Der mondhelle Pfad

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„Das hat aber lange gedauert, du Gast aus dem Lande der Kultur und Gelehrsamkeit. Komm! Ich zeige dir den Stamm, den Noeira letztes Jahr behauen hat. Der alte war morsch geworden und da musste natürlich ein neuer her. Mal sehen, ob du errätst, für welchen Festtag er steht!“

„Was bekomme ich, wenn ich es errate?“

„Dann hast du einen Wunsch bei mir frei. Aber darüber muss ich mir keine Sorgen machen, Grieche aus dem fernen Kreta“, feixte Silvanus mit einem besonders spöttischen Zug um die Lippen.

Loranthus konnte schon gar nicht mehr hinsehen.

Beim Anblick der ersten Pfeiler vergaß er allerdings, dass er ein wenig schmollen wollte. Er war nämlich jetzt mit wichtigeren Dingen beschäftigt. Er musste staunen.

Die Schnitzereien waren so detailgetreu aus den Stämmen herausgearbeitet, dass sich seine Hände ganz von alleine ausstrecken, um die glatten Strukturen zu betasten. Ohne Mühe konnte er die abgebildeten Dinge erkennen, ganz alltägliche wohlgemerkt: ein Pflug, eine Sense, ein Mähwerk, das von einem Ochsen über ein Kornfeld geschoben wurde, Ährenbündel, eine Drehmühle, ein Backofen und ein Weib, dass dem Betrachter ein Brot entgegenstreckte; ein Schwarm Bienen, Blumen, Klotzbeuten, Gerste, Dinkel, Fässer, Trinkhörner, Harfen, Flöten, Trommeln, Hörner und Kinnaren. Es gab auch Schnitzereien von tanzenden Weibern mit hervorquellenden Brüsten und Männer mit übertrieben erigiertem Phallus. An denen hätte er Klimmzüge machen können, sie wären nicht abgebrochen. Und wenn doch, wäre er schließlich bei einem Tanzpaar hängen geblieben, das in eindeutiger Pose miteinander verschlungen war.

Loranthus sah plötzlich ein Bacchusfest vor sich, wo es auch nicht anders zuging; seltsame Wehmut überkam ihn. Schnell lenkte er sich mit den nächsten Bildern ab: Leute beim Hausbau, Kinder in hängenden Wiegen oder mit einem Napf in der Hand, Weiber die webten oder töpferten, Männer die Schafe schoren oder schlachteten, ein Rennofen, ein Dreifuß über dem Feuer … alle Tiere, die es hierzulande gab und auch welche, die es nicht gab, Löwen, zum Beispiel; dazu immer wieder Bäume, Sträucher, Obst, Gemüse, Getreide, Kräuter und Runen.

Er machte sich den Spaß und verglich sie mit den griechischen Schriftzeichen. Einige sahen sich wirklich verblüffend ähnlich: Beta, zum Beispiel, oder Delta, Jota, Ypsilon; wenn man ein Auge zudrückte auch Kappa, Ny, Omikron und wenn man zwei Augen zudrückte …

Hinter Loranthus hatten sich die Leute aufgestaut und Medan löste das Problem ganz praktisch, indem er ihn mit ziemlich viel Schwung zum nächsten Pfeiler beförderte.

Loranthus konnte sich gerade noch abfangen, sonst wäre er mit ein paar Kriegern zusammen geprallt − keinen echten, zum Glück. Ihre geschnitzten Abbilder waren zu Fuß unterwegs und mit Schleudern sowie mannshohen Schilden gewappnet. Andere hoben schussbereite Bögen und duckten sich dabei hinter hohe Schilde. Reiter hoch zu Ross streckten dagegen kleine runde Schilde vor und sahen mächtig stolz aus. Noch majestätischer wirkten die Krieger in Streitwagen. Letztere trugen Helme mit verschiedenen Tierfiguren als Schmuck und hielten Doppeläxte oder Speere kampfbereit. Einer hob eine Carnyx an den Mund … Das war der einzige Pfeiler, an dem sich Loranthus nicht länger aufhielt.

Dafür musterte er Noeiras Schnitzereien umso akribischer, denn er erkannte einen Vollmond und Menschen, die Tierbälger über sich gezogen hatten, sogar die Schädel und die Beine waren noch dran. Da gab es Ziegenböcke, Schafböcke, Stiere und Hirsche − also lauter Leute mit Hörnern auf dem Kopf und baumelnden Hufen, bis auf einen mit Eselsohren, aber Hufe hatte der auch. Einer hatte sich einen Hasenbalg über gestülpt und hatte daher nur einen kleinen Schädel auf dem Kopf, konnte sich dafür aber die langen Ohren streicheln; ein anderer trug den Balg von einem Keiler mit einem Paar riesiger Hauer, der nächste ein Federkleid … Kurz: Sämtliche Tiere tanzten um ein Feuer, aßen und tranken, lachten oder waren eindeutig besoffen. Eine Kuh paarte sich höchst obszön mit einem … Bären?

Loranthus musste blinzeln und schon grinste er von einem Ohr zum anderen, weil sein Blick auf einen Mann im Schafspelz fiel. Er sah seltsamerweise Silvanus verblüffend ähnlich. Der Schaf-Silvanus hatte den Mund weit aufgerissen und machte gerade einen Hechtsprung auf ein davon rennendes Ferkelchen, ein echtes wohlgemerkt. Wer von den beiden wohl schneller war?

Silvanus schien jedenfalls keinen Kommentar abgeben zu wollen, er ignorierte Loranthus’ verschmitztes Kichern, zumindest versuchte er es.

„Imbolg“, raunte Loranthus mit Verschwörermiene, schwenkte den Zeigefinger und schnippte schwungvoll gegen den Schafspelz. Es sah fast aus, als wolle er den Mann darunter ein wenig auf die Sprünge helfen.

„Was?“

„Du hast mich schon verstanden, Silvanus“, gluckste Loranthus und nun lachte er einmal zur Abwechslung provozierend überheblich. „Ich habe etwas gut bei dir. Die Szene zeigt euer Mondfest Imbolg. Es wird zu der Zeit zelebriert, in der die Schafe wieder Milch geben und ihre Lämmer gebären, also euer Fruchtbarkeitsfest nach der Wintersonnenwende.“

„Und woher weißt du das so genau?“, erkundigte sich Silvanus mit letzter Kraft und ließ die Schultern hängen.

Loranthus sah sich nach allen Seiten um, ob jemand lauschte, doch er war ja in seine Gastfamilie eingekeilt. Außerdem waren sämtliche Leute vor und hinter ihm damit beschäftigt, die Schnitzereien zu betrachten. Das erforderte enorm viel Aufmerksamkeit, wenn man alles sehen wollte. Dazu kamen noch die neugierigen Fragen der Kinder, die garantiert nichts übersahen und deshalb auch zu jedem Detail etwas wissen wollten − je lauter, umso besser.

Feixend beugte er sich zu Silvanus hin und knurrte leise durch die Zähne: „Weil Imbolg ‚im Bauch‘ bedeutet, um es mal mit anderen Worten zu sagen. Die Menschen, die sich die Tierbälger überstülpen sind nichts anderes als Symbole. Sie stehen stellvertretend für das, was einem Menschen wichtig ist, nämlich die Fruchtbarkeit der Tiere. Keine Fruchtbarkeit − kein Fleisch, keine Milch, keine Butter, kein Käse, keine Wolle, keine Felle … Ergo: lauter Wackelzähne und Schniefnasen und mit der eigenen Fruchtbarkeit sieht’s dann auch schlecht aus.“

„Hm“, brummte Silvanus und schob Loranthus mit besonders viel Elan durch den Osteingang des steinernen Sockels.

Auch die wuchtigen Stämme im Inneren waren mit Schnitzereien versehen, erkannte Loranthus schon von Weitem. Lanze, Schwert, Kelch, Stein, Adler, Schwan, Ente, Rabe, Taube, Hirsch, Stier, Bär … besonders interessant war das große Becken im Zentrum der Dreiergruppen. Loranthus beugte sich neugierig darüber.

Es war aus Basalt und so glatt geschliffen, dass es wie poliert aussah und bläulich schimmerte, aber das war noch nicht alles.

Es hatte kleine Kerben rundherum, in denen bei manchen dünne gelbe Stricke klemmten und sich asymmetrisch überkreuzten. Seltsame Muster … die jetzt abgenommen wurden und zusammengefaltet.

„Es würde mich freuen, wenn wir uns bei nächster Gelegenheit länger unterhalten könnten“, raunte eine tiefe Stimme und Loranthus riss den Kopf hoch.

Da stand Afal mit seinem goldenen Hut und hatte sichtlich Mühe, sich das Lachen zu verkneifen.

„D … das wä … wäre mir eine große Ehre“, krächzte Loranthus und wusste nicht, wo er zuerst hingucken sollte, auf Afal oder auf die Linien und Kreise von dessen Hut.

Er entschied sich für ein ausgiebiges Nicken und erhaschte so einen Blick auf beides; Afal lachte nun ganz offen.

Loranthus hatte aber keine Zeit zum Verlegen sein, denn er musste ja Schritt halten, ob er wollte oder nicht. Schon stand er auf der Westseite und der Clan fächerte sich auf: Bis vorne die Königsfamilie und die Druiden, gleich dahinter die Krieger mit ihren Familien, danach kamen die Handwerksfamilien, die Bauern und als letzte die Sklaven.

Loranthus fand diese Rangordnung äußerst praktisch, er hatte nach allen Seiten gute Sicht. Als erstes drehte er sich nach hinten, denn jetzt konnte er die dünneren Stämme endlich in aller Ruhe betrachten, wenn auch nur die Innenseiten. Seltsamerweise bestanden hier die Schnitzereien aus simplen Kerben, auf den stehenden Stämmen horizontal, auf den aufliegenden Stämmen vertikal … Kerben, Kerben und nochmals Kerben, so weit das Auge reichte … Nach den Gesetzen der Wahrscheinlichkeit also komplett rundherum in Höhe und Breite.

Nachdenklich schüttelte er den Kopf.

Was war hier das Offensichtliche? Das Offensichtliche …

Loranthus visierte noch einmal die Kerben der aufliegenden Stämme an und begann zu zählen. Schon nach zwei Stämmen hörte er auf. Er wusste schon im Voraus, dass es 360 waren. Die Kerben der Pfosten brauchte er auch nicht zählen. Das waren garantiert 90. Nun hatte er das Offensichtliche entdeckt und schüttelte schon wieder grübelnd den Kopf. Er bemerkte gar nicht, wie Afal sich nach Osten drehte und Achtung heischend seinen Arm hob. Silvanus musste ihm deshalb erst den Ellenbogen in die Seite rammen. Auf ein Zeichen Afals gingen alle auf die Knie und es wurde still. Loranthus wollte sein Haupt neigen, doch Silvanus knurrte zwischen den Zähnen: „Du musst hinsehen! Sonst verpasst du den Sonnenkorridor!“

„Sonnenkorridor“, echote Loranthus leise und sah Afal zu, wie er vier goldene Stäbe in einigen Kerben des steinernen Beckens feststeckte.

Einen Wimpernschlag lang betrachtete Loranthus die dünnen Stäbe, dann rutschte er auf seinen Knien so unruhig umher, dass Silvanus ihm die Hand auf die Schulter legen musste.

„Bleib ruhig, Loranthus“, raunte er. „Es passiert dir nichts. Heute wird nichts geopfert.“

„Es sei denn, du willst als Zwiesel enden, wenn du weiter so zappelst“, gluckste Arminius leise und drückte fest auf die andere Schulter von Loranthus, obwohl er dabei an Conall und Tarian vorbei langen musste.

 

„Dann braucht Großmutter Mara nicht bis zum Winter warten“, kicherte ihm Tarian ins Ohr und löste seinen Vater beim Drücken der Schulter ab.

„Du kannst persönlich in der Buttermilch deine Früchte verrühren und das Gemüse in der Suppe“, versicherte Conall und rieb kräftig die Hände gegeneinander, als wolle er einen Zwiesel führen.

Loranthus wirbelte so schnell mit seinem Kopf zwischen Arminius, Silvanus, Conall und Tarian herum, dass er einem echten Zwiesel erstaunliche Konkurrenz machte. Und als seine Hände zwischen den goldenen Stäben und dem gleißenden Gold des Sonnenaufgangs hin und her zuckten, war das Bild perfekt.

„Das ist ein Observatorium!“, flüsterte er aufgeregt und zeigte auf die Holzstämme rund herum. „Damit könnt ihr Mondjahr und Sonnenjahr in Einklang bringen! Und dieser Hut! Afals Hut …“

Silvanus sah ihn übertrieben erstaunt an und wisperte: „Natürlich. Was hast du denn gedacht?! Meinst du, ihr Griechen seid die einzigen, die Zyklen von Mond- und Sonnenfinsternis berechnen können? Afal kann das auch. Was meinst du wohl, woher wir wissen, wann die Tagundnachtgleichen sind, die Sonnenwenden, die Rauhnächte, Samhain, Imbolg, Beltaine, Lugnasad?“

„Ruhe jetzt! Augen gerade aus!“, zischte Arminius und Loranthus klappte seinen Mund kommentarlos zu. Er hatte sowieso keine plausible Antwort parat.

Afal drehte sich zu ihnen um und schien sich prächtig zu amüsieren, hatte also gute Ohren. Er wurde aber schnell wieder ernst, hob die Hände zum Himmel und breitete die Arme in seiner allumfassenden Geste aus.

„Seht, Nachkommen des Cernunnos! Ostara breitet ihren göttlichen Mantel für unseren König aus, auf dass der Strahlende darüber schreite, wie es einem König gebührt: In einer Aura aus Licht, auf goldenem Pfad. Heißt ihn willkommen!“

Ein melodiöser Hornstoß schallte über die Hochebene, ein zweiter setzte ein, ein dritter, ein vierter … Dreizehn Bläser wechselten sich so gekonnt ab, dass man nicht hörte, wie sie Luft holten. Ihr Signal dauerte an, bis die Sonne ihren Scheitel über den Horizont der Thuringer Berge geschoben hatte und in einem gleißenden Kranz aus Licht erstrahlte. Von überall her auf den Bergen hallte Hörnerklang zu ihnen herüber, mal mehr, mal weniger laut. Loranthus stellten sich die Nackenhaare auf, so majestätisch hörte es sich an. Ein Raunen ging durch die Menge, als der erste Strahl über einem spitzen Felsen aufglomm, der am äußersten Rand der Hochebene aufragte. Dieser Finger aus Licht ging exakt zwischen den beiden Pfeilern am Osteingang hindurch und traf den vordersten der goldenen Stäbe auf dem Stein. Sofort flammte der zweite Stab auf und warf seinen Glanz geradewegs auf den dritten, dann strahlte der dritte den vierten an.

Loranthus hätte schwören können, auf den wuchtigen Dreiergruppen Bilder zu sehen, die ihm vorher nicht aufgefallen waren, aber das Licht am Horizont, das Licht auf dem Becken, das Licht der Reflektion, Afals goldener Hut … alles zusammen gleißte derart hell, dass er die Augen fest zusammen kneifen musste.

„Der Sonnenkorridor!“ rief er aufgeregt und schielte mit gesenktem Kopf zu Silvanus. „Beim Pfeil und Bogen von Apoll! Ich glaub, ich werd irre! Ihr habt hier oben auf dem Berg ein Observatorium, ein Kalendarium wenn man so will. Und heute ist die Sommersonnenwende. Da steht die Sonne in ihrem Jahresverlauf am nördlichsten! Ist der Felsensporn dort vorne natürlichen Ursprungs oder habt ihr ihn auf diesem Platz eingegraben? Egal! Jedenfalls geht über diesem Felsen heute die Sonne auf und Apollo schießt seinen Pfeil direkt hierher.“

„Arcturus. Und das Horn ist echt.“

„Was?“

„Der Felsen ist natürlichen Ursprungs“, betonte Silvanus und brüllte fast, damit Loranthus bei dem lauten Hörnerklang auch alles gut verstand. „Und Arcturus schießt seinen Pfeil direkt hierher.“

„Arcturus − Apollo … hört sich für mich einerseits verschieden, andererseits doch ähnlich an! Da gibt es so viele Namen für ein und dasselbe!“, schrie Loranthus zurück.

„Aber weißt du, Silvanus, was mich am meisten verwundert?“

„Sag’s laut!“

„Dass die Symbole gleich sind!“, brüllte Loranthus.

„Ich schätze mal, das ist der Sinn von Symbolen! Hat irgendwie den selben Zweck wie Zeichensprache!“

„Zeichensprache?“, fragte Loranthus verblüfft und vergaß zu schreien, dafür versuchte er ein Auge zu öffnen. Gequält verzog er sein Gesicht, kniff das Auge wieder zu und hob den Daumen. „Zeichensprache.“

Die Hörner vereinten sich zu einem letzten langen Crescendo und verstummten abrupt. Die plötzliche Stille hallte auf eine ganz besonders anrührende Weise nach. Loranthus konnte das erhabene Schweigen nicht nur hören, sondern auch fühlen und jetzt sogar wieder einigermaßen sehen.

Afal, in gleißendes Licht gehüllt, breitete die Arme aus.

„Lasst − die Weihe − beginnen!“

König Gort und Gardan erhoben sich und trugen eine mannshohe Holzstatue zu Afal. Loranthus hatte sie bis jetzt noch gar nicht bemerkt, aber er erkannte sofort, dass es die Figur war, die Noeira bei seiner Ankunft hier, in diesem Land, behauen hatte. Jetzt war sie fertig und irgendwie kam sie ihm bekannt vor. Es war eine Frau mit langen wallenden Haaren. Sie streckte die Hände aus, als wolle sie dem Betrachter einen Schluck Wasser darbringen.

„Hiermit gebe ich dir den Namen ‚Quellgöttin Sünna‘. Möge deine göttliche Gabe allzeit bestehen und all jenen, die dich achten und ehren, zum Wohle gereichen.“

Afal tauchte Birkenzweige in das steinerne Becken und besprengte Sünna mit geweihtem Wasser, bis sie von oben bis unten nass war.

Loranthus überlegte, dass sie auch in das Becken gepasst hätte, wenigstens bis zum Bauchnabel. Aber das hätte wohl zu komisch ausgesehen, wenn sie die Statue dann umgedreht und kopfüber hinein getaucht hätten. Obwohl? Auf dem steinernen Becken wurde auch eine Gestalt kopfüber in einen Kessel getaucht. Sie sah aus wie ein … Mensch. Loranthus sah genauer hin.

Ganz eindeutig: In den Stein waren Symbole und Figuren gehauen. Es waren Krieger. Das erkannte er an ihren Helmen. Der eine hatte Hörner auf seinem, ein anderer eine borstige Wildsau, der nächste einen Hahn. Sie saßen auf Pferden und hielten Schwerter, Äxte und Schilde in den Händen. Hinter ihnen reihten sich Krieger zu Fuß. Sie sahen alle nach vorne zu einem gehörnten Wesen, das einen Krieger an einem Bein gepackt hielt und kopfüber in einen Kessel tauchte.

Loranthus stellten sich die Haare auf und er bekam Gänsehaut. Ihn hatte nicht so sehr die dargestellte Szene erschreckt, sondern mit welch gleichmütigen Mienen die nachstehenden Krieger darauf warteten, dass sie auch dran kämen. Und dieser Gehörnte … dieses Hirschgeweih da auf seinem Kopf … Das konnte doch nur Cernunnos sein. Ganz eindeutig: In der einen Hand hielt er eine Schlange und seinen Torques, den er sonst immer mit der anderen hoch hielt, trug er um den Hals. Das lag wohl daran, dass seine andere Hand schon besetzt war.

Loranthus schluckte laut, als sich Noeira und Taberia erhoben und ihre Babys zu Afal trugen. Conall und Tarian gingen neben ihnen. Loranthus sah ihnen nach, als wolle er sie am liebsten aufhalten, doch gleichzeitig erkannte er, wie stolz sie über den Platz auf das steinerne Becken zu schritten. Auch andere Mütter und Väter betraten den Kreis und Gardan ordnete sie.

Zuerst kam Wahedon mit seiner Frau Mirja und seinem Sohn. Afal machte mit dem Daumen das Zeichen der vier Himmelsrichtungen auf seiner Stirn und sprach: „Hiermit gebe ich dir den Namen ‚Hattu‘, der Behütete. Achte die Götter und sie werden dich achten.“

Wahedon nahm seinen nackten Sohn aus dem Tuch und reichte ihn Afal. Der tauchte ihn komplett, bis über den Kopf, in das Becken mit den seltsamen Bildern und gab ihn zurück. Der Kleine schrie nicht einmal und Wahedon schwoll die Brust, als er ihn der Sonne entgegenstreckte und wieder in das Tuch zurücklegte. Mirja schlug ihn fürsorglich ein und sie machten einen Schritt zur Seite.

Noeira und Conall waren an der Reihe und Belisama bekam nun ganz offiziell ihren Namen. Sie beschwerte sich aber lauthals über das Bad, was alle Zuschauer zum Lachen brachte.

Conall küsste seine strampelnde Tochter und hob sie strahlend in die Höhe. Belisama quittierte seine Freude mit energischen Fußtritten und pinkelte los, was Conalls Arme zusehends länger werden ließ. Geduldig wartete er in gestreckter Vorhalte, und als sie fertig war, versuchte er sie wieder in ihr Tuch zurück zu legen. Noeira kam aus dem Lachen nicht mehr heraus, weil sie einige Mühe hatte, ihre agile Tochter wieder einzuwickeln. Alle Umstehenden freuten sich mit.

Die nächste, die sich über zu viel Wasser beschwerte, war Armanu, und auch Tarian hob seine Tochter lachend der Sonne entgegen. Sie hatte aber keinen Wasserüberschuss, beziehungsweise: Sie hatte schon vorher ihr Einschlagtuch nass gemacht, aber Taberia hatte wohlweislich für Ersatz gesorgt.

Viele Babys schrien und strampelten, ein besonders kräftiges gähnte gelangweilt und reckte seine Fäuste gen Himmel, eins hatte Afal am Daumen erwischt und seinen einzigen Zahn hineingeschlagen, der nächste wollte sein Wickeltuch partout nicht loslassen … alle hatten viel Spaß.

Die Namensgebung ging schnell vorüber und Loranthus staunte nicht schlecht, als Viviane nach vorne ging und auch die anderen Krieger nachkamen. Diesmal musste Gardan niemanden ordnen. Sie kannten ihre Rangfolge genau.

Amaturix ging vor Afal auf die Knie, senkte den Kopf und streckte ihm sein Schwert entgegen. Afal nahm es langsam und tauchte es wie die Babys ins Becken. Loranthus fragte sich, wie tief das Wasser wohl sei und ob er da vielleicht auch hineinpassen würde, wenn er in die Hocke ging.

Da rief Afal auch schon: „Hiermit gebe ich dir den Namen ‚Gabe der Götter‘! Achte das Leben und hüte die göttlichen Gaben!“ Mit diesen Worten reichte er das nasse Schwert an Amaturix zurück.

Silvanus stieß Loranthus an und flüsterte: „Hast du gesehen, wie präzise sie das Schwert parallel zu sich halten und nur mit den Fingerspitzen berühren?“

„Jetzt, wo du es sagst …“, wisperte Loranthus zurück. „Warum machen sie es so umständlich?“

„Wenn man es anders berührt, oder die Schwertspitze auch nur ein kleines bisschen zu dem einen oder anderen hinzeigt, kann das derjenige schon als Provokation deuten.“

„So ein Schwachsinn“, zischte Loranthus leise. „Das ist Afal, der da vorne steht! Ist dir das noch nicht aufgefallen?“

„Kein Schwachsinn, Loranthus. Egal wer es ist, Ausnahmen werden nur bei Kindern gemacht. Und jetzt still! Viv ist dran.“

Viviane beugte ihr Haupt und hielt ihr Schwert exakt zwischen sich und Afal, der es ihr ganz vorsichtig abnahm und ins Steinbecken tauchte. Loranthus dachte an Namen wie: die Unbesiegbare, die Unbeugsame, die Erhabene, die Kühne, die Gerechte, die Glorreiche …

Er war total perplex, als Afal rief: „Hiermit gebe ich dir den Namen ‚Der mondhelle Pfad‘! Achte das Leben und hüte die göttlichen Gaben!“

Was sollte das heißen: Der mondhelle Pfad?! Wollte Viviane aus ihrem Schwert einen Wanderstock machen für einen lauschigen Spaziergang mit Silvanus bei Mondschein?! Doch kein Krieger nannte sein Schwert so, wie es Loranthus erwartet hatte. Und als sie wieder vom Heiligtum herab schritten, erklärte es ihm Viviane selbst, denn nun war der offizielle Teil vorbei und jeder lief, wo er wollte.

„Du musst den Namen fühlen, Loranthus. Das können Wünsche sein oder Versprechen, wichtige Ereignisse in deinem Leben oder andere Dinge, die dir Kraft spenden. Diese Kraft soll mit dem Namen auf dein Schwert übergehen. Es ist dein Beschützer, dein Freund, das Beste was du hast! So ähnlich wie ein Hilfsgeist bei einem Geisterflug. Verstehst du?“

„Deshalb hat Wahedon sein Schwert ‚Für das Leben‘ genannt?“

„Ja, weil sein Weib und sein Sohn ihm alles bedeuten.“

„Du hast beiden das Leben gerettet, Viviane“, bemerkte Loranthus und winkte sofort ab, um ihren Protest zu unterdrücken. „Ich weiß schon! Es stand in deiner Macht. Also. Wann macht man so eine Schwertweihe? Ich meine: Du hast dein Schwert doch schon länger und Amaturix auch und all die anderen Krieger.“

„Das kann jeder machen, wie er will. Jede Sommersonnenwende bekommt man die Gelegenheit dazu. Es kommt nur darauf an, wann du den Namen in dir hörst. Zum Beispiel, wenn sich in deinem Leben etwas Wichtiges ereignet.“ Sie betrachtete ihn schelmisch von der Seite. „Du könntest dein Schwert zum Beispiel …“.

 

Sie machte eine Kunstpause, die Loranthus lachend nutzte.

„ … Elektra nennen?“

„Warum nicht?“ gluckste Viviane. „Aber es sollte sich geheimnisvoller anhören. Wie ‚Sonnenstrahlendes Mondhaar‘ oder so ähnlich.“

Loranthus lachte laut auf.

„Wenn ich jemals mehr als ein Holzschwert führen sollte, dann nenne ich es ‚Verbindung zweier Bänder, die eins waren‘.“

„Wie kommst du denn auf den Namen?“

Loranthus sah sie ernst an und wiegte den Kopf.

„Ich weiß nicht genau, Viviane. Aber in letzter Zeit kommt mir immer öfter der Verdacht, dass mich viel mehr mit deinem Volk verbindet, als meine Liebe zu Elektra.“ Er raufte sich die Haare und stöhnte. „Was soll ich nur machen, Viviane? Ich will sie nicht verlieren, sie kann nicht von hier weg, mein Vater erwartet mich … unsere Händlerdynastie … ich bin sein einziger Erbe …“

Viviane zog seine Hände herunter.

„Jetzt warten wir erst mal vor Tinnes Haus, damit auch die kleine Germania ihre Weihe bekommt. Dann bringen wir unsere neue Statue an ihren angestammten Platz. Viele von uns werden dort eine Bitte an Sünna richten und ihr ein Opfer versprechen, wenn sie unsere Wünsche erfüllt. Vielleicht hast auch du einen Wunsch? Weißt du, Loranthus: Ich habe lange überlegt, bis ich einen Namen für mein Schwert gefunden habe und als ich am wenigsten daran dachte, war er einfach da. Vielleicht ist es ja bei dir genauso. Es gibt so viele Möglichkeiten … Warte einfach auf die richtige.“

Loranthus stöhnte wieder auf und Viviane tätschelte ihm die Schulter.

„Bald, Loranthus, bald.“