Der mondhelle Pfad

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Die Zeit geht vorbei, ob bei Spiel oder Arbeit

Wenn es Loranthus an diesem Tag auch nicht geglaubt hatte: Die Zeit bis zu Lugnasad verging schneller als geahnt.

Das lag wohl daran, wie gut er sich schon in Vivianes Familie fügte.

Er harkte die Gemüsefelder, ohne Blasen an den Händen zu bekommen. Seine Arme taten ihm beim Korn mahlen mit der Drehmühle nicht mehr weh und er hämmerte sogar manchmal unter dem wachsamen Blick von Arminius auf dem Amboss herum. Ein Federmesser, ein Feuereisen sowie drei Halter für eine Dachrinne hatte er schon eigenhändig gefertigt, letzteres für das neue Haus von Viviane und Silvanus. Oder vielleicht doch lieber nur für den Schuppen der beiden, weil er die Sache mit dem Feingefühl immer noch nicht richtig raus hatte. Wolle kämmen war dagegen das reinste Kinderspiel.

Mittlerweile konnte er schon eggen, säen und wusste, wann das Gemüse reif zum Ernten war. Um das Schlachten von Viehzeug hatte er sich zwar bis jetzt noch erfolgreich herum gedrückt, aber dafür hatte er das Häuten und Gerben, den Gebrauch einer Sense und das Reusen bauen genauso schnell erlernt wie spinnen und Wolle färben. Flora war richtig stolz, als er das Färber-Wau mitsamt der Wurzel ausriss und wusste, dass man damit ein kräftiges Gelb bekommt. Seine Lieblingsfarbe war allerdings Blaubeere in allen Nuancen.

Das lag daran, dass man das Abfallprodukt nach dem Saftpressen noch so schmackhaft verwerten konnte. Jedenfalls war das Großmutter Maras Überzeugung, weil er so gerne Molke oder Buttermilch mit ausgepressten Blaubeeren trank. Am liebsten zwirbelte er alles höchstpersönlich durcheinander und mit besonders viel Elan, wenn Conall und Tarian in der Nähe waren.

Eines Tages hatte er es mit diesem Getränk dermaßen übertrieben, dass er fast den ganzen Tag zwischen der Töpferscheibe, dem Brennofen und dem Abort hin und her rannte. An letzterem Ort machte er sich darüber Gedanken, warum Flora ihm getrocknete Blaubeeren in den Mund geschoben hatte, damit der Durchfall aufhörte. Sie schmeckten grässlich, aber wirkten. Und, egal ob frisch oder getrocknet, schienen sie auch seinen Geist zu beeinflussen, denn nebenbei formte er mit dem Ton einen abstrakten Tierkörper aus Stier, Hirsch und Bär, der ihm in Gesicht und Frisur erstaunlich ähnlich sah.

Bei den letzten Feinheiten entwickelte er derartiges Geschick, dass sogar Großmutter Mara ihr wiederholtes „Hab ich’s dir nicht gesagt?!“ vergaß, als er das vierte Mal vom Abort kam und ihr seine fertige Figur präsentierte.

Den Tier-Loranthus machte er als Henkel an seinem Krug fest und schob die Töpferwaren von Mara, Taberia und seine eigene Kreation zum Brennen in den Ofen. Dabei zuckte er nicht mit der Wimper und tat so, als wären die phantastischen Figuren von den beiden das Normalste von der Welt. Er hatte schon so viele seltsame Wesen aus Holz, Ton, Kupfer, Bronze, Silber, Gold oder Eisen gesehen … mittlerweile fand er weder skurrile, noch echte Tiere erschreckend.

Wagemutig kraulte er die Ochsen zwischen ihren riesigen Hörnern, selbst angriffslustig schreiende Gänse scheuchte er heldenhaft vor sich her. Nur als seine Leute Honig machen wollten, weigerte er sich hartnäckig.

Großmutter Mara duldete aber keinen Widerspruch: Wer Met haben wolle, der müsse auch Honig schleudern können, das war ihre Devise, die sie mit ihrem Finger in seine Brust einstanzte. Und als Loranthus sah, wie die Bienen freiwillig ihre Klotzbeuten verließen, schämte er sich etwas, weil er sich vor ihnen gefürchtet hatte. Wofür so ein bisschen Rauch doch gut war.

Er machte auch Fortschritte in Schwertkampf, Bogenschießen und Speerwerfen. Immerhin war er schon besser als Lavinia und Robin und blieb sogar bei Vivianes Kampflektionen stehen, manchmal. Doch in keiner Disziplin war er so gut wie im Steine schleudern. Selbst Viviane konnte da nicht mithalten.

Das galt auch für Kirschen-Ziel-Spucken. Das hatte er schon zweimal gewonnen und als er keinen würdigen Gegner mehr auftreiben konnte, kam er auf den Gedanken, den Wettstreit doch mal mit anderen Leuten zu versuchen.

So kam es, dass alle Leute der umliegenden Dörfer eines Abends, mitsamt ihren Spucknäpfen, bei ihnen am Tor standen.

Der Abstand zum Napf wurde festgelegt und jeder bekam genau ein Dutzend Kirschen.

Wer daneben traf, schied aus und die Kirschkerne häuften sich unter lautem Jubel in den Näpfen oder irgendwo in der Botanik.

Am Ende gab es ein Stechen, beziehungsweise Spucken, zwischen Loranthus und Naschu. Jeder bekam noch ein letztes Mal seine Kirschen und es dauerte nicht lange, da lieferten sie sich einen verbissenen Wettlauf zum Abort.

Loranthus war schneller und riss die Tür auf. Mit der einen Hand zerrte er seinen Hosenstrick auf, mit der anderen den Holzdeckel vom Abort.

Naschu saß schon längst auf seinem Hintern und seufzte erleichtert, als Loranthus immer noch mit seiner Hose kämpfte. Endlich hatte er sie in den Kniekehlen und plumpste so schnell auf die Fallgrube, als könne er damit seinen Rückstand aufholen.

„Beim Zeus, das war knapp“, presste er heraus und versprach sich selbst und allen Göttern, das nächste Mal lieber zwei Hände zu nehmen, statt Zeit sparen zu wollen, egal bei welcher Gelegenheit.

„Hätte ich doch bloß nicht so viel getrunken“, jammerte Naschu und krümmte sich zusammen.

Da öffnete sich die Tür ein klein wenig und die Nase von Conall erschien im Türspalt.

„Phuh! Dicke Luft!“, sagte er in ziemlich nasalem Ton und streckte seinen Kopf mit einem breiten Grinsen herein. „Aber was mich nicht tötet, macht mich noch härter!“

„Lass das Feixen und komm rein, wenn du dich traust!“, maulte Naschu zwischen seinen zusammengebissenen Zähnen hindurch. „Tür zu!“

„Ach, keine Bange“, versicherte Conall und machte die Tür sperrangelweit auf. „Die Hühner nebenan wissen alle, wie ein gluckendes Huhn aussieht − oder zwei, um genau zu sein.“ Er deutete auf Loranthus, der immer noch den Abortdeckel in der Hand hielt. „Schwachsinn, wie komm ich denn auf Huhn! Natürlich findet hier ein Kriegsrat statt! Der Rundschild steht dir gut, Loranthus, gibst einen prima Reiter ab!“

„Willst du nun reinkommen oder dummes Zeug labern“, zischte Loranthus laut und übertönte damit einige Nebengeräusche.

„Natürlich komm ich rein. Ist ja schließlich noch ein Platz frei. Wollte euch nur einen Vorsprung auf den Thron lassen. Bin ja nur der Drittplatzierte.“

Abends, als die Nachbarn weg waren, verging Conall das Grinsen, denn er bekam Bauchschmerzen. Loranthus teilte sein Leid, jammerte aber wesentlich lauter, weil er bei solchen Krämpfen eigentlich den ersten Platz verdient hätte und sich schon wieder Maras „Hab ich’s dir nicht gesagt?!“ anhören musste.

Um der eintönigen Litanei zu entgehen, schlichen sie sich schleunigst besonders mitleiderregend zur Hintertür hinaus und rannten mit heruntergelassenen Hosen zu ihrer dritten oder vierten Thronbesteigung.

Wieder zurück, empfing sie Flora mit einem Tee aus Kamille und Minze. Unter ihrem strengen Blick musste jeder seine Portion trinken, sich lang legen und nach ihrer Anweisung vom Rücken, über die Seite, zum Bauch und zur anderen Seite drehen. Derart beschäftigt mit synchronem Rollen, hatten sie ihre Bauchschmerzen vergessen. Oder waren sie gerade deshalb verschwunden?

Zum Erbsen auskneibeln war Loranthus jedenfalls wieder in Bestform und wurde einstimmig zum Erbsenkönig ernannt. Mara legte ihm einen Torques aus Erbsen um den Hals und Lavinia drückte ihm einen sauren Apfel in die Hand. Zu guter Letzt kniete Robin vor ihm nieder und überreichte einen verästelten Buchenstab, der vorher den Erbsen zum Ranken gedient hatte.

So ausstaffiert stolzierte Loranthus über den Dorfplatz und winkte seinen Erbsenzählern huldvoll zu, bis allen vor Ergriffenheit die Tränen liefen, besonders Conall, der schon wieder das Nachsehen hatte.

Die langen Tage wichen den kurzen Nächten, der Mond nahm ab und wieder zu, die Blüten der Sträucher dufteten verführerisch und bildeten Früchte aus, das Korn wiegte sich golden im strahlenden Sonnenschein und manchmal regnete es mal mehr, mal weniger kräftig, aber immer so mild, dass man sich einfach darunter stellen musste.

Nach getaner Arbeit badeten sie immer im Fluss und kamen danach meistens draußen um die Feuerstelle zum Abendbrot zusammen. Bis zum Dunkelwerden wurde erzählt, Fidchell gespielt, getanzt und musiziert.

Als Viviane, Hanibu, Lavinia und Robin das erste Mal vorspielten, was sie schon alles auf der Tin Whistle konnten, applaudierte Loranthus ganz euphorisch und verkündete: „Ich muss unbedingt auch ein Instrument lernen.“

Arminius hielt ihm gleich sein Kinnarum hin, doch das erschien ihm für den Anfang zu schwierig. Deshalb entschied er sich für die Hirtenflöte. Das musste einfacher sein, weil sie von vielen Leuten hier gespielt wurde, und außerdem: Wenn der griechische Pan das konnte, hatte er ja sozusagen einen göttlichen Helfer. Seitdem bekam er also von seinen Gastbrüdern Unterricht und entdeckte seine musische Begabung. Ja, er war auch musikalisch. Das erkannte er an wippenden Füßen und dass keiner sich die Ohren zuhielt.

Manchmal lag Loranthus aber einfach nur im Baumgarten und betrachtete die vorbeifliegenden Vögel, Bienen, Schmetterlinge … Lavinia rief ihn dann immer zum Abendbrot, doch eines Tages legte sie sich mit unter den größten Walnussbaum und deutete auf die gefiederten Blätter.

„Wenn sie sich bewegen, kann man die Finger unseres Sonnenkönigs sehen und Bruder Wind drückt die Blätter zur Seite, damit uns Vater Himmel von seiner Warte aus besser erkennt.“

„Wunderschön. Und dazu noch ein Tierstimmenkonzert.“

 

„Loranthus?“

„Hm?“

Loranthus starrte weiter auf die Tanzpaare aus Sonnenstrahlen und Walnussblättern.

Lavinia drehte sich zu ihm, stützte sich auf ihre Ellenbogen und sah ihm fest in die Augen.

„Wenn du viele Jahre Zeit hättest … würdest du gerne den Beinamen ‚Ildana‘ erlangen?“

„Der, der alles tut? Wie kommst du denn darauf, Lavinia?“

„Das ist doch klar wie ein Gebirgsbach. Du bist jetzt seit drei Monden bei uns. Du siehst dir alles an und machst alles nach, so lange, bis du es kannst. Und du kannst schon recht viel. Warum?“

„Warum?“

Loranthus visierte eine träge vorbeiziehende Schäfchenwolke an und schürzte die Lippen.

„Hm. Das ist eine gute Frage, Lavinia. Mein Vater sagte: ‚Mein Sohn, ich sende dich in das Reich der Hermunduren. Lerne ihr Leben kennen und kehre mit reichem Wissen zu mir zurück. Dann will ich dich aufnehmen in den Kreis der Händler, so, wie es mein Vater damals mit mir gemacht hat.“

„Dein Vater war auch schon einmal hier?“

„Nein. Sein Vater hat ihn damals nach Assur geschickt.“

„Aha. Und warum hat dich dein Vater ausgerechnet zu uns Hermunduren geschickt?“

„Das hat er mir nicht gesagt. Aber es hat Tradition in unserer Familie, den Sohn in ein fremdes Land zu schicken, bevor er in die Fußstapfen des Vaters tritt. Mein Großvater, zum Beispiel, war auf seiner ersten Reise den Euphrat entlang geschippert.“

„Warst du auch schon einmal in Assur und am Euphrat?“

„Ja, gemeinsam mit meinem Vater.“

„Dies ist also deine erste Reise ganz allein. So etwas wie eine Probe. Oder eher eine Initiation?“

„Ja, Initiation könnte man es nennen, wenn auch bei vollem Bewusstsein ohne irgendwelche Drogen.“

„Gut, du hast die Wünsche deines Vaters erfüllt. Aber warum gibst du dir solche Mühe?“

„Solche Mühe?“

„Ja. Viviane sagt, du bist wie ein Stier, der nur den Pflug auf Rädern bis zum Feld ziehen soll, aber auch noch über alle Felder rennt und die Scholle bricht.“

„Ich! Ein Stier! Ha, ha!“

Loranthus kniff prustend die Augen zusammen. Als er sie wieder öffnete, war die Schäfchenwolke weg. Nun hätte er seinen Kopf drehen können, war aber viel zu träge. Außerdem brauchte er seine ganze Kraft zum Luft holen. Da wurde er sehr still, fast traurig. Schließlich nickte er.

„Jetzt weiß ich, was du meinst, Lavinia. Vielleicht liegt es daran, dass ihr mich so gastfreundlich aufgenommen habt?!“

Lavinia schüttelte den Kopf.

„Wir nehmen jeden gastfreundlich auf, Loranthus. Jeder Reisende, ob alt oder jung, arm oder reich, bekommt ein Obdach. So ist es Brauch. Aber du zeigst dich viel mehr erkenntlich dafür, als du müsstest.“

Nun drehte er doch bedächtig den Kopf und lächelte Lavinia an.

„Jetzt will ich dir mal was verraten, meine kleine freundliche Gastgeberin. Früher lag ich auf meiner bequemen Ruheliege, studierte die Bücher und dachte, Kreta sei der göttlichste Ort auf der Welt. Schließlich ist es die Wiege des Zeus. Ha! Kein Wunder, dass mich Viviane mit einem Stier vergleicht! Na, jedenfalls war ich überzeugt, ihr könntet nicht schreiben, nur eure Druiden wären einer gebildeten Sprache mächtig, ihr könntet einen Stuhl nicht von einem Tisch unterscheiden und würdet den ganzen Tag in zerfetzten Fellen herumlaufen. Alle paar Tage opfert ihr einen Stier, vielleicht noch ein paar Menschen hinterher und hüpft danach wie die Wilden blutverschmiert ums Feuer.“

Lavinia kontrollierte ihre Seitenlage, faltete die Hände übereinander und legte ihr Kinn darauf. Ihre Mundwinkel zuckten.

„Und? Enttäuscht?“

Loranthus stutzte. Sie prusteten gleichzeitig los.

„Was hat sich bei dir am meisten verändert?“, wollte Lavinia wissen, als sie ihre Atmung wieder halbwegs unter Kontrolle hatte.

Loranthus wischte sich schnaufend die Augen.

„Hach, beim Zeus! Meine Einstellung natürlich, Lavinia! Euer Ehrgefühl, eure Kunstfertigkeit, euer Wissen über Kräuter, Metalle, Holz … das alles verdient meine Hochachtung. Euer astronomisches Wissen ist gigantisch. Das ist mir klar geworden, als ich vor ein paar Tagen bei Afal auf dem Geißkopf war und er mir das Observatorium erklärt hat.“

„Hast du alles verstanden, was er dir erzählt hat?“

„Zum Kalendarium? Ja, logisch! Das war einfach! Schließlich bin ich schon oft mit meinem Vater auf See gewesen! Mit Sternen kenne ich mich gut aus!“

„Aha! Ich habe mich schon immer gefragt, wie ein Seefahrer seinen Weg findet, wenn nur Wasser um ihn herum ist. Woher weiß man, wo man gerade ist und woran erkennt man, wo es hingehen soll?“

„Ganz einfach!“, rief Loranthus und sprang auf, als wäre er von imaginären Ameisen umzingelt. Ein paar hatten es scheinbar bis auf seine Arme geschafft, er fuchtelte wild in der Gegend herum. „Man misst den Winkel zwischen Zenit, Schiff und Stern mit dem Himmelskompass. Zum Schätzen geht es aber auch mit den Armen. Guck!“

Er streckte beide Hände genau über sich und erstarrte in dieser Position.

„Das ist der Zenit und dort …“ Er bewegte eine Hand langsam von der anderen weg, bis er genau auf die Sonne zeigte. “ … dort ist die Sonne. Bei der Sonne ist es etwas schwieriger, weil man ihre Deklination und Kulmination mit einrechnen muss. Ich kann das auswendig, aber es gibt dafür auch Tabellen, die man zu Rate ziehen kann. Nachts ist es einfacher. Da gibt es Fixsterne. Das heißt: Sie haben immer den selben Standpunkt. Jeder Seefahrer kennt die Sternbilder, in denen sich die Fixsterne befinden. Er muss nur das erste Lineal oder den Arm, wenn er kein Lineal hat, zum Nordstern ausrichten. Das zweite Lineal, nach Berechnung der Korrekturen siehe Listen, die ein Seefahrer auswendig kennen sollte …“

„Schon gut!“

Lavinia sprang auf, streckte ihre Hände hoch, zur Seite, wieder zurück und hopste auf der Stelle, während sie rief: „Ich verstehe nur Sonne und Fixsterne! Mehr nicht! Du brauchst dich also nicht so ins Zeug legen!“

Loranthus sackte mit hängenden Schultern wieder zurück ins Gras und kippte in die Horizontale. Lavinia plumpste daneben, ging wieder in den spitzen Armbeugewinkel und tätschelte ihm mitfühlend den schwarzen Lockenkopf.

„Nicht traurig sein, Loranthus! Ich bewundere dich ehrlich, weil du dir diese komplizierten Berechnungen alle merken kannst.“

„Ach, das ist ganz einfach! Dafür gibt es Geschichten!“, erklärte Loranthus und winkte lax ab.

Geschichten?“ Lavinias Augen wurden ganz groß. Sie zog ein Schnutchen und tippte sich gegen die Unterlippe. „Weißt du, Loranthus, mir fällt gerade ein … Robin möchte doch so gerne in die Welt ziehen. Könntest du ihm vielleicht die Sterne beibringen? Dann würde er immer seinen Weg finden. Und wenn du einmal dabei bist … Kann ich auch mitmachen?“

Loranthus war so verblüfft, dass er in einem Ruck zu ihr herum schnappte und eine Weile brauchte, um mit dem Blinzeln aufzuhören.

„Natürlich!“, jauchzte er schließlich und strahlte übers ganze Gesicht. „Das wäre mir ein großes Vergnügen, Lavinia! Ach, was sag ich, eine Ehre! Endlich mal etwas, was ich jemanden beibringen kann! Heute Abend geht’s los!“

„Perfekt! Prima! Robin wird sich freuen! Also, wie steht es: Willst du nun ein Ildana werden?“

„Du meinst, so wie Lew, euer Barde? Der kann ja auch nicht mehr wie alles.“

„Lew? Der natürlich auch, aber ich dachte eigentlich an unseren Gott Lugh.“

„Euer Gott Lugh? Wegen dem ihr Lugnasad feiert?“

„Ganz genau“, gluckste Lavinia und lächelte süffisant. „Kennst du schon die Geschichte von Lugh?“

Loranthus überlegte.

„Nicht, dass ich wüsste.“

Lavinia rieb sich die Hände und rutschte näher heran.

„Soll ich sie dir mal erzählen?“

„Ich bestehe darauf.“

Wie auf Kommando legten sie sich Seite an Seite und verschränkten synchron die Hände im Nacken.

„Also, das war so“, begann Lavinia und versicherte sich mit einem Seitenblick, dass ihr Zuhörer noch nicht eingeschlafen war.

„Lugh ist ja auf ganz sonderbare Weise gezeugt worden. Seinem Großvater ist nämlich geweissagt worden, dass er durch seinen Enkel zu Tode kommt. Das wollte er natürlich verhindern und deshalb sperrte er seine Tochter schleunigst in einem Turm ein. Dem Druiden Cian gelang es aber dennoch, in diesen Turm einzudringen und ein paar Monde später wurde Lugh geboren. An dieser Stelle gehen die Geschichten auseinander. Eine berichtet davon, dass sein Großvater das hilflose Baby ins Meer schleudert. Ich glaube aber eher der Version, wo sie das Baby aus dem Turm herausschmuggeln und zu einer Amme bringen. Rein logisch gesehen, hatten Lughs Eltern genug Zeit, sich einen Plan zu überlegen; wer in den Turm hineinkam, der musste schließlich auch wieder heraus kommen.

So oder so kommt Lugh Jahre später nach Tara und will in die Königsburg eintreten. Der Wächter will ihn aber nur dann hereinlassen, wenn er eine besondere Fähigkeit vorweisen kann. Lugh ruft also nach oben: ‚Ich bin ein guter Bauer!‘ Doch der Wächter winkt ab, so einen Mann hätten sie schon auf der Burg. Da ruft Lugh hinauf: ‚Ich bin auch ein kunstfertiger Schmied!‘ Aber der Wächter winkt wieder ab und sagt, den hätten sie auch schon. Nun geht es immer hin und her: Lugh ruft hinauf, er sei ein guter Kämpfer mit einer einzigartigen Schwerthand, er könne lieblich Harfe spielen, er sei ein Poet, ein Historiker, ein Astronom, ein Magier, ein kunstfertiger Schuster und beherrsche noch viele andere Handwerke … Doch der Wächter winkt jedes Mal ab und ruft nach unten, so einen hätten sie schon. Da fragt Lugh, ob sie denn auch einen hätten, der all diese Fähigkeiten auf sich vereint. Da muss der Wächter passen und lässt ihn endlich eintreten.“

Lavinia schaute noch einmal nach, ob ihr Zuhörer die Augen offen hatte und sagte feierlich: „So wird Lugh, dank seiner besonderen Fähigkeiten, der neue König von Tara und wir feiern ihm zu Ehren Lugnasad. Lugh hat diese Feier extra für seine Ziehmutter festgelegt, weil er ihr so viel zu verdanken hat.“

„Das war aber eine schöne Geschichte“, seufzte Loranthus. „Noch ein Viertel Mond, dann beginnt Lugnasad.“

„Fährst du danach wieder nach Hause?“, fragte Lavinia und wischte sich verstohlen über die Augen.

Loranthus holte tief Luft, doch sie ließ ihn gar nicht erst zu Wort kommen.

„Gästen gibt man immer ein Abschiedsgeschenk. Eines, was einem selbst viel bedeutet. Daran erkennt man die tiefe Freundschaft und Verbundenheit. Auch ich möchte dir ein Geschenk machen, Loranthus. Hier, guck mal!“ Sie griff hinter sich und zog etwas aus ihrem Gürtel. „Meine Puppe! Viviane und Hanibu haben sie mir genäht. Siehst du die grünen Augen? Das sind die beiden Perlen, die wir zur Sonnenwendfeier noch gerettet haben! Innen drin ist sie mit Duftkräutern gefüllt! Riecht absolut prima!“

Loranthus setzte sich ganz langsam auf und nahm die Puppe in die Hand. Nachdenklich strich er über die Zöpfe aus nussbrauner Wolle und sah Lavinia in die Augen.

„Sie sieht aus wie du“, murmelte er leise und schüttelte entschieden den Kopf. „Lavinia, ich bitte dich! Dieses Geschenk kann ich unmöglich annehmen.“

Lavinia lächelte hoch erfreut.

„Soll mir recht sein! Gleich morgen früh gehe ich mit Viviane und Robin zu Ninive. Sie bekommt bald ihr Baby und Viviane hat uns versprochen, dass wir mal das Hörrohr an ihren Bauch halten dürfen. Dann lauf ich gleich zu Sünna.“

„So, so. Um was willst du unsere Quellgöttin bitten?“

Lavinia lächelte verschwörerisch und stand auf. Er hatte ‚unsere‘ Quellgöttin gesagt. Damit kam sie der Erfüllung ihrer Bitte schon ein Stückchen näher.

„Das darf man doch nicht verraten, Loranthus. Sonst ist Sünna beleidigt und stellt sich quer. Aber dafür lüften heute Medan und Hanibu endlich ihr Geheimnis. Immerzu stecken die beiden ihre Köpfe zusammen, und wer weiß was noch! Hanibu hat bei der Quellgöttin auf Medan gewartet und sie haben sich zusammen bei ihr bedankt, weil sie ihnen geholfen hat. Jetzt sind sie endlich da und nach dem Abendbrot kann es losgehen. Also, aufgehört mit der Träumerei!“

Lavinia sprang auf und wollte Loranthus hinter sich herziehen, aber er war schon auf den Füßen, schnappte sie und schwang sie auf seinen Rücken. Lavinia quietschte hocherfreut und rief: „Hüa, Loranthus, mein stolzes Ross! Der Braten ruft!“

„Hm, Ziegenbraten! Den Bock habe ich selbst abgezogen, Lavinia!“

„Ja, ich weiß, dass du beim Schlachten auf dem Abort gesessen hast!“

 

„Die Blätter zum Abwischen waren alle und keiner hat mich rufen hören!“

„So ein Zufall! Nun aber schnell! Schwing die Hufe, mein edles Ross! Sonst isst uns der König noch alles weg!“

Loranthus erstarrte mitten im Schritt.

„Was will denn der König bei uns?“

„Amaturix hat ihm von dem Geheimnis erzählt, weil er Medan doch dabei geholfen hat. Königin Elsbeth und Elektra sind natürlich genauso neugierig.“

Ha!“, japste Loranthus, knickte kurz ein und rannte los.

So schnell war Lavinia noch nie geritten, außer auf Dina.

Der Bratenduft füllte das ganze Langhaus aus, doch alle standen auf dem Vorbau und warteten auf Arminius, der am äußeren Tor die Königsfamilie empfing.

Loranthus bekam Bauchkrämpfe vor Aufregung und rannte zum Abort. Zum Glück war der gleich hinter dem Haus. Schnell wie der Wind war er wieder da, am Brunnen Hände waschen, zurück auf den Vorbau springen, da kam auch schon der Besuch durchs Torhaus geschlendert.

Ein Abendessen mit der Königsfamilie hatte er sich viel gezwungener und langweiliger vorgestellt, mit Gerede und überschwänglicher Gastfreundschaft. König Gort bedankte sich aber nur sehr höflich bei Arminius und Flora für die Einladung, alle umarmten sich auf dem Vorbau, Loranthus erwischte Elektra sogar zwei Mal, und schon ließen sie sich den Braten schmecken.

Einhellig lobte der Besuch das saftige Fleisch und die wohlschmeckenden Kräuter, das zarte Gemüse und das frische Brot. Wahedon war auch mitgekommen und Loranthus stellte fest, dass er im Gegensatz zu manch anderem Krieger perfekte Essmanieren hatte. Es sah sogar gediegen aus, als er wie die anderen mit einem langen Holzstab das Mark aus den Knochen pulte und so lange schlürfte, bis nichts mehr raus kam.

Nach dem Essen verteilten Lavinia und Robin die Tonbecher, nun wurde erzählt.

Den König interessierte alles: Gesundheit, Viehzeug, Felder … die bevorstehende Getreideernte. Er stakste sogar mit Vivianes Stelzen durch den Raum und wettete mit Amaturix, wer wohl länger darauf balancieren konnte. Natürlich traten auch Königin Elsbeth und Elektra in Wettstreit. Danach saßen sie japsend vor Lachen auf den Bänken und tranken noch einen Becher Tee.

Loranthus hob seinen Becher in die Höhe und rief laut: „Hast du Ackerschachtelhalm im Tee, sind alle Runzeln schnell passé!“

Elektra wäre vor Lachen fast von der Bank gerutscht, wenn sie der König nicht festgehalten hätte, und Flora musste noch eine neue Kanne Tee kochen, weil plötzlich jeder mächtigen Durst hatte.

Um die Wartezeit zu überbrücken, ging Lavinias Stoffpuppe von Hand zu Hand und Königin Elsbeth lobte das rote Kleidchen aus dem Garn, welches sie Hanibu geschenkt hatte. Danach musizierten Viviane, Lavinia und Robin auf der Tin Whistle.

Dass Hanibu und Medan verschwunden waren, bemerkte Loranthus erst, als die beiden zusammen die Treppe herunterkamen und Viviane ihr Lied besonders schwungvoll beendete. Alle rutschten sich erwartungsvoll auf ihren Plätzen zurecht und vergaßen sogar ihren frischen Tee.

Mit offenen Mündern verfolgen sie, wie Medan mit zwei Leintüchern wedelte und diese in einen kleinen schwarzen Holzkasten schob, den Hanibu ihm hinhielt. Der Holzkasten hatte wohlgemerkt keinen Deckel und auch keinen Boden, er war nach vorne und hinten offen, aber die Leintücher waren trotzdem verschwunden.

Lavinia sollte nachsehen und suchte erst einmal den Fußboden um Hanibu ab, dann inspizierte sie misstrauisch die Innenwände vom Kasten und hielt plötzlich ganz verblüfft ein kleines Küken in der Hand. Erst als Robin darin herumwühlte, kamen die Tücher wieder zum Vorschein.

Nachdem das Johlen sämtlicher Zuschauer verklungen war, klapperten Bronzemünzen in hastig leer getrunkenen Tonbechern und verschwanden spurlos. Nicht einmal der König konnte sie herausschütteln, wohl aber Elektras Ohren.

Als nächstes durfte Königin Elsbeth einen sehr langen Strick in zwei Hälften zerschneiden. Hanibu band sich die entstandenen kürzeren Stricke um den Hals und Amaturix sollte mit Wahedon an den Enden kräftig ziehen. Argwöhnisch beäugten beide die Schlinge um Hanibus Hals und weigerten sich, bis Hanibu schwor, dass ihr nichts geschehen würde. Um es ihnen leichter zu machen, legte Medan die Leintücher über ihren Nacken. Also zogen sie … es knackte verdächtig … und sie hielten einen einzigen langen Strick in den Händen. Elektra schrie erschrocken auf, machte daraus jedoch schnell ein Jauchzen und Wahedon begutachtete Hanibus Hals mindestens drei Mal.

Medan schmunzelte wegen seiner Besorgnis, stellte sich neben Hanibu und reichte ihr eine bauchige Kanne aus Zinn, die eine schöne Gravur aus Spiralmustern aufwies.

„Jetzt kommen wir zum Höhepunkt des Abends! Hanibu wird nun Met in Wasser verwandeln! Wer will seinen Met hergeben?“

Medan sah sich erwartungsvoll um, alle hielten ihre Becher fest und der König rief: „Wird das so wie mit den Münzen? Kommt danach bei Elektra Wasser aus den Ohren heraus?“

Amaturix klatschte ihm die Hand auf die Schulter.

„Lass dich überraschen, Bruder! Wenn ich die Kanne nicht selbst mit Medan gegossen hätte, würde ich es auch nicht glauben.“

Hanibu schaute Amaturix, Medan und alle anderen dankbar an, ihre Augen wurden glasig.

„Hanibu! Geht’s auch mit Tee?“, rief Robin schnell.

„Natürlich“, krächzte Hanibu und räusperte sich. „Du musst ihn selber in die Kanne schütten. Ich halte sie fest.“

Stolz postierte sich Robin vor Hanibu und ließ seinen Tee in die Kanne fließen. Nun sollte er seinen Becher festhalten und Hanibu schüttete ihn wieder voll. Robin sah fasziniert zu, trank einen Schluck und rief erstaunt: „Es ist wirklich Wasser!“

Medan sah triumphierend in die Runde und bedeutete Robin, bei ihm zu bleiben.

„Wer möchte aus seinem Met jetzt Tee machen?“

Viviane flüsterte Silvanus etwas ins Ohr. Er flüsterte zurück. Sie schienen zu handeln. Ein wenig zögerlich ging Silvanus zu Hanibu und schüttete seinen Met so langsam in die Karaffe, als würde er jeden Tropfen nachzählen. Heraus kam … Tee. Silvanus nahm es mit dem Nachmessen nicht so genau, zwinkerte Viviane zu und zeigte ihr grinsend den Becher.

Medan hielt Robins Becher mit Wasser in die Höhe.

„Und jetzt: Wasser in Met!“

König Gort trank schnell seinen Becher leer.

„Beim Geweih von Cernunnos! Den muss ich probieren!“

Medan wollte das Wasser in die Kanne schütten, doch der König nahm ihm mit einem listigen Grinsen den Becher ab, probierte sicherheitshalber noch einmal und füllte den Inhalt selbst um. Triumphierend hielt er seinen Becher hin und beobachtete Hanibu ganz genau, als sie ihm eingoss. Er schnupperte argwöhnisch, prostete allen zu und trank genüsslich. Mit einem anerkennenden Lächeln für Hanibu schlenderte er wieder zu seiner Sitzbank und lehnte sich zufrieden zurück.

„Was gibt es besseres als schmackhaften Met! Wenn ich auch nicht gesehen habe, wie ihr das Kunststück fertig gebracht habt.“

Hanibu und Tarian verneigten sich.

„Wir haben noch eine letzte Vorführung, einen Entfesselungstrick. Dafür brauchen wir zwei Freiwillige mit viel Humor, die sich fesseln lassen.“

Alle sahen sich an und überlegten mit deutlichem Vorbehalt im Blick. Tarian klopfte Conall auf die Schulter.

„Komm, Bruder! Jetzt sind wir dran!“

Hanibu nahm einen langen Strick und band ein Ende um Tarians rechtes, das andere um sein linkes Handgelenk.

„Soll ich damit Seil springen?“, fragte er ernsthaft und kontrollierte, ob die Länge reichen würde.

Hanibu schüttelte den Kopf, zog seine Hände auseinander und führte einen anderen Strick hinter dem seinen durch. Diesen band sie an Conalls Handgelenken fest.“

Medan trat nun hinzu und zeigte weit ausholend auf den Verlauf der Seile.

„Wie ihr seht, seid ihr jeder für sich an seinem eigenen Seil gefesselt und nur durch die Seilführung miteinander verbunden. Ihr stellt praktisch die Zahl acht dar. Nun sollt ihr euch voneinander befreien, dürft euch aber nicht losbinden oder gar die Seile durchschneiden. Wenn ihr es nicht schafft, hilft euch Hanibu.“