Der mondhelle Pfad

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Flora legte Viviane die Hand auf die Schulter.

„Bei dir kann sie unbesorgt alt werden, da bin ich mir sicher.“

„Hm, aber vielleicht nimmt sie sich auch wieder einen neuen Mann? Dann gebe ich sie frei und zwar ohne Rückkauf vom Ehrenpreis.“

Flora tätschelte dankend Vivianes Schulter und die nutzte die Gunst der Stunde.

„Ich will nach dem Abendessen zu Baria.“

Floras Hand rutschte kraftlos an Vivianes Arm herab, und das Lächeln gefror ihr im Gesicht.

„Heute Abend schon? Sonst gehst du doch immer vor Sonnenaufgang? Ist irgendwas passiert? Hast du sie unterwegs im Wald wieder gerochen?“

„Nein, nein, keine Bange, und gerochen hab ich sie auch nicht. Sie weiß doch, dass sie mich nur rufen muss, wenn sie mich braucht.“

„Warum willst du dann so früh los?“

Viviane winkte ab.

„Keine Sorge, Mama! Ich will auf der Lichtung noch meditieren, bis sie zu mir kommt!“

Was!? Du bist wohl nicht ganz bei Trost!? Hast du nicht gesagt, wenn jemand zwischen den Welten wandert, dann bekommt er nichts mehr um sich herum mit, weil der Geist den Körper verlässt? Und da willst du dich in die Höhle des Löwen setzen!?“

Flora fuchtelte wild mit den Händen über Vivianes Kopf herum und schnaubte: „Dein Geist flattert irgendwo in der Gegend herum und dein Körper ruft: Kommt alle her und fresst mich! Ich kann mich nicht wehren!?“

Viviane hielt beschwichtigend die Hände ihrer Mutter fest und zog sie nach unten.

„Jetzt übertreibst du aber, Mama, von wegen Höhle des Löwen …“

„Na, ist doch egal, ob du nun von einem Wolf gefressen wirst oder … da laufen ja auch noch Wildschweine im Wald rum und Luchse und Bären und …“

„Oder ich setze mich aus Versehen in einen Ameisenhaufen und schnipp-schnapp …“

Viviane schlug die Zähne aufeinander. „ … bin ich abgenagt. Jetzt ist es aber gut, Mama! Es hat eben seine Vorteile, wenn man in der Höhle des Löwen meditiert.“

„Ach! Was sollte daran von Vorteil sein?!“

„Na, denk doch mal nach! Wer ist das gefährlichste Raubtier im Wald?“

„Na, eben doch! Der Wolf!“

„Und würdest du als Wildschwein oder Bär freiwillig in die Nähe von einem Wolf gehen?“

„Äh … nein. Da wäre ich ja lebensmüde!“

„Na also! Dann kannst du heute beruhigt schlafen und ich beruhigt wandern.“

Flora gab es auf.

„Ich press noch schnell den letzten Tropfen Saft aus meinen Himbeeren. Das kommt mir jetzt gerade recht. Du willst bestimmt mit den Kindern auf der Tin Whistle üben, wenn sie heim kommen.“

„Ganz recht. Ich gehe mit ihnen in den Baumgarten, da bin ich dir aus dem Weg. Ich habe auch schon ein schönes, beruhigendes Liedchen im Sinn. Es heißt praktischer Weise ‚der heulende Wolf‘.“

Als die Männer heimkamen, summte Flora an ihrer Saftpresse eine melancholische Melodie mit, die von Vivianes kleiner Zinnpfeife ausging, bis die Kinder zu üben begannen. Aber es dauerte gar nicht lange, da hörte sich auch ihr Spiel richtig gut an und sie versuchte es noch einmal mit summen. Nach dem Abendbrot war sie so gut gelaunt, dass sie sich an Vivianes neues Fidchellspiel erinnerte, und schon lagen alle draußen auf den Kuhhäuten, genossen den lauen Sommerabend und gaben Lavinia und Robin nebenbei gute Ratschläge. Damit es nicht zu lange dauerte, hielten sie die Wege kurz und die Kuhhäute eng zusammen. Es war ein ziemliches Gefuchtel und Gerede, doch die beiden wollten gar nicht mehr aufhören, obwohl sie gegen jeden Gegner, der sich ihnen gegenübersetzte oder -legte, verloren.

Verlieren war prima, denn wer verlor, durfte zum Trost den rosa Elefanten, Rosvinia, drücken und mit seiner schlechten Laune füttern, weshalb Rosvinchen sich ihren Bauch mit enorm viel Frust der Verlierer vollfraß. Kaum war sie satt, konnte das nächste Spiel beginnen, bis Robin das Rosvinchen beim Füttern selbst verschlingen wollte.

Im Angesicht dieser drohenden Gefahr für wohlgenährte rosa Elefanten, erklärte Arminius den Abend für beendet und Viviane sprang auf die Füße. Silvanus zerrte sie gleich mit hoch.

Flora stutzte.

„Ich denke, Silvanus darf nicht mit, wenn Baria sich zeigen soll?!“

Silvanus winkte ab.

„Ich begleite sie nur ein Stückchen, Mutter. Da kann ich gleich noch mal nach unseren Pferden sehen.“

Arminius sah von seiner allerallerletzten Partie Fidchell mit Lavinia auf, hielt ihr jedoch sicherheitshalber die Hände fest.

„Aber dass mir keine Klagen von den … Pferden kommen, Silvanus!

Alle um ihn herum kicherten und Conall schlug dabei mit der Hand so kräftig auf die Kuhhaut, dass die kleinen Holzschildkröten in die Luft flogen. Lavinia johlte begeistert und konnte sie schnell zu einem neuen Spiel arrangieren, bevor Arminius eine besonders weit hüpfende Pantherschildkröte eingefangen hatte. Nachsichtig schüttelte er den Kopf über so viel Eifer.

Silvanus griente, hob Viviane wie ein Kind auf die Arme und stolzierte mit folgenden Worten zum Tor hinaus: „Ich trage deine Tochter auf Händen, Arminius, und werde mich bemühen, dass sie sich nie über mich beschweren muss.“

Arminius überprüfte seine enormen Armmuskel.

„Recht so, mein Sohn. Was anderes hatte ich auch nicht erwartet.“

Viviane winkte lachend und Silvanus trug sie durch das Tor um die Palisaden herum.

„Jetzt kannst du mich wieder runter lassen, Silvanus.“

Silvanus schüttelte den Kopf.

„Erst, wenn wir da sind.“

„Aha. Und wo ist das: da?“

„Lass dich überraschen.“

Silvanus ging an den Gattern der Ziegen, Schweine und Gänse vorbei. Selbst bei ihren erbeuteten Pferden machte er nicht halt, lief durch das offene Eichentor zum Dorf hinaus und am kleinen Bach entlang. Der Stier, in seiner Umfriedung aus Hainbuchensträuchern, muhte ihnen kurz nach und graste weiter.

„Warum haben wir erst jetzt das Tor zugemacht? Ich dachte, ihr habt das vorhin gleich erledigt, als ihr von eurem Ausritt gekommen seid?“

„Ich habe Vater gesagt, wo ich hin will, damit er sich keine Sorgen um dich macht.“

„Und, was hat er gesagt?“

Silvanus griente sie vielsagend an.

„Ach, er hat nur gesagt, ich soll das Tor nicht vergessen, sonst muss er noch mal raus und es zumachen. Und das wollen wir doch vermeiden. Dann hat er gelacht.“

Viviane verschränkte die Arme, kniff die Augen zusammen und linste Silvanus durch einen kleinen Spalt heraus an.

„So, so. Und was hat er wirklich gesagt?“

„Viviane! Sehe ich aus wie ein Lügner!? Wenn ich mich recht entsinne, warst du bei unseren Kinderstreichen immer diejenige, der man genauer zuhören musste!“

Vivianes Blick hatte sich noch nicht verändert. Silvanus verdrehte die Augen zum Abendhimmel.

„Na gut, na gut. Aber das ist eigentlich nur was für Männer.“

„Ich hab schon einiges erlebt, was eigentlich nur für Männer ist, Silvanus. Also …“

„Warte bis wir da sind, dann sag ich’s dir.“

Viviane legte ihm wieder die Hände um den Hals, zog einen Schmollmund und kraulte seinen Nacken.

„Nur, wenn’s nicht allzu lange dauert.“

Silvanus seufzte.

„Immer diese Ungeduld von den jungen Stuten. Apropos: Ich hatte zwar auch ein schönes Plätzchen bei unserer Festwiese gefunden, aber damit wäre Vater garantiert nicht einverstanden gewesen. Und meine Arme auch nicht. So, da wären wir schon.“

Silvanus schlängelte sich geschickt durch eine Ansammlung junger Birkenbäume, kniete nieder und legte Viviane ins weiche Moos. Doch sie ließ seinen Hals nicht los, zog ihn neben sich und kuschelte sich schnell in seine Achsel. Den Rest von Silvanus klammerte sie mit einem Bein fest und betrachtete die unzähligen kleinen Birkenzweige um sich herum.

„Das hätte ich mir eigentlich denken können. Unser alter Platz, wo wir früher immer die Wolkenbilder von Vater Himmel beobachtet haben.“ Sie strich über das weiche Moos. „Damals war hier mehr Gras und die Birkenbäumchen waren auch noch nicht da.“

„Hm, hat sich verändert in den paar Jahren und ist richtig schön dicht mittlerweile. Sieht ein bisschen wie unser Birkenhain bei der Festwiese aus, nur in Miniaturformat und von außen uneinsehbar.“

Viviane nickte verschmitzt.

„Fehlt nur noch der Stein unserer Fruchtbarkeitsgöttin, dann ist es perfekt.“

Silvanus öffnete seine Gürteltasche und legte Viviane einen flachen, schwarz-weißen Kieselstein in die Hand.

„Auch eine Miniatur, aber sonst …“

Viviane strich über die glatte ovale Fläche, drehte ihn um und besah sich die schwarze Unterseite.

„Der ist ja fast zweigeteilt. Wo hast du ihn denn gefunden?“

„In der Badestelle, als ich heute vor Loranthus geflüchtet bin.“

Viviane lachte.

„Das kann ich mir gut vorstellen. Du Armer. Und?“

„Was, und!? Ich bin ihm natürlich entkommen und Conall hat ihn erwischt.“

Viviane schob sich halb auf Silvanus und schlang ihr Bein noch fester um ihn.

„Ich meinte eigentlich, was Vater zu dir gesagt hat.“

Silvanus verdrehte die Augen.

„Also gut! Wenn du’s unbedingt wissen willst! Er hat gesagt, ich kann’s ruhig laufen lassen, es wäre ja eh schon alles zu spät.“

Viviane prustete los, warf sich ganz auf Silvanus und kicherte an seinem Hals weiter.

„Vater ist immer so praktisch veranlagt. Aber wenn du denkst, er wäre damit der Einzige, dann hast du dich getäuscht. Nora hat das auch zu mir gesagt, als ich beim Großopfer bei ihr und Harthu gesessen habe.“

Jetzt prustete auch Silvanus los.

„Kann ich mir denken. Bei denen ist ja auch schon alles zu spät.“

 

Viviane fummelte am Haken seines Gürtels herum. Das schwere, kupferne Knotenmuster klappte zur Seite und sie schnurrte ihm ins Ohr: „Na, dann wollen wir mal die Gelegenheit ausnutzten, wenn wir so schön alleine sind.“

Silvanus packte die Hand, die ihm gerade das Hemd hochziehen wollte.

„Erst will ich von dir wissen, wie du dir das nachher vorstellst, bei Baria.“

„Sag ich dir. Aber nur, wenn du das Hemd ausziehst.“

„Warum? Muss man beim Meditieren das Hemd aus haben?“

Viviane lächelte geheimnisvoll und raffte ihm das Hemd über den Kopf.

„Quatsch. Aber mir gefällst du ohne Hemd besser.“

„Gut. Aber dann auch du!“

Er hatte das letzte Wort kaum ausgesprochen, da war Viviane auch schon aufgesprungen, hatte ihren Gürtel aufgehakt und riss sich Überkleid und Unterkleid vom Leib. Silvanus schüttelte grinsend den Kopf und leckte sich die Lippen.

„Gierig wie eine siebenköpfige Raupe.“

„Also pass auf!“ ermahnte Viviane mit hochgehobenem Zeigefinger und setzte sich neben ihn. „Die gierige Raupe setzt sich so in den Runensitz und schließt die Augen.“

Silvanus besah sich Vivianes verschränkte Beine und schlug umständlich seine eigenen ineinander.

„Hm. Ich glaub, meine Beine sind für solche Verrenkungen viel zu lang!“

„An dir ist alles … lang“, säuselte Viviane, hielt aber die Augen geschlossen. „Mit ein bisschen Übung ist das gar nicht so schwer. Jetzt die Hände auf die Knie und entspannen!“

Silvanus fuchtelte mit seinen Händen vor Vivianes Nase herum und zog Grimassen.

Viviane lächelte, ohne die Augen zu öffnen, und knurrte: „Entspannen, hab ich gesagt!“

Silvanus kniff die Augen fest zu und legte betont artig seine Hände auf die Knie.

Viviane brummte zufrieden und gab ihrer Stimme einen beruhigenden Klang.

„Jetzt hörst du den Grillen zu, fühlst den warmen Sommerabend, schmeckst das Aroma des Windes, riechst die Düfte, die dich umgeben und denkst an eine schöne, langsame Melodie. Dein Geist wandert vom Gehirn über deine Augen, deine Nase, deine Lippen, deine Ohren, deinen Hals und über die Schultern, bis hinab in deine Fingerspitzen. Dort gibst du ihn frei und lässt ihn fliegen, weit hinauf zu Vater Himmel.“

Viviane linste durch ihre Wimpern und betrachtete Silvanus’ Hände. Seine Handflächen zeigten nach oben, seine Fingerspitzen spreizten sich auseinander. Er war wirklich entspannt.

„Du kannst jetzt deinen Geist überall hin fliegen lassen und er wird dir die Antworten bringen, die du suchst.“

Silvanus’ Kopf kippte leicht nach hinten und seine Lippen öffneten sich. Viviane griente und streichelte mit ihrer Hand über seinen Rücken.

Ich suche beispielsweise die Antwort auf die Frage, wann wir endlich die Gelegenheit ausnutzen. Ich wollte nämlich nicht erst durch den Wald stolpern, wenn es dunkel ist.“

„Mmmh, mach nur weiter so. Mein Geist kommt schon angeflattert“, brummte Silvanus, schlug ein Auge auf und schielte zu ihr rüber. „Da gibt es nur ein Problem: Ich bekomm den Knoten in meinen Beinen nicht wieder auseinander.“

„Welch eine Misere!“, seufzte Viviane, stand auf, beugte sich über ihn und besah sich höchst nachdenklich seine Stellage. Mit einem „So könnte es gehen“ zog sie seine Hände hoch auf ihre Brüste, empfahl ihm, sich daran fest zu halten und biss sachte in sein Ohrläppchen, während ihr Körper an seinem Bauch hinunter glitt und sie sich auf seinen Knien abstützte.

„Sind deine Beine schon frei? Nein? Nun, wir sollten einfach das Beste draus machen“, hauchte ihr Atem an seinem Hals.

Viviane griente immer noch vor sich hin, als sie schon längst auf dem schmalen Wildwechsel unterwegs war, der sie direkt zu Baria führte. Sie kam schnell voran. Selbst als das Blätterdach dichter wurde, konnte sie alles deutlich erkennen und hörte die Geräusche der Waldbewohner. Obwohl sie sehr leise ging, wurde sie natürlich auch von ihnen bemerkt, aber nicht als Bedrohung wahrgenommen. Nur ein junger Rehbock schreckte bellend auf und huschte mit einer Ricke davon ins Dickicht. Kaum waren sie verschwunden, knackten dort die Zweige und ein leises Quieken verriet, dass eine Rotte Wildschweine ebenfalls flüchtete.

Viviane übersprang dagegen geräuschlos-leichtfüßig den kleinen Gebirgsbach und kam bald darauf zum Rande der Lichtung, auf der sie und Baria immer zusammentrafen.

Abwartend blieb sie stehen, strich sachte über ihre Lieblingsbirke und sog deren typischen Geruch ein. Sie war in den paar Jahren noch ein Stück gewachsen, das war ihr bisher noch gar nicht aufgefallen, wohl wegen der sonst herrschenden Dunkelheit. Auch die blaugrünen Gräser wiegten sich heute nicht silbrig schimmernd im Nachtwind, sondern verschmolzen mit dem blaubeerfarbenen Abendhimmel. Ihre winzigen Ähren standen filigran über den weichen Grasbüscheln wie zarte Kunstwerke, geschaffen von Meisterhand.

Viviane betrat die Wiese, ließ ihre Finger darüber streifen. Flauschige Hummeln brummten behäbig an ihr vorbei und auch die flinken Bienen schwirrten noch emsig zwischen rotem Klee und blauen Lupinen hin und her, während sie ihre Schritte bedächtig setzte, um sie nicht zu stören.

Langsam bewegte sie sich auf ihren alten Baumstumpf zu, doch diesmal setzte sie sich nicht darauf, sondern davor ins Moos. Lächelnd strich sie darüber, sah sich noch einmal auf der Lichtung um und zog die Beine ineinander. Die Hände legte sie auf ihre Knie, den Kopf lehnte sie an das alte Holz, seufzend schloss sie die Augen.

Das Moos war angenehm warm und weich, Gras und Kräuter verströmten ihre Düfte, Bienen summten leise, friedlich. Die Vögel zwitscherten wesentlich lauter und machten das Lied der Dämmerung vollkommen.

Viviane öffnete leicht ihre Lippen, atmete langsam ein. Die laue Nacht legte sich auf ihre Zunge. Die Mondgöttin rief ihren Geist zu sich.

Behäbig floss er durch ihren Körper und quoll hinaus wie ein Bach aus seiner Quelle. In einem schmalen Rinnsal rann er zum Waldrand, schlängelte sich zwischen den Buchen und Birken hindurch und rieselte knisternd über die trockenen Nadeln unter den mächtigen Tannen. Das gleichmäßige Summen blieb auf der Wiese zurück, auch das Tschilpen wurde leiser wie ein abklingendes Harfespiel, gezupft auf göttlichen Saiten, sanft, einfühlsam.

Die Vögel verstummten ganz und sahen neugierig dem Rinnsal hinterher, das sich an den knorrigen Wurzeln der alten Eichen entlang wand, immer weiter, bis es sich endlich mit dem klaren Gebirgsbach vereinigte. In diesem Augenblick legte die Göttin der Nacht ihren diamantbesetzten Mantel über ihren Vater Himmel und der Bachlauf erstrahlte im Glanz der Gestirne, spielte mit ihnen Verstecken. Bald aber standen die Bäume so dicht, dass selbst das helle Mondlicht ihre Wipfel nicht mehr durchdringen konnte und der Bach gewann das Spiel.

Freudig umspülte er die Steine und passte sich sanft den Windungen seines alten Bettes an. Von überall her kamen kleine Rinnsale herbei und vereinigten sich mit ihm, ließen ihn anschwellen, manchmal sogar ein wenig tosen. So plätscherte der Gebirgsbach lange im Dunkeln dahin, ohne den Verlauf zu sehen, einfach nur, weil es sein ureigener Weg war, den er immer nahm.

Ganz allmählich öffnete sich der düstere Wald zu einer Aue.

Silbern schwankten lange Gräser im diffusen Licht der Mondgöttin und wiegten sich in den Armen von Bruder Wind. Der Bach aber wand sich nun nicht mehr in engen Kurven, sondern wurde breiter, ruhiger. Gemächlich strömte er an großen Felsblöcken vorbei, die zwischen seinem Bett und einem schmalen Wiesenweg lagen. Etwas Animalisches ging lautlos darauf, bewegte sich geschmeidig.

Der Rhythmus seiner Schritte passte sich der Geschwindigkeit des Wassers an. Mühelos übersprang es die Felsen, trennte sich nie vom Bach und schaute auf das Ende des Weges, wo das Mondlicht in einem stillen See glitzerte. Der Bach ergoss sich hinein, kam zur Ruhe, schlief ein.

Am anderen Ufer ragte ein riesiger Opal empor. Ein Schwert steckte darin. Die Göttin der Nacht strich mit ihren silbernen Fingern über die beiden Drachen, die darauf eingraviert waren und sich um einen Baum wanden. Das Wasser spiegelte das Mondlicht, warf es gegen das glänzende Schwert und es sah fast so aus, als würden sich die Drachen im Takt der Strömung bewegen.

Lautlos, bedächtig trat eine Wölfin aus den Schatten der Nacht und legte eine Pfote auf den schwarzen Edelstein. Schon tasteten sich die Finger der Nachtgöttin ganz sanft an den Krallen entlang, streiften den Lauf und warfen schließlich behutsam einen Mantel aus Mondlicht über ihr gesamtes grau-braunes Fell. Vollkommen still verharrte die große Gestalt der Wölfin in majestätischer Würde, kraftvoll, animalisch, überflutet von einer Aura aus Silber. Selbst ihre wachsamen, klugen Augen beobachteten erhaben das schlafende Wasser, das sich in ihnen widerspiegelte, sie schimmern ließ wie polierte Bernsteine.

Viviane schlug die Augen auf, sah ihrerseits in die gelb-braunen Augen von Baria und lächelte. Auch die Wölfin schien zu lächeln und als Vivianes Hand sich auf ihre Pfote legte, schloss sie ihre Augen. Ein wohliger Laut kam aus ihrem tiefsten Inneren. Viviane ahmte den Laut nach, kniete sich vor die Wölfin und umarmte sie.

Baria schmiegte ihren Kopf an Vivianes Hals und beide sogen den unverwechselbaren Duft der anderen ein. Gemächlich legte sich Baria ins Moos, ließ sich von Viviane streicheln und kämmen und lauschte der ruhigen Stimme ihrer Mutter.

Später verstaute Viviane die ausgekämmten Haare in einem Holzdöschen und legte sich ebenfalls ins Moos. Baria rollte sich neben ihr zusammen und schob ihren Kopf in Vivianes Achsel. Eine Pfote legte sie auf Vivianes Unterbauch.

Schweigend genossen beide die wohlige Wärme des geliebten Wesens, bis es plötzlich gegen Barias Pfote klopfte. Viviane hob den Kopf und sah verdutzt auf Barias Pfote, doch die Wölfin ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Dann begriff auch Viviane, wer da gegen ihren Bauch geklopft hatte.

„Das war das erste Mal, dass ich es selbst gespürt habe“, flüsterte sie strahlend und kraulte Baria mit der einen Hand die Ohren. Die andere legte sie über ihre Pfote.

„Weißt du, es ist schon seltsam, dass ich mich deine Mutter nenne, Baria. Wo du doch viel früher gemerkt hast, dass ich ein Kind erwarte, als ich selbst. Da kannst du mal sehen, wie viel mein menschlicher Instinkt wert ist gegen deinen animalischen. Hm. Woran das wohl liegt, dass ich da nicht mithalten kann. Vielleicht, weil mein Leben einfacher ist als deines. Du bist der Jäger, immer auf der Hut, um zu überleben. Und ich …“

Viviane gluckste leise und sah Baria in die wachsamen Augen. „ … kann noch viel von dir lernen. Doch nun steigt Ostara über den Horizont, umhüllt von ihren schönsten goldenen Gewändern. Es wird Zeit für uns.“

Baria erhob sich und legte ihrer Ziehmutter die Pfote auf die Schulter, so, wie es Viviane mit ihr machte, wenn sie sich hinlegen sollte. Viviane verstand und wartete geduldig, bis Baria wiederkam.

Sie war nicht allein.

Drei kleine Wölfchen folgten ihr und tapsten zielstrebig auf Viviane zu. Sie beschnupperten ihre Hände, kletterten über ihre Beine und drehten sich ein paar Mal um sich selbst. Nach kurzem Gerangel hatte jeder einen Platz auf Vivianes Kleid gefunden und sie kuschelten sich eng aneinander. Viviane streichelte Baria mit der einen und ihre Jungen mit der anderen Hand.

Nach einer Weile erhob sich Baria und trug ihre Kleinen der Reihe nach wieder in den Bau. Sie kam noch einmal zurück und legte Viviane ihre Pfote aufs Knie. Viviane legte ihre Hand darüber.

„Wenn du mich rufst, werde ich da sein. Wenn ich dich rufe, wirst du da sein. Bis bald, meine Tochter.“