Der mondhelle Pfad

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Sie waren erfreut ihn zu sehen, verneigten sich ebenfalls, umarmten ihn, küssten ihn, besonders Iris, die Götterbotin. Sie hatte den anderen bestimmt erzählt, wo sie ihn finden konnten.

Plötzlich schritt Cernunnos mit graziöser Anmut auf ihn zu und wiegte sein majestätisches Hirschhaupt.

Loranthus verneigte sich tief und fragte, ob er sein Geweih berühren und die Enden zählen dürfe. Doch er schaffte es nur bis zu zwei Dutzend und Cernunnos stolzierte weiter, um Esus, Epona, Hall und Ogmios zu begrüßen.

Loranthus sah, wie sie sich gegenseitig voreinander verneigten und lachten, berührten und miteinander bewegten … Epona kam zurück und zog ihn mit sich … Esus drückte ihn fest an sich und zerquetschte ihm fast die Rippen … doch es tat nicht weh, nein, er gab ihm etwas von seiner Kraft ab und da fühlte Loranthus sich so stark … so wild, so unbesiegbar. Er war die pure Energie … er musste tanzen, tanzen und die Götter wollten das auch …

Sie waren so in Verzückung, dass sie genießerisch die Augen schlossen, also tat er es ihnen gleich.

Ja, das war wirklich etwas ganz Besonderes, nun fühlte er die Klänge der Musik sogar auf seiner Haut, auf seiner Zunge, überall … so intensiv.

Die Götter berührten ihn, raunten ihm zu. Sie kannten all seine Fragen, Probleme, Ängste, Sorgen … trösteten ihn, versprachen Schutz, Hilfe für alle Zeit … Sie waren so freundlich, so einfühlsam, so …

Eine Göttin ließ ihre weichen Hände über seinen Rücken gleiten und schmiegte sich von hinten an ihn. Als er sich umdrehte und sie anlächelte, warf sie ihre langen roten Haare über seinen Kopf und drückte ihn zwischen ihre herrlich duftenden Kleider. Ein junger Gott mit Wolfskopf schob aber seine Hände zwischen ihre Leiber. Mit der einen Hand drückte er Loranthus weg, mit der anderen strich er über ihre Schenkel. Die Göttin ließ Loranthus los und schmiegte sich an den Wolfsmann.

Der war nur wenig größer als er! Loranthus wollte sie zurückerobern, doch in diesem Moment presste sich eine schwarzhaarige Göttin seitlich an seinen Rock. Eine Hand ließ sie über seine behaarte Brust wandern und die andere schob sie in sein Gewand.

Loranthus wurde es so warm wie an einem heißen Sommertag in seiner Heimat. Er wandte sich ihr zu, riss sie fest an sich, damit ihm keiner dazwischen kommen konnte, sie lächelte verheißungsvoll, ihre Zunge glitt sanft über seine Lippen, ihre Fingernägel strichen an seinem Bauchnabel entlang.

Da erblickte er eine wunderschöne Göttin mit feinen langen Haaren, so zart und hell wie Mondlicht. Sie lag schlafend unter einem weißen Fell und ihr anmutiges Gesicht war so liebreizend, so herrlich anzuschauen … das konnte nur Aphrodite sein. Er betrachtete sie verlangend, streckte eine Hand nach ihren sanft geschwungenen Lippen aus, doch nein – er wollte ihren göttlichen Schlummer nicht stören. Also folgte er der schwarzhaarigen Göttin.

Hand in Hand rannten sie über die Wiese, da kam ihnen eine üppig gebaute Göttin entgegen, breitete ihre Arme aus und lachte so klangvoll wie Glöckchenklingeln. Sie berührte seine freie Hand mit ihrem heißen Mund und bat ihn um Kühlung. Er half ihr gerne, die schrecklichen Qualen zu lindern und fühlte selbst Hitze in sich aufsteigen. Die schwarzhaarige Göttin erbot sich, ihn abzukühlen und saugte das Feuer von ihm ab, doch dann stand sie selbst in Flammen und Loranthus benetzte ihren zuckenden Leib, um die Flammen zu löschen.

Die Schwarzhaarige erhob sich lächelnd, ließ ihre Zunge wieder über seine Lippen gleiten und hauchte einen Dank in sein Ohr, dann liefen die beiden Göttinnen Hand in Hand davon. Loranthus lehnte sich zufrieden zurück, kraulte seine dichte Brustbehaarung und schaute ihnen selbstgefällig nach, da sah er mehrere Göttinnen über die Wiese schreiten. Er sprang auf und rannte auf sie zu, weil er die Vorderste erkannt hatte.

„Athene! Wo willst du hin? Komm zu mir!“

Athene lächelte ihn freundlich an und drückte ihm die Faust gegen die Brust.

„Loranthus, Zeus hat mir eine wichtige Aufgabe anvertraut. Ich muss mich ihrer würdig erweisen.“

Loranthus fiel nieder, beugte sein Haupt und umschlang ihre Knie. „Oh, Göttin der Weisheit und der Kriegskunst! Aus dem Haupt des Allvaters geborene! Bitte sage mir nur eines: Weißt du, wie es meinem Vater in der Heimat geht? Ist er wohlauf? Ich habe schon Iris gefragt, aber sie hat gesagt, sie hätte ihn noch nicht wieder gesehen.“

Athene sah in weite Ferne, nickte und legte ihre Hand auf seinen Kopf.

„Deinem Vater geht es gut, Loranthus. Er wird dir zu Lugnasad eine Nachricht senden.“

Loranthus jauchzte und küsste ihr vor Freude überschwänglich die Füße. Sein Mund bewegte sich aufwärts, doch er kam nur bis zu Athenes Knöcheln, schon zogen ihre Gespielinnen sie lachend weiter.

Loranthus winkte ihnen strahlend nach und rieb sich dabei die Brust und den Kopf.

Die Stellen, die von Athene berührt worden waren, brannten wie Feuer. Athene war eine mächtige Göttin und bald loderte sein ganzer Körper. Er brauchte Kühlung. Da sah er eine Göttin aus Athenes Gefolge umkehren, eine zweite folgte ihr, eine dritte.

Weisheit verdient Achtung

Es war noch dämmrig, als Loranthus erwachte. Wohlig rekelte er sich ein wenig, behielt aber die Augen geschlossen. Die Vögel zwitscherten so fröhlich, so beschwingt − genauso fühlte er sich.

Ihm war warm, sehr warm. Er hatte die ganze Nacht nicht gefroren. Es ging ihm so gut wie noch nie in seinem Leben. Jetzt wusste er endlich, wie sich Euphorie anfühlen musste, und Ekstase. Bislang hatte er einfach nicht begriffen, wieso diese Gefühle in den Schriften so übertrieben dargestellt wurden. Aber jetzt wusste er aus eigener Erfahrung, dass es so herrlich war − für einen einzelnen Menschen viel zu viel.

Loranthus lächelte verzückt, schlug seine Augen auf und … starrte auf zwei Kuheuter. Er lag zwischen zwei … Erschrocken riss er seinen Kopf hoch, doch davon wurde ihm schwindlig und er kippte wieder auf sein weiches Kuheuter-Kopfkissen zurück.

Stöhnend schnaufte er nach Luft und wollte sich gerade wieder hochstemmen, da klatschte etwas Großes auf seinen Hinterkopf und drückte ihn noch tiefer in die Versenkung. Ein wohliges Seufzen begleitete seine japsenden Proteste, zum Glück ließ der Druck etwas nach und er konnte Luft holen.

Langsam, ganz langsam, weil das große Ding auf seinem Kopf so schwer war, zog er seine Nase aus der Spalte, doch die wurde immer enger und … seit wann hatte ein Kuheuter eigentlich eine Spalte?

Beim Bacchus! Er war aber auch ein wenig schwachsinnig heute! Selbst die Vögel hatten die Lage erkannt und berichteten in voller Lautstärke von seiner Blamage, damit auch jeder gleich hörte, wie er sich hier abmühte. Von ihrer Warte aus war das bestimmt höchst amüsant, aber wenigstens wusste er jetzt Bescheid.

Vorsichtig hievte er die Hand von seinem Kopf und legte sie … Er zog mit einem leichten Schmatzen die Nase aus der Spalte und sah sich suchend um. „Aha! Ein Ersatzmann! Wie praktisch!“ Also legte er die riesige Pranke auf den Kopf des kleinen Mannes, der gleich neben ihm – nur ein wenig tiefer – friedlich schnarchte. Kaum war dessen halbes Gesicht in der riesigen Hand verschwunden, seufzte er wohlig auf und schmiegte auch noch den Rest vom Gesicht hinein.

Loranthus überlegte, ob der Mann wohl genug Luft bekam, und lauschte … Nun, der schnarchte zwar ein wenig leiser, aber er schnarchte noch … da konnte er sich jetzt also unbehelligt steif machen.

Hoch konzentriert stemmte er sich auf seine Fingerspitzen und Zehen, atmete tief ein, atmete aus, nochmal ein … schwang sich in einem Ruck hoch und hechtete zur Seite weg.

Trotz seiner harten Bauchlandung schnellte er in die Hocke, riss die Faust in Siegerpose hoch und sah sich nach seiner Ausgangslage um. Sicherheitshalber blieb er geduckt und betrachtete die Kuh, nein, das Weib, auf dem er gelegen hatte, und das er gar nicht kannte. Ach doch! Einmal, zu Beltaine, war sie ihm aufgefallen. Damals hatte sie ein dürres Männlein bei den Reiterspielen huckepack getragen. Loranthus machte einen langen Hals und spähte über das Weib. Ja, sie musste es sein, denn der schmächtige Mann lag neben ihr, wenn sein Gesicht auch nicht erkennbar war.

Loranthus wischte sich ein paar Schweißperlen von der Stirn, was kaum der Rede wert war, bei dieser Befreiungsaktion. Wichtig war nur, dass der Mann nicht aufgewacht war oder das Weib, so konnte er unbeschadet die Flucht ergreifen. Obwohl: Das kleine Kerlchen sah nicht so aus, als müsse er vor ihm Angst haben. Der war eindeutig ein dürres Ästchen, gar kein Vergleich zu ihm. Trotzdem war Vorsicht besser als Nachsicht. Selbst dürre Ästchen hingen an einem Baum neben starken Zweigen.

Lautlos wollte er gerade wegrutschen, da rekelte sich das Weib plötzlich ausgiebig.

Er konnte nicht einmal „Bei Hera!“ hauchen, da hatte sie ihren massigen Körper schon schwungvoll halb herum gewälzt und grunzte laut, um auch noch den Rest der Strecke zu schaffen, doch Loranthus, mitten in der Bewegung erstarrt, stemmte sich geistesgegenwärtig mit seinem ganzen Gewicht dagegen und sie kippte wieder auf die andere Seite zurück.

Durch den Schwung begrub sie dort leider ihren ein Viertel so breiten Mann unter sich, was ihn nicht zu drücken schien. Jauchzend klatschte er ihr seine Hände auf den Hintern. Sie schmatzte laut auf, schlang ihm auch noch ihre Arme unter seinen Kopf und warf ihre massigen Beine um seine Schenkel. Dann bewegte sie ihre Hüften. Er seufzte wohlig, sie schnaufte stöhnend und beide schnarchten weiter. Das wäre sonst wohl Loranthus’ Schicksal gewesen.

Loranthus wischte sich den Schweiß von der Stirn, der ihm nun in Strömen herab rann, stand auf und wankte zum Waldrand, den er nur undeutlich wahrnahm, weil ihm der Schweiß wohl inzwischen in die Augen gelaufen war.

 

Eigentlich wollte er sich energisch übers Gesicht reiben, aber seine Arme waren plötzlich so schwer und seine Beine so wackelig. Das Gras unter seinen Füßen war so nachgiebig, als würde er über einen Haufen Heu auf einem Leiterwagen laufen, einem fahrenden Leiterwagen wohlgemerkt.

Bei diesem Bild vor seinem geistigen Auge wurde ihm auch schon speiübel. Röchelnd taumelte er weiter und schaffte es gerade noch, einen Baum zu umarmen, sonst wäre er umgefallen. Beim Bacchus, jetzt musste er sich auch noch übergeben, wie ekelhaft! Hinein hatte es viel besser geschmeckt.

Zitternd atmete Loranthus ein, wieder aus und visierte dann drei Bäume zehn Schritte weiter so lange an, bis sie still hielten. Mit der Zeit wurde es besser, die Bäume rutschten zusammen, er sah nur noch den mittleren. Selbst der Leiterwagen war stehen geblieben.

Schnaufend sah er sich um und lehnte sich gegen seinen eigenen Baum. Nein, er schlurfte lieber einen weiter, noch einen.

Hier, zwischen den Bäumen, war es noch duster und es wehte eine kühle Brise, als ob Bruder Wind ihm einen kalten Lappen auf die Stirn legen wolle. Er wedelte auch den Geruch des Erbrochenen weg und Loranthus überlegte kurz, ob er sich den Finger in den Hals stecken sollte, um eventuelle Überbleibsel zu entsorgen, konzentrierte sich aber aus praktischen Gründen lieber aufs Atmen und den frischen Luftzug auf seiner feuchten Haut.

Bald fühlte er sich wieder einigermaßen normal, doch das war ein schwacher Trost, denn nun stand er nicht mehr alleine an seinen zweiten Baum gelehnt. Geübt wie er war, suchte er sich einfach einen neuen, es gab ja genug davon. Auf dem Weg fiel ihm der Spruch mit den Sandalen wieder ein und er sah auf seine, zum Glück sauber gebliebenen, Füße. Er grinste breit. Hierzulande waren sie noch praktischer veranlagt und gingen gleich barfuß. Oh, nein! Kichern war gar nicht gut! Es war so ein erhebendes Gefühl!

Lavinia rekelte sich und erstarrte.

„Was ist denn das?“, murmelte sie schlaftrunken, tastete den seltsamen Gegenstand neben sich ab und riss die Augen auf. „Die Götter haben mir eine … äh …“

Sie hob das Glasgefäß hoch, drehte es prüfend und strahlte übers ganze Gesicht.

„Eine kleine Kanne ohne Henkel. Die Götter haben mir eine Kanne aus Elfenglas geschenkt, weil ich ihnen gestern so leid getan habe! Schau mal, Silvanus! Sie haben mir alle Farben zurückgegeben!“

Voller Stolz reichte Lavinia ihren Fund an Silvanus weiter, der ihn mit anerkennendem Blick betrachtete, und schon ging die Kanne von Hand zu Hand. Jeder bestaunte die vielen Farben und das dünne Glas und beglückwünschte Lavinia zu solch einem außergewöhnlichen Geschenk.

Viviane lugte nachdenklich in den schimmernden Hohlraum hinein.

„Es hat immer seinen Grund, wenn die Götter den Menschen solche Gaben überlassen. Silvanus, du bist unser Glasmacher. Könntest du solch ein Gefäß fertigen? Ich glaube, darüber würden sich die Götter freuen.“

Silvanus nahm ihr die Kanne ab, betrachtete sie fachmännisch und nickte überzeugt.

„Ja, das kann ich. Die Götter haben mir das Wissen dafür gegeben.“ Er schielte zu Viviane und wackelte mit den Augenbrauen. „Epona ist sogar extra gekommen und hat sich von meiner Kunstfertigkeit überzeugt. Sie wollte immerzu die Kanne füllen.“

Loranthus plumpste kraftlos neben Silvanus auf die Kuhhaut. Hanibu reichte ihm eine Schale Gerstenbrei, die er hastig zurückschob. Hanibu drückte jedoch so lange dagegen, bis er sie seufzend annahm und zu löffeln begann.

„Na, Loranthus!“, feixte Medan und machte eine ausholende Handbewegung vom Mund weg. „Hast du die Ameisen gefüttert?“

„Wa? Ameisn?“, schmatzte Loranthus und beäugte argwöhnisch die Kuhhaut, auf der er saß, bis er begriff.

„Hatte ich eigentlich nicht vorgehabt, aber die anderen haben mich sozusagen lauthals und sehr überzeugend … animiert.“ Grinsend schob er sich einen neuen Löffel Brei in den Mund. „Schmeckt gut. Danke, Hanibu. Ich probiere danach auch noch ein Scheibchen vom restlichen Fleisch. Mein Magen ist ja im Augenblick genauso leer wie die Vase dort.“

Er zeigte auf das Gefäß in Silvanus’ Hand und übersah dabei Hanibus erfreutes Lächeln. „Eine sehr schöne Form übrigens. Ich wusste gar nicht, dass auch ihr Gefäße aus Glas macht.“

Kauend betrachtete er die Kanne und zuckte mit den Schultern. „Dachte immer, ihr macht nur Gefäße aus Holz oder Ton oder Metallen oder Horn.“

„Machen wir auch normalerweise, wegen der Bruchsicherheit. Dies hier ist sozusagen ein Unikat, nur zum hinstellen und angucken.“

„Wegen der Bruchsicherheit, verstehe!“, gluckste Loranthus, und über seine Miene huschte ein zufriedenes Lächeln. „Ich hatte schon befürchtet, mir wäre da etwas entgangen.“

„Du meinst, jeder bringt seinen teuersten Besitz in Sicherheit, wenn du im Anmarsch bist?“

Loranthus machte eine wegwerfende Handbewegung, grinste verschwörerisch und wedelte die zweideutige Frage in alle Himmelsrichtungen davon.

„In meiner Heimat gibt es massenweise Glasgefäße. In den Morgenländern weiß man seit Urzeiten damit umzugehen. Ich habe euch doch schon gesagt, das Rezept für Glas ist in Stein gehauen, damit sich jeder etwas mischen kann, wenn er gerade mal Lust hat. Wer sich die Mühe ersparen will, kauft sich natürlich einen riesigen Block am Stück in der Glaserei. Dort machen sie am Tag gleich mehrere Wannen voll. Der Bedarf an Glas ist groß, aber nicht weil das Glas kaputt geht … das kann man jederzeit wieder einschmelzen … im Gegensatz zu Ton … Nein, es ist so vielseitig verwendbar, einfach sehr zweckmäßig.“

„Zweckmäßig. Aha“, machte Silvanus und gab sich geschlagen, doch wenn er schon nicht spotten konnte, wollte er wenigstens wissen: „Und was macht ihr alles damit?“

Loranthus tat so, als müsse er sich eine lange Liste in Erinnerung rufen.

„Nun, um nur ein paar Beispiele zu nennen … Wir füllen Wein und andere Getränke hinein. Jeder, der etwas auf sich hält, hat Karaffen, Trinkpokale, Schalen … auch unsere Wasseruhren sind aus Glas. Es gibt sogar Messer aus dem natürlichen Obsidian, absolut scharf. Glas hat viele Vorteile, es rostet nicht und sieht noch dazu ästhetisch aus.“

„Mit Obsidian kann ich nicht dienen, aber mit Getränken oder Wasseruhren …“, murmelte Silvanus und warf Viviane einen belustigten Blick zu. „Sehr interessant, wirklich Loranthus. Wenn du mir das mal bei Gelegenheit ein wenig näher erläutern könntest, würde ich das auch gerne einmal ausprobieren. Das heißt, wenn Lavinia einverstanden ist, schließlich haben die Götter ihr dieses Geschenk gemacht.“

„Natürlich probieren wir das aus, Silvanus!“, jauchzte Lavinia und klatschte begeistert in die Hände. „Ich kann es kaum erwarten! Vielleicht hat Luis noch einen Rest Himbeersaft! Und diese Wasseruhr interessiert ihn bestimmt auch! Ich frag ihn gleich mal …“

Sie sprang auf, doch Arminius zeigte mahnend auf ihre halbvolle Schale.

„Erst wird gegessen, Lavinia, damit du groß und stark wirst!“

Widerwillig ließ sich Lavinia wieder auf ihre Kuhhaut sinken und schob sich einen Berg Brei zwischen ihre zusammengepressten Lippen. In der Zeit, die sie brauchte, um sich zwischen Sauerei und Sauberkeit zu entscheiden, kam Wadi und setzte sich neben sie.

„Schau mal, Lavinia! Wir haben noch drei Perlen in unserem Feuer gefunden!“ Er zuckte bedauernd mit den Schultern. „Na, ja. Eigentlich sind es keine Perlen mehr. Das Glas ist breit gelaufen. Aber Silvanus kann es bestimmt wieder einschmelzen und macht dir besonders schöne, extravagante Perlen daraus.“

Er legte die bunten Glasscheiben vor Lavinia ab, die einen ziemlich ausgehungerten Eindruck machte.

„Dange, Ongl Wadi“, nuschelte sie mit vollem Mund und stopfte sich schon den nächsten Berg Brei hinterher, den sie energisch zermalmte und hinunterschluckte. „Geschafft! Das ist wirklich sehr lieb von dir, Onkel Wadi!“, versicherte sie nun verständlicher und tauschte ihren Napf mit den Glasscheiben. „Sie gefallen mir auch so sehr gut. Guck mal, wie schön sie glänzen!“

„In meiner Heimat legt man mit solchen Glasscheiben Mosaike“, erklärte Loranthus.

„Was sind Mosaike?“

„Das sind Bilder. Sie werden aus ganz vielen bunten Steinen oder Glas gelegt.“

Lavinia musterte Loranthus fasziniert und hielt ihm eine gelbe Scheibe mit rosa Streifen hin.

„Diese hier sieht aus wie die Göttin der Morgenröte und diese …“ Sie hob eine rote mit lila Rand. „ … sieht aus wie die Göttin der Abendröte. Und die hier … Hm.“

Lavinia hielt die blaue Scheibe hoch und tippte auf einen grün-gelben Streifen, in dem einige Grashalme eingeschlossen waren.

„Sieht aus wie gerade jetzt, in diesem Moment. Als wäre es eine grüne Wiese kurz vor dem Sonnenaufgang. Sogar mit echtem Gras.“

„Apropos Sonne!“, rief Loranthus und klatschte sich auf die Schenkel. „Die römischen Kaiser sehen immer durch geschliffene Brillanten hindurch, damit sie die Sonne nicht blendet. Das hier hätte sicher den gleichen Effekt!“

Silvanus sah ihn nachdenklich an, ließ sich von Lavinia das Glas geben, warf seine langen Haare zurück und erhob sich.

„Etwa so, Loranthus?“

Er machte ein überhebliches Gesicht, stolzierte auf und ab, winkte würdevoll in die Runde und hielt den Daumen hoch oder runter.

Alle lachten. Loranthus wusste jedoch nicht so recht, wie er darauf reagieren sollte, schließlich machten sie sich immer über sein römisches Bürgerrecht lustig. Aber Arminius klopfte ihm gutmütig auf die Schulter und so schmunzelte auch er. Als sich Silvanus graziös auf der Kuhhaut ausstreckte und sich ein zweites Glas vor das andere Auge klemmte, musste er sich schon den Bauch halten. Wie er versuchte, sein Wasser im Liegen zu trinken und gleichzeitig noch zu winken, grölte Loranthus sogar lauter als die anderen und schubste Arminius von der Decke.

Sie waren gerade dabei, sich die letzten Lachtränen aus den Augen zu wischen, als die Hörner erklangen und sie mit schmerzenden Kieferknochen dem abgebrannten Opfer entgegenliefen.

Afal erwartete sie schon, gestützt auf seinen Druidenstab, wie ein müder Schäfer seine behäbigen Schäfchen.

„Nachkommen des Cernunnos!“, rief er entgegen dieser äußeren Erscheinung mit ungeahnt lauter Stimme und zeigte in die Runde. „Die Götter haben uns ihre Gunst bewiesen. Lasst uns diesen besonderen Tag ehren, unser Haupt gen Osten neigen und die Weihe vollziehen.“

Loranthus wollte schon niederknien, doch alle reihten sich der Rangordnung nach hinter Afal ein.

Das ging so schnell, als würden sie es jeden Tag üben. Er jedoch stand mitten im Gewühle, drehte sich unschlüssig hin und her … mit einem Ruck zuckte sein Kopf zurück.

Wie gebannt starrte er auf Afal oder genauer, auf dessen seltsame Kopfbedeckung. Eine höchst skurrile Kopfbedeckung. Ein Riesending von Kopfbedeckung.

Es war ein glänzender Hut, mindestens eine Elle hoch, und er verjüngte sich nach oben wie ein langgezogener Kegel, nein, eher wie ein Finger. Dieser fantastische Hutfingerkegel schien ganz aus Gold zu sein. Seltsame Zeichen waren darauf eingraviert: Kreise, Striche … So etwas hatte er schon gesehen. Aber wo und wann? Vielleicht erst gestern, aber wieso konnte er sich an so etwas Herausragendes, im wahrsten Sinne des Wortes, nicht er … Da kam Silvanus, schnappte seinen Arm und zog ihn zu Arminius und den anderen Bauern.

Loranthus hastete zwar neben ihm her, seine Augen klebten aber immer noch an Afals goldenem Hut. Hinter dem glänzenden Riesenfinger hatten sich der König und die anderen Druiden aufgereiht. Viviane stand neben Amaturix, beide in weiße Gewänder gehüllt. Wann hatte sich Viviane umgezogen?

Silvanus schob Loranthus energisch hinter Tarian in die Reihe und stellte sich daneben, was ihn wieder auf seine eigenen Angelegenheiten aufmerksam machte.

„Wo ist Hanibu?“

„Die läuft hinter Lavinia und Robin.“

„Ah, ja. Jetzt sehe ich sie“, sagte Loranthus nach hinten gekehrt und war sichtlich zufrieden, dass seine Sklavin nicht mit den anderen Sklaven an letzter Stelle laufen musste.

„Wohin gehen wir jetzt, Silvanus?“

„Zu unserem Heiligtum.“

„Das ist oben auf dem höchsten Punkt vom Uhsineberga, stimmt’s?“

„Nicht das Heiligtum. Wir gehen zum Kalendarium.“

„Verstehe“, sagte Loranthus, doch seine Miene strafte ihn Lügen. „Und wieso verneigen wir uns nach Osten?“

 

„Und das fragt einer, der sich mit dem Morgenland auskennt“, gluckste Silvanus und tat so, als ob er ihn besonders argwöhnisch musterte. Da Loranthus aber immer noch wie ein Schaf guckte, sagte er ganz langsam: „Weil bald im Osten die Sonne aufgeht. Wir begrüßen die Sonne nach ihrer Sommerwende.“

„Aha! Geht ihr zur Wintersonnenwende auch zum Kalendarium und verneigt euch nach Osten, wenn die Sonne aufgeht? Ist es dann nicht viel zu kalt?!“

„Zugig und rutschig hast du vergessen. Im Winter schneit es immer ordentlich“, fügte Silvanus noch hinzu und sah, wie Loranthus prompt eine Gänsehaut bekam. Vergnügt rieb er sich die Hände. „Du machst dir ja keinen Begriff, Loranthus! Das wird sogar klirrend kalt und der Atem gefriert einem im Mund und die Zähne klappern wie irre. Wenn man nicht aufpasst, bricht man sich einen ab. Deshalb sollte man durch die Nase atmen. Wenn man Glück hat, bekommt man keinen Schnupfen, sonst gefriert der Rotz und die Nase ist dicht. Dann muss man wieder den Mund aufmachen … Ja, das ist wirklich alles gar nicht so einfach … Was soll der neu geborene Sonnenkönig von uns denken, wenn wir dastehen mit abgebrochenen Zähnen und ellenlangen Eiszapfen an der Nase … Deshalb bleibt man lieber zu Hause und verbringt die Nacht im Stillen. Wenn der alte König stirbt, ist alles still, wie es sich gebührt. Alle warten.“

„Was? König Gort stirbt?“

„Nein. Niemand stirbt wirklich, Loranthus. Ich meinte den Sonnenkönig als Symbol für die Wintersonnenwende. Denk an den Tanz von Elektra und Viviane. Sie haben doch auch nur die Mondgöttin symbolisiert.“

„Und König Gort hat mit Pfeil und Bogen den Sonnengott verkörpert.“

„Ja, genau. Die Wintersonnenwende ist die geweihte Nacht, wenn die Sonne ihren Jahreslauf beendet und einen neuen Umlauf beginnt. Symbolisch stirbt der alte König und der neue wird geboren. Alles beginnt von vorne, ein ewiger Kreislauf.“

„Puh, und ich dachte schon …“

Silvanus klopfte ihm freundschaftlich auf die Schulter.

„Nicht denken, Loranthus! Beobachten, erkennen, wissen.“ Er lachte auf. „Fragen geht natürlich schneller.“

„Deshalb bin ich hier“, seufzte Loranthus und reckte den Kopf, damit er den goldenen Hut von Afal besser im Blick hatte. Der oberste Druide schwenkte gut sichtbar von der Wiese ab auf einen breiten Weg. Alle folgten ihm wie die Schafe zu einer anderen Weide. Loranthus musste sich das Lachen verkneifen und fragte deshalb: „Ist das dieser Königsweg, der vom Uhsineberga zum Dietrichsberg führt?“

Silvanus nickte, deutete aber seitwärts in den Wald hinein.

„Wir folgen ihm nur ein kurzes Stück und zweigen gleich zum Kalendarium ab. Aber keine Bange, der Trampelpfad ist gut gangbar.“

„Etwas anderes hätte ich auch nicht erwartet“, murmelte Loranthus mit Blick auf den goldenen Hut, der nach rechts ausscherte.

Als er kurz darauf selbst vom Wege abbog und einem gewundenen Pfad folgte, gab er es auf, ständig den Hals zu recken. Fasziniert betrachtete er mächtige Tannenbäume und ausladende Kronen riesiger Buchen oder Ahorne. Zwei Männer hätte man gebraucht, um diese Stämme zu umfassen, vielleicht sogar drei.

Ohne es zu bemerken, ging sein Kopf immer weiter in den Nacken und er staunte wie ein kleines Kind, als hätte er noch nie einen Wald gesehen. Das war natürlich Schwachsinn, aber er hätte es nicht benennen können … Er hörte die Stille, obwohl sich die Leute gedämpft unterhielten. Ab und zu erhaschte er auch einen kurzen Blick auf den goldenen Hut, sah Pilze zwischen Gräsern, roch sie sogar. Ein Eichelhäher flog krächzend auf … und da wusste er es: Er konnte den Wald fühlen, mit allen Sinnen erfahren.

Umsichtig stieg er über knorrige Wurzeln, die so dick waren, dass sie tief hinabreichen mussten in die unterirdische Welt. Bewundernd betastete er die raue Borke von uralten Bäumen, die so warm und vielschichtig war wie das irdischen Leben. Andächtig lauschte er dem leisen Wispern von Bruder Wind, der so sachte durch die Wipfel streifte wie Viviane, als sie gestern die Frauen zum Tanzen geholt hatte … und so erhoben sich auch die vielen grünen Blätter und wiegten sich im Takt zu einer seufzenden Melodie … so anmutig … so weit oben … so erhaben … überirdisch.

Loranthus hätte nicht sagen können, wie lange er zwischen den Welten gewandert war, doch unvermittelt war der Wald zu Ende und vor ihm erstreckte sich eine Hochebene.

Kein Baum und kein Strauch stand darauf, aber dafür wurde sie von etwas anderem dominiert: Einem riesigen Steinring, in dem lange Holzstämme steckten. Oben, am Kopfende, waren sie durch Querstämme miteinander verbunden. Ein imposantes Bauwerk, fand er und dachte an einen gigantischen runden Käfig, bei dem die Gitterstäbe zu weit auseinander standen.

Der steinerne Sockel war aus Basaltbrocken, wie alles hier in der Gegend. Er war auch nur kniehoch und daher nichts Besonderes, die gesamte Konstruktion dagegen schon.

Die stehenden Stämme ragten alle pfeilgerade aus dem Sockel und hatten immer den gleichen Abstand zueinander. Damit sie schön senkrecht blieben, brauchten sie natürlich nicht nur Halt am Fuß, sondern auch am Kopfende, und diese aufliegenden Querstämme passten so exakt, dass kaum Fugen zu sehen waren.

Anerkennend schürzte er die Lippen.

Wie er die keltischen Holzhandwerker kannte, hatten sie alles sehr stabil gemacht, durch Spundung und Verzapfung. Selbst bei Sturm, Regen, Eis und Schnee würde dieser Ring stehen bleiben, weil es sich gegenseitig stützte. Ein perfekter, riesiger Kreis aus Stein und Holz, keine Ecken oder Kanten. Ja, warum eigentlich nicht?

Bei näherem Hinsehen bemerkte Loranthus, dass die Aufliegerstämme eine leichte Krümmung aufwiesen. Womit bewiesen wäre, dass die Keltoi alle Hölzer krumm bekamen, wenn sie auch noch so dick waren, und am Ende passte es immer noch zusammen, es sei denn sie wollten mit Absicht eine Spirale machen, was die zweitbegehrteste Figur gleich nach dem Kreis war.

Loranthus wurde plötzlich ganz aufgeregt, weil er in dem Kreis noch einen zweiten erblickte, genau im Zentrum, deshalb war dieser wesentlich kleiner. Er hatte keinen Steinsockel, die Stämme standen von alleine und waren viel dicker, extrem dick, um genau zu sein. Diesmal ragten allerdings immer nur zwei hoch und einer lag quer auf, dazwischen war nichts. Es schien fast so, als stünden die enormen Stämme nur durch ihr eigenes Gewicht. Vielleicht waren sie auch irgendwie in der Erde verankert.

Loranthus reckte den Kopf, damit er besser sehen konnte und zählte schnell durch: Es waren fünf wuchtige Dreiergruppen, und sie waren untereinander wirklich nicht verbunden. Eigentlich bildeten sie auch keinen richtigen Kreis, sondern eher ein Hufeisen. Eine Stelle war nämlich weit offen geblieben und gab den Blick frei auf ein steinernes Becken genau im Mittelpunkt.

„Komm!“, sagte Silvanus und führte Loranthus auf die hölzernen Pfeiler zu. „Der Weg führt uns genau zum Osteingang. Wir müssen das geweihte Land aber erst einmal umrunden. Dann dürfen wir eintreten und stellen uns an der Westseite auf.“

„Aha“, murmelte Loranthus gedankenverloren und seine Augen huschten vom Trampelpfad um den Steinsockel herum zur gegenüberliegenden Seite. „Dort ist also Westen. Aber in welche Richtung müssen wir gehen? Rechts herum oder links herum?“

Silvanus schmunzelte und sah bedeutsam drein, gab aber keine Antwort. Loranthus betrachtete ihn erwartungsvoll von der Seite und achtete nebenbei auf seinen Weg. Das war gar nicht so einfach, und er war gerade dabei, seine Ungeduld in Worte zu fassen, plus seine Miene passend zu verfinstern, da hatte er einen erhellenden Gedanken.

„Jetzt wird mir alles klar wie ein Gebirgsbach! Wir gehen natürlich von Osten über Süden, nach Westen und Norden! Und aufstellen tun wir uns im Westen, damit wir die Sonne sehen können, die nach der Sonnenwende das erste Mal wieder aufgeht.“