auf die Schenkel. Immer wieder zeigten sie japsend auf Hanibu, die Conall und Tarian hin und her dirigierte. Die beiden Gefesselten lachten mit, denn sie bezogen den Übermut ihrer Zuschauer auf die Verrenkungen, die sie machen mussten, um sich aus dem Gewirr zu befreien.

Was sie nicht bemerkten war, dass ihnen Hanibu nebenbei die Gürteltaschen leerte.

Nagelschneider, Pinzetten, Kämme, Zahnwolle, Zunderschwämme, Feuersteine, Feuereisen, Lederriemen, Schnupftücher, Hörner, Messer, sogar Armbänder nahm sie ihnen ab, ohne dass sie es merkten. Ihre Beutestücke reichte sie sofort an Medan weiter, der immer in ihrer Nähe stand, um im Notfall eingreifen zu können, wie er es ausgedrückt hatte. Nun, ja. Er hatte nicht einmal gelogen.

Strahlend hielt er alle entwendeten Dinge noch einmal hoch, damit sie auch wirklich jeder Zuschauer gut sehen konnte und verstaute sie in einem Korb neben dem Ofen. Dabei legte er sich immer wieder feixend den Finger auf den Mund, damit niemand etwas verraten sollte.

Natürlich wurde sein Rat befolgt. Als Medan sich zwei kleine Bronzemünzen unter die Augenbrauen klemmte und Tarians Zopfband als Schnurrbart benutzte, trommelte König Gort johlend mit seinen Fäusten auf dem Tisch herum und Wahedon wälzte sich nach Luft japsend auf den Eichenbohlen.

„Conall, es hat keinen Zweck! Ich weiß mir keinen Rat mehr“, gestand Hanibu und zog Conalls Kopf unter Tarians linken Arm durch, was beide stark ins Wanken brachte, weil Conalls restlicher Körper unter Tarians rechtem Bein fest klemmte.„Ich übernehme deine Fesseln und zeige euch, wie es einfacher geht.“

„Ha! Da bin ich aber mal gespannt! Von wegen einfach …!“

Hanibu löste den ersten Knoten an Conalls Hand und er band das Seil um ihr Gelenk. Dann kam der zweite Knoten, wobei Conall sorgsam darauf achtete, dass Hanibu nicht schummeln konnte. Sicherheitshalber überprüfte er noch einmal den Seilverlauf und war zufrieden. Nun stand also Hanibu an seiner Stelle und Tarian sah sie erwartungsvoll an.

Hanibu überlegte kurz und hob ein Bein, das sie unter seinem ausgestreckten Arm durchschieben wollte. In diesem Moment schien ihr aber eine bessere Lösung einzufallen und sie klatschte erfreut in die Hände.

„Schaut alle her! Einfach in die Hände klatschen, schon seid ihr frei!“

Hanibu trat zwei Schritte zurück und präsentierte ihr Seil. Tarian betrachtete sein eigenes höchst misstrauisch. Kein Zweifel, sie waren getrennt.

Conall kam sofort zu ihnen und überprüfte die Knoten an ihren Handgelenken. Triumphierend hielt er Hanibus Hand hoch und rief: „Hoch lebe Hanibu, die Entfesselungskünstlerin!“

„Hoch lebe Hanibu!“, jubelten alle und hoben ihre Becher.

Auch Conall und Tarian griffen gewohnheitsmäßig nach ihren Hörnern. Irritiert betasteten sie die leeren Schlaufen und sahen schockiert an sich herunter.

„Mein Horn!“

„Meines ist auch weg und mein Messer!“

„Was?! Meines auch! He! Wo ist mein Lederarmband?“

„Keine Ahnung“, murmelte Tarian und fasste sich nachdenklich ins Genick. Da stellte er reichlich spät fest, dass sein Zopf aufgegangen war. Verwundert schüttelte er seine lange braune Mähne.

„Das gibt’s doch nicht! Ich habe mein Zopfband verloren! Na, zum Glück habe immer einen Ersatz!“ Schwungvoll öffnete er eine seiner Gürteltaschen, stutzte und öffnete die nächste.

„Meine Taschen sind leer! Alle!“

„Was?! Die Taschen?“ Conall zerrte die Lasche über seinen Hirschhornknopf und lugte lange in seine leere Tasche, hastig in die nächste und übernächste. „Beim Geweih von Cernunnos! Meine auch!“

„Alles ist weg. Wir haben nichts gemerkt, weil wir so mit den Seilen beschäftigt waren“, kombinierte Tarian und wollte eine besonders lustige Verrenkungen nachstellen. In dem Moment rutschte ihm die Hose runter. Da sah er in die grinsenden Gesichter ihm gegenüber, knuffte Conall und beide prusteten los. Tarian bekam vor Lachen kaum eine Schleife in seinen Hosenstrick.

Medan präsentierte den beiden seinen Korb und erklärte, wie ihre Sachen dorthin gekommen waren. Tarian sortierte sofort sein Eigentum aus und tat alles wieder dahin, wo es hingehörte, Conall musste sich erst mal setzen.

„Jetzt wird mir alles klar wie ein Gebirgsbach!“, gluckste er.

König Gort trat nach vorne, klopfte beiden lachend die Schultern und schenkte ihnen eigenhändig Met ein.

„Auf Hanibu und Medan! Noch nie habe ich einen solchen Spaß gehabt!“

Am nächsten Morgen begann die Getreideernte und Medan brauchte nicht zu Amaturix, was ihn sehr ärgerte. Loranthus bekam seine schlechte Laune nicht mit, er saß mit abwesenden Blick beim Frühstück.

Viviane schnippelte ihm Zwiebeln in seinen süßen Hirsebrei, er kratzte seine Schale leer. Lavinia streute ihm Petersilie in seine Milch, er schmatzte genüsslich. Medan erklärte ihm zweimal, dass er heute Holzschuhe brauchte, weil die Halme sonst die Füße zerschnitten, er ging barfuß weiter und holte mit Conall, Silvanus und Tarian die Ochsen von der Weide. Ochsenmäßig trottete er hinter Arminius in die Scheune und sah verträumt zu, wie dieser ein Öl getränktes Leintuch von etwas Großem herunterzog.

Da wachte er endlich auf und zwinkerte ungläubig.

„Was ist denn das für ein riesiges Ding?“

Arminius schleuderte die Plane schwungvoll hoch und legte sie mit geübten Griffen zusammen.

„Unser Mähwerk natürlich!“

„Euer Mähwerk? Ich dachte …“

Er zeigte auf ein viel kleines Mähwerk gleich neben dem Tor. „Flora mäht doch mit dem Mähwerk dort immer das Gras im Dorf. Ich dachte, das ist euer Mähwerk?“

Silvanus lachte schallend.

„Das kleine Ding? Nun, ja, für das Gras im Dorf ist es ganz zweckdienlich, aber ein richtiges Mähwerk ist wesentlich größer und die Schneiden sind auch viel weiter oben. Damit schneidet man nämlich nur die Ähren am Getreide ab und nichts anderes.“

„Aber ihr habt doch auch zu dem kleinen dort …“ Loranthus zeigte anklagend zum Tor. „ … Mähwerk gesagt! Was stimmt denn nun!?“

Silvanus winkte beschwichtigend ab.

„Kannst du dich noch an die Geschichte mit den Brennnesseln erinnern, Loranthus?“

„Klar. Du hast dir als Kind ein Mähwerk äh … ausgeborgt, damit bist du einen Hang runtergefahren, unten in die Brennnesseln reingeprescht und an einem Stein hängengeblieben. Bei dem vielen Schwung hast du leider das Mähwerk zerschmettert.“

„Genau. Heimlich zurückstellen ging zu meinem Leidwesen nicht mehr. Die Eisenschneiden waren aber noch einigermaßen zu gebrauchen und auch etwas Holz war heil geblieben. Daraus bauten Großvater und ich ein viel kleineres Mähwerk mit tiefsitzenden Schneidebalken. Damit musste ich zur Strafe immer das Gras im Dorf mähen. Großvater meinte, ich würde mich gut als Ochse machen, und ich hab natürlich immer ordentlich dazu geschnaubt.“

Silvanus sah verträumt vor sich hin.

„Ach, unser Großvater Anu … Ich habe ihm nie verraten, wie viel Spaß ich als Ochse hatte. Sogar Großmutter Dana wollte sich das kleine Mähwerk mal ausborgen, weil sie angeblich nicht so gerne mit der Sense Gras mähte. Sie kam extra mit einem Ochsenkarren zu Besuch und hat es mit in ihr Königreich genommen. Ein Jahr später hatte Großvater drei neue Aufträge für ein kleines Mähwerk, weil auf den Höhenzügen von Raino plötzlich etliche Leute nicht mehr mit einer Sense umgehen konnten.“

Loranthus kicherte und tat so, als wolle er mit einer Sense mähen, was er wirklich noch nicht so gut konnte.

„Dein Großvater hat also immer die Wagen bei euch gebaut.“

„Ganz genau. Er konnte alles bauen, was Räder hatte.“

„Und das hier …“ Loranthus klopfte auf das große Mähwerk. „ … ist also ein neues, echtes Mähwerk von deinem Großvater. Sieht es genauso aus wie das alte?“

„Ja, natürlich! Die gleiche Konstruktion und ich musste beim Bauen helfen. Vater hat übrigens die Messerschienen geschmiedet.“

 

Loranthus schürzte anerkennend die Lippen und schlenderte um das breite Mähwerk herum. Seine Hand glitt von den scharfen Messerzacken über das große Rad zu einem Holzkasten mit enormen Fassungsvermögen.

„Diese Konstruktion … einfach genial! Wenn ich das richtig sehe, funktioniert das Ganze folgendermaßen: Der Ochse schiebt das Mähwerk vor sich her. Dabei drehen sich die Räder, die Messerschienen laufen gegeneinander … und weil sie so weit oben sind, schneiden sie das Korn gleich unter der Ähre ab. Die Ähren fallen nach hinten in den großen Kasten und den braucht ihr nur ausleeren. Ohne großen Aufwand bekommt ihr schnell viele Säcke voll und stapelt sie auf einem anderen Wagen. Wenn ihr es richtig anstellt, seid ihr so hurtig mit der Getreideernte fertig, wie der Ochse das Mähwerk vor sich herschiebt.“

„Korrekt, Loranthus“, rief Silvanus, trabte auf der Stelle und wischte sich hechelnd über die Stirn, als würden dort Bäche von Schweiß rinnen. „Wenn der Ochse schneller gehen täte, würde ich alle Getreidefelder an einem Tag schaffen! Aber ich darf ihn ja nicht überfordern. Schließlich bin ich der beste Ochsenführer weit und breit. Einen Wettkampf im Getreideernten würde ich garantiert gewinnen, vorausgesetzt meine Helfer kommen hinter mir her.“

Loranthus nickte eifrig und bemühte sich um eine ehrfürchtige Miene. „Aber wie hast du dieses Riesending den Hang hinauf befördert, Silvanus? Du warst doch damals noch klein?!“

„Nur ein Stückchen kleiner!“, korrigierte Silvanus und hörte auf zu traben. „Aber wozu habe ich ältere Brüder!? Viviane und ich hatten gewettet, wer von uns schneller den Hang wieder unten ist. Sie, wenn sie rennt oder ich mit dem Mähwerk. Noeira war damals auch schon mit von der Partie und hätte Conall das Mähwerk am liebsten auf den Rücken gehievt, wenn wir dadurch schneller den Berg hochgekommen wären. Weil das schlecht ging, haben wir es abwechselnd mit unseren Freunden hochgezerrt.“

„Naschu und Ninive waren also auch mit dabei?“

„Sogar noch viele mehr! Beth, Harthu, Nora, Oen, Susanne, Mirja … sogar Nion und Medan sind uns hinterher geschlichen, obwohl beide damals kaum über die Tischplatte gucken konnten, Medan jedenfalls nicht.“

„Gar nicht wahr!“, kam es von draußen, aber Medan hatte wohl gerade etwas anderes zu tun, als die Angelegenheit richtig zu stellen.

„Ich kann euch förmlich vor mir sehen …“, feixte Loranthus und drückte mit aller Kraft gegen das große Mähwerk. „ … wie ihr alle zusammen den Berg hinauf keucht. Als die Griechen das hölzerne Pferd vor Trojas Tore gezerrt haben, ging es ihnen bestimmt genauso.“

Loranthus musste über seinen eigenen Vergleich lachen und entdeckte dabei ein technisches Problem.

„Aber es hat ja nur zwei Räder! Wie bist du denn damit einen Hang runter gefahren, Silvanus? Das kippt doch sofort!“

„Ach, ich habe ein paar Bretter zurecht gezimmert und eine Achse mit kleinen Rädern festgemacht. Du weißt doch, Loranthus: Die Räder, die wir unter die Eggen machen, um sie auf die Felder zu fahren. Die Konstruktion habe ich mit Stricken am Mähwerk festgebunden. Auf dem Brett konnte ich gut stehen und mit den Stricken sogar lenken.“

Loranthus musterte Silvanus nachdenklich und begann zu kichern. Er wurde immer lauter. „Kein Wunder …“ quietschte er die ersten verständlichen Wörter. „ … wenn dich dein Großvater ‚Ochse‘ genannt hat! Du warst ja wirklich der Ochse!“

Loranthus imitierte Stierhörner, muhte und alle lachten, bis auf Silvanus.

„Ja, ja! Lacht ihr nur! Bald habt ihr keine Luft mehr dafür, wenn ich den Ochsen führe und ihr hinter mir her rennen müsst! In drei Tagen könnt ihr nur noch japsen und keuchen! Und euer Gemuhe schrumpft zu einem kläglichen quaaak!“

Loranthus klatschte ihm versöhnlich die Hand auf die Schulter.

„Das kann ich mir vorstellen, oh erhabenster Führer aller Ochsenfrösche!“, säuselte er und sprang schnell hinter Arminius in Deckung. „Was macht ihr eigentlich mit den Halmen, die stehen bleiben?“

Silvanus tat so, als hätte er nichts gehört, drehte sich um und prüfte die Schärfe des Messerbalkens mit einem Strohhalm, während sich Arminius der Frage von Loranthus widmete.

„Kommt drauf an. Das Vieh kann es abweiden oder es wird mit der Sense abgeschnitten. Für Strohmatten, Körbe, Seile, Schuhe, Einstreu für die Tiere im Winter, für unsere Betten und was man sonst noch so alles gebrauchen kann. Es eignet sich auch hervorragend als Dämmstoff, wenn ein Haus gebaut wird. Das Stroh kommt zusammen mit Mist in den Lehm für die Flechtwände und auch mit Laub und Astwerk ins Fundament unter die Dielenbretter. Weil Viviane und Silvanus bald ihr Haus bauen, werden wir also diesmal alles absensen.“

„Ihr könntet auch eure Häuser damit decken. Anderswo machen sie das auch.“

Arminius schüttelte den Kopf.

„Hierzulande sind Tannenschindeln besser. Und jetzt auf, an die Arbeit! Vom Schwatzten trägt sich das Korn nicht in die Scheune! Es muss alles ordentlich gewogen sein und die Wagen müssen wir auch noch schmücken, wenn wir die Abgaben zur Burg hochfahren.“

„Schon wieder Blumen pflücken“, maulte Tarian.

Conall tätschelte ihm mitfühlend die Schulter.

„Diesmal sind es nur Kornblumen, das geht doch schnell. Und da ist noch das Gastmahl beim König!“

Tarians Augen leuchteten auf.

„Braten, Musik, Tanz … und Met bis zum Umfallen. Ich seh schon Medans Gesicht vor mir.“

Medan lugte zum Tor herein und kicherte höchst belustigt.

Tarian hatte erwartet, er würde sich über seinen Spott ärgern und zumindest auf ein störrisches Aufstampfen mit dem Fuß gehofft. Leider fehlten bei Medan jegliche Anzeichen von Wut und das ließ ihn seine jüngsten Bruder ins Visier nehmen.

„Was gibt’s denn da zu lachen?“, fragte er argwöhnisch und kniff die Augen zusammen. Medan grinste von einem Ohr zum anderen.

„Ich habe für Mutter die Schere geschliffen.“

„Die hatte es ja auch nötig nach der letzten Schafschur“, meinte Arminius. „Und ich bin sicher, dass sie nun wieder schön scharf ist, bei deinem Talent, mein Sohn.“

Medans Augen leuchteten über das Lob, aber Tarian konnte sich gar nicht für seinen kleinen Bruder freuen. Er wusste jetzt Bescheid und überprüfte seinen geflochtenen Zopf auf herausragende Haare.

„Ich wollte heute Abend mal zu … Onkel Wadi. Genau. Onkel Wadi.“

Arminius sah ihn verblüfft an.

„Heute Abend noch so weit weg? Was willst du denn bei Wadi?“

„Er hat … gerade eben eine Taube geschickt, weil … bei ihm ein Tischbein kaputt gegangen ist. Das will ich schnell reparieren.“

Arminius sah Tarian immer noch mit hochgezogenen Augenbrauen an.

„Ein Tischbein? Das schafft Wadi bestimmt auch alleine!“

„Nein!“, schrie Tarian und schob sich seinen Zopf unters Hemd. „Nein, das war doch eines von meinen, die ich für ihn gedrechselt habe! Da muss ja schließlich … das Muster zu den anderen Tischbeinen passen. Muster sind wichtig. Was sollen die Leute denken, wenn sie bei Wadi am Tisch sitzen und die Flechtmuster passen nicht.“

„Tarian.“ Arminius legte seinem zweitältesten Sohn schwer die Hände auf beide Schultern und setzte eine mitleidvolle Miene auf. „Nimm lieber noch ein Tischbein als Ersatz mit, sollte eins zerbrechen. Deine Mutter wollte nämlich heute Abend auch in Wadis Haus, zu Fanar. Weiberkram. Du verstehst? Die neuesten Frisuren und so.“

Er zog ganz langsam Tarians Zopf wieder aus dem Hemd und seufzte.

„Also würde ich mir das mit dem Tischbein reparieren lieber noch mal gut überlegen. Wenn du Pech hast, verbünden sich die Weiber womöglich noch. Stell dir bloß vor, Flora und Fanar fallen gemeinsam über dich her. Du weißt: Meine Schwester, deine Tante, Fanar, ist nicht gerade zimperlich. Noch schlimmer wird es für dich, wenn Rivus Weib auch da ist. Störrische Männer erledigt die mit einem Schlag.“

Tarian stöhnte auf und jammerte vor sich hin.

Arminius tätschelte mitfühlend seinem Sohn den Kopf und ein verschmitztes Lächeln huschte über sein Gesicht.

„Tarian, du musst der Tatsache ins Auge sehen. Um die Schere kommst du nicht drum herum. Da fällt mir ein: Heute gibt es frisch gerupftes Hähnchen.“

Aus Tarians Jammern wurde ein Jaulen. Loranthus verstand das nicht, er fand geschmorte Hähnchen absolut schmackhaft. Also bat er Arminius um eine Erklärung und der tätschelte Tarian noch einmal den Kopf, damit er endlich Ruhe gab.

„Flora schneidet jedem die Haare, wenn es auf Lugnasad zugeht. Tarian konnte das noch nie leiden. Schon als kleines Kind hat er gebrüllt, als koste es sein Leben, wenn sie mit der Schere auf ihn zukam.“

Loranthus verzog das Gesicht.

„Bei Hera! Stell dich nicht so an, Tarian! Deine Haare sind so lang, da kommt es auf ein paar Fingerbreit nicht an!“

„Ja, genau!“, grölte Conall und deutete hinter sich. „Ich hab’s schließlich auch geschafft und nicht geheult. Und bei mir wäre das immerhin gerechtfertigt gewesen.“

Arminius klopfte seinem ältesten Sohn tröstend die Schulter.

„Noeira meinte zu Flora, es sähe ungleichmäßig aus.“

Conall wedelte erschrocken mit den Händen.

„Nein! Das bildet sie sich nur ein! Mutter muss sich mit meinen paar Fransen nicht noch extra Arbeit aufbürden! Schließlich soll sie sich schonen. Zu viel stehen …“

„Nun ist es aber gut!“, mischte sich jetzt Silvanus ein und warf viele kleine Stückchen Stroh in die Höhe. „Ich bin immer als Erster dran und ihr wisst doch ganz genau, dass Mutter für meine Haare den ganzen Abend braucht. Und außerdem war ich es, dem sie schon mal ins Ohr geschnitten hat und nicht einer von euch! Also. Seht ihr mich jammern? Nein.“

Ich jammre auch nicht, Silvanus!“, rief Loranthus und machte winkend auf sich aufmerksam.

„Das solltest du aber, Loranthus! Auch für dich kommt der Abend“, weissagte Medan und nickte wissend.

„Jeden Tag wird es Aben … Was?!“

Loranthus sah sich nach einer Fluchtmöglichkeit um, aber Conall lehnte ganz entspannt und ziemlich schräg am Tor. Bei seinem gehetzten Blick fand Tarian seine eigenen Leiden nur noch halb so schlimm, doch so schnell gab sich Loranthus nicht geschlagen. Hastig zerrte er eine Strähne seiner Locken in die Länge und maß sie mit seinen gespreizten Fingern.

„Drei Handspannen! Bei mir lohnt sich das doch gar nicht!“

„Nur keine falsche Bescheidenheit!“, feixte Tarian. „Ich würde schon sagen, dass sie ganz ordentlich gewachsen sind, seid du bei uns bist. Wenn du sie so in die Länge ziehst, gehen sie immerhin schon bis zu deinen Schultern!“

Loranthus ließ sofort los und die Strähne schnappte zurück. Sicherheitshalber stauchte er seine Haare an der Stelle noch extra zusammen.

„Ich wollte doch mit Flora das Glücksbrot ansetzen! Da bleibt gewiss keine Zeit mehr für solch aufwendige Unterfangen!“

„Glücksbrot? Ha! Das ich nicht lache!“, grölte Conall. „Das bisschen Mehl, Milch und Honig habt ihr beide im Handumdrehen zusammengerührt und dann muss der Teig erst mal ruhen! Also bleibt genug Zeit.“

Loranthus zupfte an seinem schwarzen Wuschelkopf.

„Aber damit muss Flora nicht ihre Zeit verschwenden!“

Arminius tätschelte ihm beruhigend die Schulter.

„Keine Panik. Flora verschwendet weder ihre Zeit, noch deine paar Ringellöckchen! Elektra hat ihr ganz genau gesagt, wie viel bei dir weg soll.“

Alle Bauern im Königreich nutzten das schöne Wetter aus und bald hallten rund um den Uhsineberga die Schergeräusche von Messerbalken und Sensen. Die Männer füllten die Körner in Säcke und warfen sie auf die Wagen, die Frauen drehten sich Stricke und bündelten das Stroh. Das warfen sie wiederum auf Wagen mit besonders hohen Seitenteilen. ‚Leiterwagen‘ sagten sie dazu.

Oben standen die jungen Maiden und pressten alle Ballen sorgfältig ineinander. Das war eine sehr wichtige Prozedur, denn das Stroh war zwar leicht, konnte aber, je höher es lag, einen Wagen zum Kippen bringen. Die Kinder pflückten Kornblumen oder hoben liegengebliebene Halme auf und machten daraus einen Wettstreit.

Am dritten Tag genossen sie ihr Mittagessen auf dem Feld hinter dem Birkenwäldchen und flochten nebenbei Kränze aus Kornblumen. Das ging recht schnell und danach war Mittagsruhe.

Alle Männer hatten die Köpfe bei ihren Frauen in den Schoß gebettet und die Augen geschlossen.

Silvanus zückte seine Hirtenflöte, Conall und Tarian spielten mit. Viviane, Lavinia, Robin und Hanibu teilten sich die Tin Whistles und fügten sich in die Melodie ein.

 

Loranthus schielte auch zu seiner selbst gemachten Flöte, überlegte es sich anders und ließ stattdessen lieber seinen Blick über das abgeerntete Feld schweifen. Aus den Augenwinkeln betrachtete er seine Gastfamilie.

Arminius und Flora hielten sich an den Händen. Noeira stillte die kleine Belisama, die es sich auf der Stirn ihres Vaters bequem machte. Armanu hockte bei Tarian auf dem Bauch und kaute sabbernd auf einer Brotrinde herum. Das ging auch ohne Zähne und Taberia passte auf, dass sie keine Brocken verschluckte.

Loranthus bekam glasige Augen, lehnte sich an die Eiche und blinzelte durch die vergoldeten Blätter zum Himmel. Hanibu beobachtete ihn, nahm die Tin Whistle von Robin entgegen und lächelte.

Sie wusste genau, wie er sich jetzt fühlte.

Hier hatten sie beide ein neues Leben gefunden und mussten wieder zurück in ihr altes. Loranthus würde sie mit nach Kreta nehmen und dort würde sie eine Sklavin von vielen sein. Aber Loranthus war ein guter Herr. Sie hatte keine Angst. Allerdings würde sie Viviane vermissen, ihre Familie und … Lew. Hanibu reichte die Tin Whistle an Robin zurück. Sie brachte keinen Ton mehr heraus.

Wenigstens würde sie Lew noch ein letztes Mal sehen. Viviane hatte ihr erzählt, dass zu Lugnasad alle Königreiche in einem großen Lager zusammenkamen. Die wandernden Barden zogen bei den Königen mit, denen sie gerade ihre Künste darboten. Bei diesem Fest würden sogar alle Barden in einen Wettstreit treten und Hanibu hoffte, dass Lew gewann. Er spielte auf seiner Harfe so herrlich wie ein Gott − so schön, so klug, so königlich. Man konnte ihn nur lieben.