Der mondhelle Pfad

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„Ja, ich habe sie schon zu Beltaine bewundert. Perlenketten, Armbänder … lauter herrliche Muster … Du bist ein Künstler, Silvanus.“

Silvanus neigte dankend den Kopf, ruckte aber sofort wieder hoch und sprang mit einem Satz auf seine Füße.

„Robin! Nicht anfassen! Zu heiß!“

Robin winkte ausholend und deutete lachend ins Feuer. Hanibu zerrte ihn ein Stück weg, winkte ebenfalls herüber und nickte zum Zeichen, dass sie ihn gehört hatte. Sie hob ein Schilfrohr hoch, das dort im Gras lag und schwenkte es gut sichtbar. Silvanus schlug die Hände über dem Kopf zusammen.

„Oh nein! Sie hat mich falsch verstanden!“, murmelte er und trat unschlüssig von einem Fuß auf den anderen, um sich schon mal warm zu laufen. Vorerst brauchte Hanibu seine Hilfe nicht, sie stocherte hoch konzentriert mit dem Schilfrohr im Feuer herum. Hinter ihr hüpften Robin und Lavinia und zeigten begeistert auf die Stellen, wo sie noch hin stechen sollte.

Hanibu ließ sich von ihnen nicht aus der Ruhe bringen und hielt alsbald triumphierend ihre Ausbeute in die Höhe. Nebenbei klopfte sie Robin auf die Hand, weil er den Klumpen anfassen wollte und hob Achtung heischend den Finger.

Sofort standen die Kinder stramm und beobachteten mit großen Augen, wie sie in das Schilfrohr pustete und es dabei drehte. Kaum sichtbar, begann sich die Glasmasse aufzuplustern, genau wie Silvanus Wangen. Langsam setzte er einen Schritt vor den anderen und je mehr sich die Glasmasse nach außen wölbte, umso eiliger bewegte er sich vorwärts. Vollkommen fasziniert saugten sich seine Augen an dem bunten Klumpen fest.

Wie er sich aufblähte, unförmig wurde und dann mit einem gekonnten Dreh des Schilfrohrs weiter wölbte und Gestalt annahm … Wie im Traum bewegte sich Silvanus durch die Leute hindurch und jeder, der ihm verwundert in die Augen sah, schloss sich ihm sogleich an.

Hanibu schien von dem Auflauf um sie herum gar nichts mit zu bekommen. Voll konzentriert drehte sie die Masse weiter, immer weiter, dehnte das Glas noch mehr, noch dünner … so dünn, dass alle Zuschauer ungläubig die Augen aufrissen und hektisch mit den Armen durch die Luft fuchtelten, um noch mehr Leute auf dieses Spektakel aufmerksam zu machen.

Natürlich kamen fast alle Ahnungslosen angerannt und sahen gerade noch, wie Hanibu nachdenklich ihr Werk betrachtete, zufrieden nickte und einen brennenden Ast aus dem Feuer zog. Den hielt sie an den Übergang vom Schilfrohr zum Glas und machte es noch einmal heiß.

„Kannst du mit deinem Messer hier abschneiden, Silvanus?“, fragte sie leise.

Silvanus raffte eilig sein Zahntuch aus der Gürteltasche, zückte sein Messer und trennte das Glas mit geübter Hand vom Schilfrohr. Vorsichtig hielt er die entstandene Form mit seinem Wolllappen fest, setzte sie ins Gras und Hanibu nahm ein kleines Stöckchen, um der Schnittfläche ihre endgültige Form zu geben, bevor sie kalt wurde.

Alle Leute in der ersten Reihe hockten sich um die beiden herum, während die dahinter dafür sorgten, dass sie unten blieben und die dahinter ebenfalls … immer schön gestaffelt, bis es nur noch mit Hälse recken ging.

Silvanus, mit normaler Halslänge, deutete mit respektvoller Miene auf die kleine, farbige Glasfigur.

„Das ist wunderschön. So zart und bunt wie die Flügel von einem Schmetterling. Wo hast du eine solche Kunstfertigkeit gelernt?“

„Ich habe es nicht gelernt. Ich habe es bei einem Glasmacher in Massalia gesehen, als sie mich vom Hafen zum Sklavenmarkt geführt haben“, erklärte Hanibu in einem Kauderwelsch aus drei Sprachen.

Silvanus verstand sie trotzdem und nickte versonnen. Voller Bewunderung strich er über die Form und schüttelte langsam den Kopf.

„Ich kann Glasarmbänder aus einem Stück, aber so etwas habe ich noch nie … Ich weiß gar nicht, wofür das gut sein soll. Eine kleine Kanne ohne Henkel aus Glas. Ziemlich unpraktisch. Viel zu dünn. Die zerbricht bestimmt noch schneller, als meine Glasarmbänder. Selbst, wenn sie dickwandiger wäre … Mit der Haltbarkeit von Tonkrügen kann sie nicht mithalten. Lass mich mal nachdenken …“ Stirnrunzelnd betrachtete er das Gebilde von allen Seiten. „Hm. Zart, bunt … man kann was rein tun … wenn das Lavinia nicht aufheitert …“

Er sah sich in der Menge um und suchte Lavinia und Robin. Doch selbst als sich die Leute zerstreuten, waren sie nirgendwo zu sehen. Also ging er mit Hanibu wieder zu ihrem Feuer zurück, denn er konnte sich schon denken, wo sie abgeblieben waren.

Und wirklich, da lagen die beiden nebeneinander unter ihren Decken und schlummerten schon tief und fest. Armanu und Belisama lagen zwischen ihnen.

„Das ging aber schnell!“, murmelte Silvanus und drapierte die Kanne neben Lavinia im Gras. Sie bemerkte es nicht.

Viviane kam mit Tinne über die Wiese, führte sie zu dem Feuer, wo die Krieger mit ihren Frauen saßen und gesellte sich zu ihrer eigenen Familie.

„So, jetzt kann es losgehen. Wenn sie Holz nachgelegt haben, kommt der Eröffnungstanz.“

Loranthus hob erwartungsvoll den Kopf.

„Wer macht den heute? Wieder die jungen Leute wie zu Beltaine?“

„Nein, Loranthus, heute ist ein Sonnenfest. Der König tanzt. Zuerst mit Elektra und dann mit … mir.“

Loranthus beugte sich erstaunt vor, Silvanus noch viel mehr und gab ihr einen Kuss.

Viviane wurde schlagartig rot und ringelte einen Grashalm um ihren Finger.

„Na ja, Loranthus, das ist so: Heute ist der längste Tag und die kürzeste Nacht des Jahres. In dieser Nacht wird aus dem ersten Weib des Sonnenkönigs das zweite.“

Loranthus zog verwirrt die Augenbrauen hoch, Viviane sah hilfesuchend zu Silvanus.

„Ich erkläre es dir“, meinte der auch sogleich, drehte sich zu Loranthus und musterte ihn wie ein Lehrer, der seinen ersten Schüler vor sich hatte.

„Du weißt doch, Loranthus: Der Sonnenkönig hat drei Weiber und sie stehen für ein und dasselbe. Sie symbolisieren den Jahreszyklus von Mutter Natur. Als erste die Jungfrau. Sie steht für die ruhende Erde vor der Aussaat, wenn die Natur erwacht und sich in ihren schönsten Farben zeigt wie eine junge Maid zur Hochzeit. Dann bestellen die Bauern die Felder und Mutter Erde trägt die Saat in sich. Durch sie gedeihen unser Korn, unser Gemüse und unsere Früchte wie ein Kind im Leib eines Weibes.“

„Aha! Jetzt weiß ich’s!“, jubelte Loranthus und wedelte aufgeregt mit den Händen. „Das ist wie bei dem Geisterflug, den Viviane zu Beltaine erzählt hat. Der König mit seinen drei Weibern! Sein zweites Weib hatte ein Kind im Arm und ein Ährenbündel!“ Stolz über seine schnelle Auffassungsgabe, hob er sein Horn und nahm einen Schluck.

Silvanus nickte anerkennend und zeigte auf Viviane.

„Kein Wunder, dass dich der König zum Tanz gebeten hat. Du hast den höchsten Rang. Jede andere Schwangere muss vor dir zurückstehen.“

Viviane nickte und schmunzelte wegen Loranthus. Der nuckelte immer noch an seinem Horn und saugte nebenbei auch jedes Wort in sich ein. Seine Augen huschten mit einem seltsam gierigen Glitzern zwischen ihr und Silvanus hin und her.

„Man munkelt …“, raunte Viviane verschwörerisch. „ … Königin Elsbeth solle ihren Sohn Lothaar beim ersten Göttertanz empfangen haben. Sie durfte ja damals immer für die junge Maid tanzen, obwohl sie vorher schon geboren hatte, nur leider …“

Loranthus spuckte seinen Met aus und schwang hastig das Horn darunter, um den Verlust möglichst gering zu halten.

„Welchn ersdn Gödderdans?“, nuschelte er, während er sich über den Mund wischte und in sein Horn lugte, um den Erfolg seiner Rettungsaktion zu überprüfen.

Viviane schüttelte nachsichtig den Kopf und wischte sich ein paar Tropfen Met von den Armen.

„Den zur Frühjahrstagundnachtgleiche, natürlich. Ihr Sohn Lothaar wurde drei Sonnenfeste später, zur Zeit des Apfelbaumes, geboren.“

Viviane machte ein Gesicht, als ob sie es ihm gleich noch vorrechnen wollte, doch Loranthus hob die Hand, und sie hielt inne.

„Wenn ich dich richtig verstanden habe, Viviane, also … äh …“ Loranthus lugte misstrauisch von einem zum anderen. „Was habt ihr denn hier für seltsame Tänze, von denen man schwanger wird?“

Sein Blick huschte zu Vivianes Kräuterrock und dann schnell wieder hoch zu ihren belustigten Augen, um Silvanus nicht auf falsche Gedanken zu bringen. Doch der prustete seinen Met auch zurück ins Horn und klopfte ihm dabei noch überschwänglich auf die Schulter. Beides tat seine Wirkung: Alle in seiner Umgebung blieben trocken, nur Loranthus musste schon wieder in seinem Horn nachsehen. Der gesunkene Pegel entlockte ihm ein „Bacchus steh mir bei!“ und besagter Bacchus tat natürlich prompt, wie ihm geheißen.

In göttlichem Tempo schlug Loranthus die Hand aufs Horn und machte sich steif … genau im rechten Moment, denn Silvanus wischte sich über den Mund und schlug noch einmal krachend zu. Er war allerdings stärker als Bacchus und Loranthus zusammen.

„Lass dich überraschen, mein griechischer Freund. Ich, für meinen Teil, bin froh, dass Viviane mit dem zweiten Tanz geehrt wird … und außerdem ist es sowieso recht praktisch, wenn zu den Sonnenfeiern die Weiber schon schwanger sind.“

Jetzt prustete Viviane ihren Tee zurück ins Horn, weil Loranthus aus seiner extremen Schräglage hochkam und dabei so komisch von einem zum anderen schaute. Er hatte aber dermaßen viel Schwung, dass er gleich weiter nach hinten kippte und mit Medan zusammenstieß. Der zuckte nicht und beschwerte sich auch nicht, sondern starrte mit finsterem Blick ins Feuer und zerpflückte ein paar Grashalme in winzige Schnipsel.

Loranthus deutete mit den Daumen auf Medan, sah Viviane fragend an und drehte den Zeigefinger neben seinem Kopf.

Viviane schaute strafend zurück, aber ihre Augen funkelten schelmisch. „Hat der Himbeersaft geschmeckt, Medan?“

 

Medan knurrte. Viviane ließ sich davon aber nicht in die Flucht schlagen. Sie setzte sich zu ihm und sah aufmerksam in seine Augen.

„König Gort meinte, der wäre dieses Jahr besonders gut gelungen. Willst du dir noch ein Horn voll holen? In deinem Alter kann man davon ruhig drei oder vier trinken.“

Medan schnaubte, stemmte sich grummelnd hoch und stapfte über die Wiese hinüber zum Fass. Dort standen schon seine gleichaltrigen Freunde und prosteten sich übertrieben laut zu. Auf die Entfernung hörte es sich an wie: „Die Tage sind gezählt. Auf das vorletzte Horn voll Himbeersaft … auf das letzte Horn voll Himbeersaft … Wer noch eins schafft, wird zum Himbeerkönig gekrönt.“ Medan wurde lauthals in der Runde willkommen geheißen und zum Wettsaufen aufgefordert. Johlend stellte er sich den Herausforderern und Silvanus wettete, das er der Himbeerkönig werden würde. Viviane hielt dagegen, die Konkurrenz war stark. Loranthus enthielt sich der Stimme. Sie hatten viel Spaß beim Zuschauen, bis die Hörner erschallten.

Das Feuer loderte blau auf. Afal stand daneben und breitete die Arme aus.

Alle Leute, die noch munter waren, setzten sich in weitem Kreis um das Opferfeuer, die Frauen auf die Ostseite, die Männer auf die Westseite. Medan und seine Freunde brauchten am längsten, sich einzuordnen.

König Gort wartete geduldig, bis alle zu ihm schauten, dann rutschte er von seinem Ziegenfell, ging im Gras auf die Knie und beugte demütig sein Haupt.

Afal drückte ihm einen Kranz aus Mistelzweigen auf den Kopf und überreichte mit erhabener Miene einen Langbogen, der mit herrlichen Schnitzereien verziert war, einen Köcher aus derbem Rindsleder und einen Pfeil, der komplett vergoldet war, oder gar selbst aus Gold bestand. König Gort nahm alles entgegen, ohne aufzusehen und ließ sich von Afal mit einem Birkenzweig schlagen. Klatschend spritzte geweihtes Wasser über ihn hinweg, doch er ertrug jeden Schlag klaglos, obwohl Afal ziemlich derb mit ihm umging, bis er endlich zufrieden schien und mit dem Daumen das Zeichen der vier Himmelsrichtungen auf König Gorts Stirn machte. Nun neigte Afal seinen Kopf vor dem König, machte exakt drei Schritte rückwärts, und der Barde begann zu spielen.

König Gort stellte ein Bein auf und erhob sich majestätisch. Den Bogen und den Köcher mit dem Pfeil hängte er sich quer über die Schulter, verneigte sich noch einmal vor Afal und ging gemessenen Schrittes um das Feuer herum auf Elektra zu, die gleich in der ersten Reihe saß.

Anmutig kniete er nieder und nahm ihre Hand. Elektra neigte demütig das Haupt und verschränkte ihre Finger mit den seinen.

Afal trat heran und streckte dabei einen Kranz aus Gänseblümchen und eine weiße Kuhhaut vor sich aus. Den Blumenkranz drückte er Elektra auf den Kopf, die Kuhhaut drapierte er mit ernstem Blick um ihre Schultern und verband die Enden mit einer vergoldeten Fibel in Form einer Kuh. Jede Bewegung, ja sogar die Mimik, schien vorgegeben, genau wie das Schlagen der Birkenruten, um auch Elektra zu weihen. Afals drei Schritte zurück mit geneigtem Kopf beendeten seinen Part.

König Gort zog Elektra hoch und streckte ihre verschränkten Hände gen Himmel. Bei dieser Bewegung wallte die Kuhhaut weich fließend bis zu Elektras Füßen herab und als sie nebeneinander einher schritten, sah es fast so aus, als würde sie schweben.

Beim Opferfeuer angekommen, nahmen sie die Hände herunter und stellten sich Rücken an Rücken.

Der Barde wartete, bis sie ruhig gerade aus schauten, dann legte er seine Leier zur Seite und nahm eine lange, kunstvoll geschnitzte Holzflöte. Darauf spielte er eine neue Melodie und die Leute klatschten im Takt die Hände zusammen, während König Gort und Elektra jeder einen Fuß vor sich setzten. Den zweiten Fuß schleiften sie auf den Zehen nach, blickten sich noch einmal über die Schulter hinweg an und schritten weiter vorwärts, immer Fuß für Fuß.

Es dauerte keine fünf Schritte, da wurde die Melodie rhythmischer und je mehr sie sich von einander entfernten, desto entschlossener wurde ihr Gang. Dabei bewegten sich nicht nur ihre Hände und Füße, nein, ihre kompletten Körper vollführten seltsame Verrenkungen, König Gort schwang dazu noch Pfeil und Bogen.

Loranthus hatte einige Mühe, jeden Fingerzeig und jeden Fußtritt zu verfolgen, denn er wollte keinen von beiden aus den Augen verlieren.

Silvanus schmunzelte und flüsterte: „Es dauert nicht mehr lange, dann kommen sie sich wieder näher. Du musst wissen, Loranthus: Sie erzählen die Geschichte der Götter. Wie sie die Erde geschaffen haben, wie sie miteinander gekämpft haben, bis sich Dis erhob und alle in die Unterwelt verbannte, die gegen ihn rebellierten. Danach zeugte er unser Göttergeschlecht und herrschte als unser aller Vater, denn auch wir entstammen seinen Lenden, genau wie unser Sonnengott und unsere Mondgöttin. Siehst du, wie König Gort seinen Bogen hält? Wie er seinen Pfeil anlegt? Jede Geste, jeder Wink mit den Fingern, jedes Aufsetzen der Füße, ja sogar jeder Augenaufschlag hat seine Bedeutung. Wenn man die kennt, dann kann man jede Geschichte damit darstellen.“

„Also eine Art Zeichensprache mit dem gesamten Körper.“

„Genau.“

Der Barde begann schneller zu spielen und die Leute schlugen die Hände kräftiger zusammen. König Gort hatte den Bogen wieder umgehängt und umkreiste Elektra hinter dem Feuer. Sie streckten sich die Hände entgegen, beugten sich zueinander und …

Loranthus reckte seinen Hals, doch er konnte es nicht genau sehen, weil das Feuer lichterloh brannte. Drei mal kamen sie zusammen, dann trennten sie sich wieder und tänzelten in den für ihn sichtbaren Radius. Er lauerte schon auf den Augenblick, wenn sie sich das nächste Mal begegneten.

Aha! Sie schritten wieder aufeinander zu, nein, sie schleiften die Füße, umkreisten sich, tänzelten und streckten sich mit eindeutig sehnsüchtiger Miene die Hände entgegen, bis sie sich erreichten. Bei Zeus und allen Göttern! Loranthus stöhnte auf. Der Unterkiefer klappte ihm herunter und seine Hände vergaßen zu klatschen.

König Gort zog Elektra an sich und umarmte sie sehr eng und sehr lange. Zu lange! Und sie bewegten sich noch dazu, als würden sie … Diese verdammte Kuhhaut wallte um sie herum! Nein. Oh, nein! Elektra hatte den König darunter geschoben und raffte die Kuhhaut hinter ihm zusammen. Was flüsterte da der König in Elektras Ohr, das sie zum Lachen brachte? Und ihr Kopf neigte sich nach hinten, ihr Mund öffnete sich und ihr weißer Hals wölbte sich seinen Lippen entgegen?! Jetzt riss sie die Kuhhaut nach hinten, doch kaum standen sie frei, presste der König Elektra noch stärker an sich. Und wieder warf sie die Kuhhaut vor und wieder wanden sich ihre Leiber, diesmal noch wilder. Mit einem Ruck hob er sie hoch, ihre Füße waren nicht mehr zu sehen, sein Oberkörper beugte sich langsam immer weiter nach unten, schwenkte sie dabei in wallenden Bewegungen … sie schrie auf und er zog sie wieder hoch, die Kuhhaut flog diesmal nicht weg …

Als sie sich nach der dritten Umarmung endlich trennten und die zweite Runde begann, sackte Loranthus in sich zusammen und glotzte der Kuhhaut hinterher, als würde er sie gerne in die Finger bekommen, um sie noch ein wenig zu gerben.

Der König schien nun langsamer zu tanzen als Elektra. Seine Schritte wurden kürzer und er brauchte mehr Zeit, um ihr wieder zu begegnen. Loranthus gab ein heißeres Krächzen von sich, stemmte sich von seinen Fersen hoch, um sie besser sehen zu können und zerrte ein Büschel Gras hinterher.

Diesmal umarmten sie sich nicht, sondern hielten sich nur an den Händen und umkreisten sich wieder. Beruhigt glitt Loranthus zurück und lächelte boshaft, als der König noch kürzere Schritte machte und das Gras in seinen Händen ziemlich zermatscht aussah.

Beim dritten Zyklus konnte der König gerade noch eine Hand von Elektra erreichen. Die hob er in die Höhe, führte sie zu ihrem Platz zurück und verbeugte sich zum Abschied. Dann ging er gemessenen Schrittes auf Viviane zu.

Afal stand schon neben ihr, mit einem neuen Blumenkranz und neuer weißer Kuhhaut.

Viviane kniete demütig nieder und ließ sich mit Weihwasser bespritzen. So eine Kuhhaut hatte durchaus auch seine guten Seiten, stellte Loranthus der Fairness halber fest und schielte zu Silvanus.

Der schaute Viviane verliebt hinterher und machte einen mächtig stolzen Eindruck.

„Meine Viv“, seufzte er inbrünstig und griente, als hätte er ein Fass Met allein getrunken. „Sieht sie nicht wunderschön aus? Sie ist mit Abstand das schönste zweite Weib vom Sonnengott, was es bis jetzt zu den Sonnenfeiern gegeben hat.“

Loranthus beäugte ihn misstrauisch von der Seite her und beeilte sich mit dem Nicken. Ehrlich anerkennend, ja, sogar fasziniert, betrachtete er Vivianes Bewegungen und versuchte sich an der Deutung. Ob wohl der Blumenkranz auch etwas zu sagen hatte?

„Die blauen Kornblumen auf ihrem offenen Haar sehen einfach genial aus … azurblau und rotbraun wie … aber Elektras Gänseblümchen haben mir auch sehr gut gefallen.“

„Das kann ich mir vorstellen“, gluckste Silvanus und wackelte mit den Augenbrauen.

Loranthus lugte auf sein Kräuterröckchen herab und zupfte schnell am Beifuß, doch Silvanus sah nicht mehr auf das, was da hervorlugte. Er war jetzt mit Schwanken im Sitzen beschäftigt.

Viviane übernahm in der ersten Runde den Schrittrhythmus von Elektra, gleich darauf drehte sie sich in immer größeren Abständen um den König herum. Trotzdem verrenkte sich Silvanus den Hals und alles was man sonst noch verrenken konnte, um Viviane hinter den Flammen besser sehen zu können.

Loranthus zog einen Schmollmund.

„Warum gehen sie denn nicht wieder so zusammen wie vorhin bei Elektra?“, maulte er in möglichst interessiertem Tonfall.

„Weil der König unsere Sonne symbolisiert. Viviane tanzt für die Mondgöttin. Sie sind der Tag und die Nacht. Zur Sommersonnenwende ist der Tag viel länger als die Nacht. Deshalb berühren sie sich nicht.“

Silvanus leckte sich über die Lippen, als Viviane in ihrer Nähe vorbei zirkelte, jawohl zirkelte, denn sie streckte ihr rechtes Bein weit aus und drehte sich um sich selbst. Prompt geriet Silvanus in extreme Schräglage, was Loranthus zu einen verständnislosen Blick animierte, bis er diesen anmutigen Tanzschritt auch einmal aus dieser Perspektive betrachtete.

„Bei Artemis!“, quiekte er und zuckte wieder hoch. „Als der König vorhin mit Elektra getanzt hat, war das also die Zeit um die Frühjahrstagundnachtgleiche“, versuchte er sich abzulenken.

„Genauuu“, grunzte Silvanus, schmatzte „Früh … jahrs … tag … und … nacht … gleiche“ und schnalzte vergnügt mit der Zunge. „Zur Sommersonnenwende kommt immer der zweite Tanz hinzu.“

„Der mit Viviane.“

„Ja. Oder mit einer anderen Schwangeren. Es ist eine hohe Ehre, für die Mondgöttin zu tanzen.“

„Kann ich mir vorstellen“, hauchte Loranthus schlapp und ließ dazu passend die Schultern hängen. Doch da ruckte er plötzlich hoch und fasste sich ins Genick, als habe ihn etwas gezwickt.

„Dann müsstet ihr zur Herbsttagundnachtgleiche ja drei Tänze haben! Und beim dritten ist der Tag wieder gleichlang mit der Nacht!“

„Ja“, bestätigte Silvanus und erhob sich. „Königin Elsbeth ist dabei immer die Mondgöttin.“

Loranthus sackte zusammen und atmete erleichtert aus, doch da zuckte er schon wieder. Diesmal allerdings mit eindeutiger Schräglage, denn König Gort hatte ihm einen derben Klaps auf die Schulter verpasst.

Loranthus war so verdattert, dass er ihm nur mit offenem Mund hinterher starren konnte, während er verzweifelt um sein Gleichgewicht rang. Der König bekam seine Notlage nicht mit.

Er bewegte sich durch die Reihen hindurch und klopfte jedem Mann auf die Schulter. Keiner kippte zur Seite und Loranthus wurde sich wieder einmal bewusst, dass er nur ein dürres Ästchen unter Knüppeln war. Nein, er war eine Weidenrute, biegsam und geschmeidig! Immerhin hatte er es gerade in die Vertikale geschafft. Und außerdem waren es die anderen Barbaren-Männer gewohnt, einen Klaps vom König verpasst zu bekommen, denn sie feierten schließlich jedes Jahr die Sommersonnenwende auf Barbarenart.

Dass er in seinen Überlegungen richtig lag, zeigte ihm der rabiate Umgang seiner Gastgeber mit ihresgleichen. Johlend schleiften sie alle Leute weg, die eingeschlafen waren. Conall und Tarian zerrten den selig schlummernden Medan besonders grob über die Wiese.

Ganz anders Viviane. Anmutig tänzelte sie durch die Frauenabteilung und berührte jede von ihnen sanft an der Schulter. Sie lächelte auf eingeschlafene Maiden herab, ihre langen Haare wallten über die weiche Kuhhaut, rotbraun auf weiß, alles schwang und wehte … und die Beine … so graziös, so … „Was?“

 

Silvanus zog Loranthus mit einem Ruck auf die Füße, denn er hatte ihn jetzt schon das dritte Mal aufgefordert, mit zu den Fässern zu kommen, wo die Sklaven den Met austeilten. Als er es endlich begriffen hatte, ging er auch ohne Hilfe, wollte aber tatsächlich zum Himbeersaft abschwenken. Silvanus musste ihn quasi vor sich her schieben. Wenn das Medan gesehen hätte … vor allem, dass er sein Horn auch noch nur halbvoll wollte.

Da erklärte Silvanus seinem griechischen Schüler sehr geduldig, dass er einen Teil den Göttern opfern sollte. Sofort ruckten Loranthus’ Augenbrauen nach oben und sein Horn nach vorne über das Fass Met.

„Ein Trankopfer?!“, johlte er und verrenkte sich den Hals, bis er gefunden hatte, was er suchte. „Sehr schön. Mach nur ordentlich was rein, Loth! Wir Griechen lieben Trankopfer! Ach, was sag ich! Wir Griechen sind die Erfinder des Trankopfers, oder präziser: die Nachkommen der Erfinder des Trankopfers!“

„In deiner Heimat gibt es bestimmt viele Sümpfe, Loranthus!“ rief einer irgendwo hinter ihm.

„Oder präziser: In deiner Heimat laufen alle den ganzen Tag mit einem Fass Wein auf dem Buckel rum, damit sie jederzeit für ein Trankopfer gerüstet sind!“ wusste ein anderer.

„Ganz genau. Und weil ihr immer so viel Wein verschüttet, bekommt ihr den Hals nicht voll!“ sinnierte ein weiterer.

„Ja, und deshalb habt ihr auch Sandalen! Da läuft alles besser ab, wenn ihr durch all den vergossenen Wein waten müsst!“

Loranthus nahm vom grinsenden Loth sein Horn entgegen, drehte sich um, reckte die Brust und sagte pikiert: „Wie ich höre, habt ihr eine sehr praktikable Art, Ursache und Wirkung in Einklang zu bringen, bis auf die Fässer. Wir Griechen haben Amphoren aus bruchsicherem Graphittongemisch. Aber Fakt ist eines: „Die Götter selbst haben uns das Trankopfer gelehrt, und überhaupt haben …“

„ … alle anderen auch noch ein leeres Horn, genau wie ich.“

Silvanus schob Loranthus zur Seite und hielt Loth sein Horn hin. Diese Aktion dauerte einen Wimpernschlag, und schon ging Loranthus bereitwillig vor ihm her, ohne weiter zu diskutieren. Dabei machte er ein Hohlkreuz, was an Silvanus’ Finger lag, der ihm ins Kreuz pikte und ihn gleichzeitig zum Opferfeuer dirigierte. Dieses Ursache-Wirkung-Prinzip funktionierte so gut, dass Loranthus seine Augen nicht brauchte und prompt seinen Kopf nach hinten drehte.

„Warum stehen Viviane, Flora, Noeira und Taberia beim Kräutertee?“

„Es ist egal, mit welchem Getränk du den Göttern opferst. Schwangere und stillende Weiber sollten lieber auf den Met verzichten. Du wirst bald selbst erkennen, warum. Komm, wir müssen zur Opfergabe. Afal und König Gort warten schon.“

Loranthus sah zu den beiden und erkannte gleich, dass sie in einer bestimmten Linie am Feuer standen. Afal genau im Osten und der König gegenüber im Westen – jeweils exakt an den Stellen, wo am Morgen die Sonne aufgegangen und gerade eben untergegangen war.

Als alle Erwachsenen mit erwartungsvollen Mienen um den brennenden Wall standen, hob Afal sein Horn.

„Entsprungen euren Lenden, bitten wir euch laut: Kommt zu uns, ihr allmächtigen Götter!“, rief er feierlich und goss einen Schluck Met ins Feuer, dass es zischte.

Auf der anderen Seite hob König Gort sein Horn.

„Vereint seit Anbeginn der Zeit, erwarten wir euch sehnsüchtig. Kommt zu uns, ihr allmächtigen Götter!“

Auch er schüttete Met ins Feuer, und eine neue Dampfwolke quoll zischend empor und stieg zu den Göttern auf.

Nun traten alle Männer von der Westseite vor und gaben aus ihren Hörnern einen Schluck ab, dann waren die Frauen an der Reihe. Der Met schwappte von allen Seiten in die Flammen, es zischte und qualmte unablässig, bis endlich das Feuer die Oberhand bekam.

Als es wieder richtig hoch loderte, streckten alle ihre Hörner gen Himmel, riefen im Einklang: „Erhört unsere Bitte! Kommt zu uns, ihr allmächtigen Götter!“ und tranken.

Plötzlich flammte das Feuer grün auf und goldene Funken stoben hinauf in den Abendhimmel.

Der Rauch hatte jetzt seltsamerweise einen metallischen Geruch.

Loranthus schnupperte und schnupperte. Er wollte unbedingt wissen, nach was es roch, doch er kam einfach nicht drauf. In seine Überlegungen hinein hörte er ein Prasseln, oder eher ein Dröhnen, das in seinen Kopf eindrang, auf seine Brust drückte und sein Herz zum Rasen brachte. Es waren Töne, die er fühlen konnte. Sie beeinflussten seinen Körper und seinen Geist.

Einen Augenblick dachte er, alle Kräuterfrauen des Clans würden hinter ihm gemeinsam die Trommeln schlagen, schneller und schneller. Doch er konnte sich nicht umdrehen; das Dröhnen kam auch von vorne, aus dem Opferwall, wurde immer lauter und greifbarer; sogar die flirrende Luft um das Feuer vibrierte, bis sie plötzlich in einem Gestöber aus Myriaden goldener, grüner, blauer und roter Funken zerbarst.

Ehrfürchtig starrte Loranthus gen Himmel, reckte seine Hände, schrie und staunte mit offenem Mund, genau wie alle anderen um ihn herum. Ein tausendfacher Sternenregen sank schillernd auf die Erde hernieder, ein paar Funken schwebten in seine dargebotenen Hände. Es tat nicht weh, es fühlte sich gut an, so warm, so …

Loranthus wollte sich bei Silvanus erkundigen, ob er es auch so interessant fand, drehte sich also um, riss die Augen auf und schrie noch einmal.

Die Götter waren da.

Sie hoben die Hand zum Gruß und kamen auf ihn zu. Allen voran schritt Apollo, umgeben von einer riesigen, schillernden Aura aus Gold. Er hielt Artemis an der Hand, deren silberne Haare ihr gütiges Gesicht umrahmten und weich wallend ihren schlanken Hals umspielten. Dahinter ging Zeus mit langen nussbraunen Haaren und drückte Hera an seine enorm muskulöse Brust. Besitzergreifend schob er seine kräftigen Hände in ihre üppigen kupferroten Locken, und Thera, die alte Göttermutter, tätschelte ihnen die strahlenden Gesichter.

Loranthus kniff die Augen zu, riss sie erneut weit auf − sie lachten ihn an! Die Götter lachten ihn an, und sie waren zum Greifen nahe! Demeter, Eos, Poseidon, Persephone, Hades, Iris, Hephaistos … Fassungslos starrte er in die Runde, lachte, jauchzte, schüttelte Zeus die Hände, Hera … Sie legte einen Finger auf die Lippen, damit er innehielt und hinhörte, denn es flötete, schellte, rasselte, klopfte, röhrte und heulte schrill oder kehlig …

Er wirbelte herum.

Hinter ihm wiegten sich grauhaarige Musen neben dürren Satyren und spielten eine wundersame Melodie. Einen Lidschlag lang beäugte er die Schellen an ihren Armen und Beinen, die verschiedenen Flöten, Trommeln, Kinnaren, Klanghölzer … und dachte, dass diese verwelkten Kinder der Götter zu alt zum Tanzen sein mussten und deshalb musizierten, sehr gut sogar.

Die Musik fuhr ihm in alle Glieder, riss ihn mit.

Sein Herz wummerte im Takt der Schläge, seine Füße hoben sich von ganz allein und stampften synchron, seine Fingerspitzen zuckten zu jedem Schellenschlag und seiner Kehle entsprangen Laute, die er noch nie gehört hatte. Wie ein lauter Rufer antwortete er den göttlichen Tönen. Seine Beine, Arme, Hände, Hüften … ja, sein ganzer Körper bewegte sich ohne sein Zutun und wurde zum Abbild der Klänge.

Auch die Götter lachten, jauchzten und tanzten um ihm herum.

Sie gebärdeten sich wie toll: zuckten, hüpften, drehten, wiegten, beugten, verrenkten sich und schwangen dabei wild ihre Haare. Ihn überkam der Gedanke, dass alle Götter des Olymps und sämtliche Nymphen gekommen sein mussten, um ihren Schützling so weit weg von Kreta zu besuchen, also schob er sich durch die Menge, schwankte von einem zum anderen und dankte ihnen für ihre Gunst.