Kunstmord

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«Ach?», sagte er, begierig, mehr darüber zu erfahren, doch er war kein Freund vieler Worte.

«Pinselheinrich hat einige Motive am Mariannenplatz gemalt. Die haben hier reißenden Absatz gefunden.»

Victor konnte sich das gut vorstellen. Denn obwohl seine eigene Kunst in eine vollkommen andere Richtung ging, faszinierte ihn die Art, wie Zille seine Milieustudien betrieben hatte. Die Figuren wirkten so lebendig, und selbst den Schurken musste man eine gewisse Sympathie entgegenbringen, so wie Zille sie darstellte.

Victor nahm all seinen Mut zusammen. «Könnten Sie sich vorstellen, auch meine Bilder einmal hier auszustellen?»

Der Wirt spreizte Daumen und Zeigefinger der rechten Hand und stützte sein Doppelkinn darauf. «Dazu müsste ich erst einige Bilder von Ihnen sehen, junger Mann. Und wenn ich ehrlich bin … Normalerweise müssen die Künstler schon einen gewissen Ruf haben, bevor ich meine Wände mit ihren Gemälden schmücke.»

«Wie soll man sich denn einen Ruf erwerben, wenn alle mit demselben Argument eine Ausstellung ablehnen?» Victor senkte den Blick, und so sah er auch nicht das wohlwollende Lächeln von Felix Fournier.

«Manchmal muss man einfach zur richtigen Zeit am richtigen Ort sein, junger Freund.»

Doch Victor hatte der Mut bereits wieder verlassen, und so hatte er dem Wirt nie eines seiner Gemälde vorgelegt. Trotz allem zog es ihn immer wieder einmal hierher.

So auch heute.

Als er die Tür öffnete, drang Stimmengewirr zu ihm hinaus. Beinahe hätte er wieder kehrtgemacht, doch er sah ein, dass er sich nicht ewig verstecken konnte. Ein Künstler brauchte Inspiration, und diese würde versiegen, wenn er nicht hin und wieder seine kreativen Quellen auffüllte und etwas erlebte.

Unruhig um sich blickend, schlängelte er sich zwischen den schwitzenden, lachenden Männern zum Tresen durch und bestellte eine Molle. In der hintersten Ecke hatte er ein kleines Tischchen ausgemacht, an dem sich noch niemand niedergelassen hatte. Er ging dorthin, den Kopf gesenkt, den Blick fest auf den Tisch gerichtet, um nur niemanden an einem der anderen Tische ansehen zu müssen.

Was war er nur für ein Künstler, der sich weigerte, die Atmosphäre jederzeit in sich aufzunehmen! Hier lagen Motive vor ihm, er müsste sie nur ansehen! Victor war sich dessen sehr wohl bewusst, doch erst mit der Wand im Rücken, im Schutze der kleinen Ecke, hinter dem Tisch verschanzt, wagte er, aufzublicken und die Szenerie auf sich wirken zu lassen.

Geschäftsmänner sah er keine. In dieser Gegend verkehrte das einfache Volk – die Hautevolee würde man im «Max und Moritz» vergeblich suchen. Trotz des literarischen Bezugs im Namen des Lokals kreisten die meisten Gespräche der Gäste nicht um Literatur, sondern um ihre Arbeit und um das weibliche Geschlecht, das von jeher ein beliebtes Thema in jenen Etablissements zu sein schien.

Ein sehr beleibter Kerl, vielleicht Mitte vierzig, geriet am Nebentisch in Streit mit einem hageren Jungen, den er offenbar vergeblich dazu überreden wollte, eine der Prostituierten aufzusuchen, die in der Nähe ihren Geschäften nachgingen. Der Junge lehnte die käufliche Liebe samt und sonders ab, was ihm den stillen Beifall Victors eintrug. Dieser konnte gar nicht anders, zückte das Skizzenbuch, das er stets in der Jackentasche bei sich trug, und zeichnete die Streithähne mit flinken Strichen.

Inzwischen hatte der Dicke den Tisch verlassen, abgewinkt, den Jungen einfach sitzenlassen und war schwankend durch das Lokal auf die Straße gegangen. Der Junge saß nun unschlüssig da, blickte in die Runde und erwischte mit seinem Blick auch irgendwann den skizzierenden Victor.

«Was machst ’n da?» Er stand auf und beugte sich über den Tisch.

Victor, dem es unangenehm war, dass die skizzierte Person ihn bei seiner Arbeit ertappt hatte, legte rasch die Hand über seinen Block.

«Komm, ich lache auch nicht! Zeig mal!» Er nahm Victors Hand vom Block, blickte staunend auf die beiden Streithähne im Bleistiftstrich und pfiff anerkennend durch die Zähne. «Den Dicken haste hervorragend getroffen! Und das dürre Männchen soll wohl ich sein?»

Victor nickte zögernd und hoffte, dieser Mensch würde sich rasch entfernen, als der auch schon an seinem Tisch Platz genommen hatte.

Er streckte eine Hand aus. «Alfons Lauterbach mein Name. Ich mach auch Kunst!»

Oh, wie sehr Victor diese Menschen hasste, die glaubten, auch für die Kunst geboren zu sein, nur weil sie einen Stift in der Hand halten konnten! Für ihn war das ebenso, als würde er behaupten, er würde demnächst ein Buch schreiben, nur weil er in der Schule das Alphabet gelernt hatte und wie man Buchstaben aneinanderreiht. Er würde sich so etwas nie anmaßen – weshalb belästigten ihn die Menschen dann mit Gesprächen über ihre stümperhafte Krakelei?

Als hätte Alfons Lauterbach seine Gedanken gelesen, sagte er: «Nein, das ist wirklich wahr, ich bin Künstler, ich male. Ich möchte behaupten, dass ich mir auch schon einen Namen gemacht habe, auch wenn die Zeiten gerade schwierig sind. Wenn du willst, zeig ich dir meine Wirkungsstätte mal.»

Victor konnte sich nicht erinnern, seinem Gegenüber das Du angeboten zu haben, aber so was passierte eben, wenn man sich in ein Gasthaus begab, anstatt sich in die Arbeit zu vertiefen. Er verfluchte seine Entscheidung, bis sein Gegenüber einen Zettel aus der Tasche zog und auseinanderfaltete.

«Kleine Fingerübung von vorhin.» Er schob den Zettel zu Victor hinüber, und dieser hielt für einen Moment den Atem an. Alfons Lauterbach hatte mit wenigen genialen Strichen die Sacre Cœur skizziert.

«Waren Sie schon am Montmartre?», wollte Victor wissen, bereute jedoch sofort seine Frage.

«Sag doch Alfons! Unter Künstlern müssen wir doch nicht so förmlich sein.» Er lächelte. Der Steg zwischen seinen Nasenlöchern war wesentlich tiefer angesetzt als die Nasenflügel, was ihm ein leicht katzenhaftes Aussehen verlieh. «Aber um auf deine Frage zu antworten: Nein. Ich kenne Paris nur von Photos. Aber mir gefällt die Basilika, und deswegen zeichne ich sie immer mal wieder. Das erste Mal war ein Photo die Vorlage. Und wenn ich einmal etwas gesehen habe, das mich berührt hat, dann kann ich es jederzeit aus dem Gedächtnis malen.»

Victor mochte es noch immer nicht, dass Alfons Lauterbach ihn behandelte, als wären sie schon ewig befreundet. Er wirkte sympathisch, abgesehen von seiner Angeberei mit dem photographischen Gedächtnis, doch es widersprach einfach Victors grundsätzlicher Skepsis anderen Menschen gegenüber, sich so rasch auf eine vertraute Ebene zu begeben. Distanz war wichtig für ihn, es war etwas, an dem er sich festhalten konnte, ein fester Rahmen, den er seinem Leben gab. Traue niemandem, dann bist du sicher! Zu oft war er enttäuscht worden. Sogar seine eigene Mutter war einfach gestorben, anstatt für ihn da zu sein. Worauf sollte man sich dann im Leben noch verlassen können?

Trotz allem beschloss Victor, sich auf das Duzen einzulassen. Sich weiterhin stur zu stellen wäre ihm grob unhöflich vorgekommen. Außerdem schien dieser Alfons kein so übler Kerl zu sein. Wie hätte er das auch sein sollen, wo er doch Sacre Cœur mochte, auch wenn er die Basilika nur aus der Ferne kannte? Wer Victors Leidenschaft teilte, hatte sich einen kleinen Vertrauensvorschuss verdient, auch wenn es Victor schwerfiel. Außerdem war sein Interesse erwacht.

«Zeichnen S … Zeichnest du nur, oder benutzt du auch andere Materialien?»

«Ich male auch in Öl und Aquarell. Kleine Bilder, große Bilder, Häuser, Porträts – alles, was du willst. Und selber?»

Victor biss sich auf die Zunge, damit er kein Wort über das Acryl verriet. «Im Grunde dasselbe. Bilder, Auftragsarbeiten, um den Lebensunterhalt zu finanzieren. Und wahre Kunst, um geistig zu überleben.»

«Warst du schon mal im Romanischen Café? Da sitzen viele von uns.»

Victor hatte sich bisher aus genau diesem Grund von dort ferngehalten, doch das wollte er seinem Tischkumpan nicht auf die Nase binden. «Ich gehe nicht viel aus», sagte er vage.

«Solltest du aber! Das ist ungemein belebend für die kreative Energie. Glaub mir, ich weiß, wovon ich rede. Manchmal bin ich so ausgelaugt, dass mir kein einziger Pinselstrich mehr von der Hand gehen will. Keine Ideen, nur Stroh im Kopf. Dann muss ich mal lockerlassen und Blödsinn machen.» Alfons nahm sich einen Bierdeckel und legte ihn so auf den Tisch, dass er zur Hälfte über die Kante hinausragte. Als Victor sich noch fragte, was das sollte, hatte Alfons schon mit den Fingern von unten gegen den Bierdeckel geschnippt. Der Deckel vollführte eine Drehung, so schnell, dass man mit den Augen kaum folgen konnte, und Alfons hielt ihn in der Hand.

«Kennst du das noch nicht?» Alfons hatte Victors irritierten Blick gesehen. «Schau, es ist ganz einfach: Hinlegen, schnippen, fangen.» Er wiederholte das Kunststück einige Male. «Probier es doch auch mal!»

«Ich bin nicht so geschickt bei so was. Lass mal.»

Die Wahrheit war, dass Victor unglaubliche Angst davor hatte, sich vor allen Leuten zu blamieren. Sicher hätte er den Bierdeckel durch das halbe Lokal geschnippt. Er wusste nicht, wie er damit hätte umgehen sollen. Er begab sich normalerweise nur in Situationen, auf die er gut vorbereitet war, und Bierdeckelschnippen gehörte nicht zu den Dingen, mit denen er heute gerechnet hatte.

Alfons grinste.

Victor konnte sich lebhaft vorstellen, was sein Gegenüber wohl denken mochte, aber das war ihm egal.

«Solche Tricks lernt man eben, wenn man unter Menschen geht, die alle darauf aus sind, ihren Kopf wieder freizubekommen.» Und dann begann er, von den Treffen im Romanischen Café zu erzählen, von der Inspiration, die ihm der Austausch mit den Kollegen bescherte, und davon, wie schön das Leben als Künstler sei. Kein Wort von beschwerlichen Stunden, die Victor nur zu gut kannte, kein Wort von Zweifel und tiefer Traurigkeit. Alfons schien auf der Sonnenseite geboren zu sein. Er strahlte so viel Freude aus, dass Victor irgendwann dachte, etwas von dieser Energie könnte auf ihn abstrahlen, wenn er sich nur oft genug in Alfons’ Nähe aufhielt. Er hätte es nicht über sich gebracht zu fragen, doch Alfons nahm ihm diese Entscheidung ab.

 

«Ich habe heute noch etwas vor, aber ich würde mich freuen, wenn wir uns wiedertreffen. Willst du dir meine Bilder mal ansehen?»

Victor versicherte eifrig, aber nicht zu eifrig, dass er sich freuen würde.

Sie verabredeten sich für die nächste Woche.

An diesem Tag ging Victor Reimer ungewohnt frohgemut nach Hause.

DREI

VICTOR war verwundert, als er in der Fürstenstraße ankam und in dem Haus, das Alfons ihm genannt hatte, auf dem Stummen Portier nach dem Namen Lauterbach suchte. Unterhalb der vorgesehenen Felder für die Namen der Hausbewohner klebte ein zusätzlicher Zettel mit Alfons’ Namen. Das ließ keinen anderen Schluss zu, als dass sich Alfons’ Wohnung im Keller befand – nicht gerade ideal für ein Künstleratelier.

Muffiger Geruch nach alten Kartoffeln schlug ihm auf der Treppe nach unten entgegen, und es war nicht leicht, in der Dunkelheit überhaupt den Lichtschalter zu finden.

Die Lampe erhellte nur schwach einen schmalen Gang. Die Mauern bestanden aus rotbraunen Steinen, in deren Fugen sich Staub angesammelt hatte. Türen, lose aus einfachen Holzlatten gezimmert, gingen rechts und links davon ab. Victor spähte durch die Lattenzwischenräume in einen Verschlag hinein. Bei der spärlichen Beleuchtung konnte er zwar kaum etwas erkennen, er vermutete aber, dass Kohlen darin lagerten.

Eine Türöffnung auf der linken Seite des schmalen Ganges war mit andersfarbigen Steinen offenbar nachträglich zugemauert worden, und die nächste Tür sah anders aus als die anderen: keine einzelnen Holzlatten, sondern eine massive Holztür, die über und über mit geometrischen Formen bemalt war, in allen erdenklichen Farben. Auf Augenhöhe befand sich ein Schriftzug: A. Lauterbach – Künstler.

Darunter war ein verschnörkelter Türklopfer angebracht, der aussah, als hätte er einmal an einem hochherrschaftlichen Haus als Ankündigungsmechanismus für Gäste gedient.

Victor streckte die Hand danach aus, zog an dem Griff und ließ ihn wieder fallen. Ein lautes «Klong!» ertönte, und es dauerte eine Weile, bis Victor Schritte hinter der Tür vernahm.

Alfons öffnete. Er sah Victor für einen Moment irritiert an, dann hellte sich seine Miene auf.

«Stimmt, wir waren verabredet!» Er drehte sich in der halbgeöffneten Tür um. «Eva, zieh dir etwas über, wir haben Besuch!»

«Wia waan doch noch ja nich fertich!»

«War ja nicht das letzte Mal. Du weißt doch, dass es mir mit dir besonderen Spaß macht!» Alfons lächelte anzüglich, und Victor fühlte sich äußerst unwohl in seiner Haut.

«Ich kann gerne ein andermal wiederkommen, wenn ich das junge Glück nicht störe.»

Nach einem kurzen Moment der Überraschung fing Alfons schallend an zu lachen, trat einen Schritt zurück und deutete auf die Leinwand, die auf der Staffelei in der Mitte des Zimmers stand. Darauf war ein sitzender Akt abgebildet. Das Modell trug eindeutig die Züge jener Eva, die nun angezogen dem Ausgang zustrebte.

«Na jut. Nächste Woche um dieselbe Zeit?»

Alfons, noch immer grinsend, drückte der winzigen Blondine ein Geldstück in die Hand und gab ihr einen Abschiedskuss auf die Wange. «So machen wir es.»

Eva schwirrte ab, nachdem Victor beiseitegetreten war, um sie vorbeizulassen.

«So, nun komm doch mal rein, oder willste da draußen Wurzeln schlagen?»

Victor betrat den Raum, der von einer schirmlosen Funzel erhellt wurde, die das bisschen Tageslicht verstärkte, das kurz unterhalb der Zimmerdecke durch die niedrigen Souterrainfenster schien. Die Wände waren eng mit Bildern behängt. Akte, Landschaften, Gebäude, Porträts – in Öl, in Aquarell, als Kohlezeichnung. In einer Ecke stand ein Tisch, der über und über mit Malutensilien vollgestellt war, ähnlich wie in Victors Dachkammer. Daran angelehnt diverse Keilrahmen.

«Du hast also geglaubt, Eva und ich …» Alfons kicherte.

«Du musst zugeben, dass euer Gespräch nicht ganz unzweideutig war.»

«Stimmt. Und versucht habe ich es natürlich. Aber die Kleine lässt mich nicht ran. Nichts zu machen, die ist in festen Händen. Karl Kasulke. Ein Bär von einem Mann. Wo der hinhaut, wächst mit Sicherheit kein Gras mehr. Falls du auch Appetit bekommen haben solltest …»

Alfons lachte schon wieder. Diesmal sehr anzüglich, und Victor fühlte sich immer unwohler. Vielleicht bekam er auch Beklemmungen von Alfons’ Atelier – er war nicht sicher.

«Bier?» Alfons wartete keine Antwort ab, sondern ging durch eine schmale Tür und kam mit zwei geöffneten Flaschen Berliner Kindl zurück.

Victor nahm ihm eine ab und trank einen tiefen Schluck, ungeachtet der frühen Stunde. Er blickte sich um, und sein Blick wanderte hoch zu den winzigen Fenstern. «Ist das nicht ein ungewöhnlicher Ort für ein Atelier?» Victor staunte über die schlechten Voraussetzungen, denn beim Malen brauchte man so viel Tageslicht wie irgend möglich.

«Ich kann mir kein anderes Atelier leisten. Ich bin froh, dass ich überhaupt dieses Loch hier bezahlen kann.» Alfons zog den blauen Vorhang beiseite, der einen Teil des Raumes abteilte. Eine Matratze kam zum Vorschein sowie eine Kiste, aus der Kleidung herausschaute. In der Wand dahinter sah man die zugemauerte Türöffnung. Ganz offenbar war diese «Wohnung» einfach aus zwei ehemaligen Kellerverschlägen entstanden. Alfons lebte hier buchstäblich unter Tage.

Victors Dachkammer war ihm schon so manches Mal wie ein Gefängnis vorgekommen, obschon es dort ausreichend Licht gab. Doch hier unten würde er es keine zwei Stunden aushalten! Eigentlich keine halbe, wenn er darüber nachdachte.

An Gehen war jedoch zunächst nicht zu denken, denn Alfons präsentierte Victor seine Bilder. Eines nach dem anderen hielt er in die Höhe und erzählte in epischer Breite, was darauf zu sehen war, als würde er die Motive einem Blinden erklären. Victor versuchte einige Male, Alfons’ Redefluss zu stoppen, doch es gelang ihm nicht, also ergab er sich seufzend in sein Schicksal.

Sein Blick blieb an einem dreiarmigen Kerzenständer hängen. Alfons bemerkte es. «Hässliches Ding, wa? Aber was soll ich machen? Es ist ein Erbstück, und immerhin spendet es zusätzliches Licht, wenn es hier unten zu duster wird oder wenn ich romantische Anwandlungen kriege.» Er hielt die nächste Leinwand hoch.

Einige der Bilder waren geradezu geschmacklos, andere sehr ästhetisch. Am besten gefielen Victor die Stadtansichten, von denen Alfons auch einige in Öl gemalt hatte – darunter wieder Sacre Cœur.

Doch Victors Blick wanderte immer wieder zu dem Bild auf der Staffelei. Das Fräulein Eva sah unschuldig und gleichzeitig verrucht darauf aus, was möglicherweise an der Federboa lag, die, in zarten Strichen gemalt, ihren Körper umschmeichelte. Allerdings sah sie nur so lange unschuldig aus, bis man den Blick nach unten auf die weit gespreizten Beine lenkte. Alfons hatte kein Detail ausgelassen, und Victor hielt die Hand mit der Bierflasche vor seinen Schritt, als er merkte, dass die Darstellung Wirkung zeigte.

«Die gefällt dir, was? Aber sieh dich vor – ihr Verlobter kann wirklich ein rasender Stier sein, nach allem, was man so hört.»

«Mir gefällt das, was ich auf der Leinwand sehe. Und soweit ich erkennen kann, hast du dort keinen Verlobten gemalt.»

«Du hast ja Humor», feixte Alfons. «Auch wenn du das bisher gut versteckt hast!»

Victor verzog das Gesicht. Er hatte es nicht spaßig gemeint.

Aus Kappes Vorsatz, Klara zum Umzugsthema zu befragen, wurde nichts. Erst hatte er es vollkommen vergessen. Als es ihm im Bureau erneut eingefallen war, hatte er sich einen Notizzettel gemacht. Doch abends fand er keine ruhige Minute. Die Kinder waren ungewöhnlich laut und quengelig.

«Die brüten bestimmt etwas aus», seufzte Klara.

«Hoffentlich nichts Ernstes!» Kappe hatte am Tag zuvor gehört, dass ein Nachbarskind an Diphtherie erkrankt war, und seither waren seine heimlichen Ängste wiederauferstanden. Als er damals zur Volksschule ging, war sein Klassenkamerad Oskar an Kehlkopfdiphtherie gestorben. Ihm war die Luftröhre zugeschwollen, bis er keine Luft mehr bekam. Die Vorstellung, einem seiner Kinder könnte dieses grauenhafte Schicksal widerfahren und er könnte rein gar nichts dagegen unternehmen, schnürte Kappe fast die Kehle zu.

Jedenfalls standen die Kinder mehrfach aus dem Bett auf, und der kleine Karl-Heinz rief bis nach Mitternacht immer wieder nach seiner Mama. Als endlich Ruhe eingekehrt war, war Klara so müde, dass sie gleich darauf ins Bett ging.

Als Kappe sich endlich für die Nacht fertiggemacht hatte, hörte er nur noch ihre regelmäßigen Atemzüge. Leise legte er sich dazu und schlief ebenfalls rasch ein, doch gegen halb zwei drückte die Blase.

Danach war er putzmunter. Der verdammte Kaffee! Gestern hatte er Gertrud Steiner gebeten, den Bureaukaffee ein wenig dünner zu machen, mit dem Erfolg, dass sie ihm mit beleidigter Miene etwas serviert hatte, das an gefärbtes Wasser erinnerte. Heute war sie wieder zur alten Gewohnheit zurückgekehrt und hatte den Kaffee so stark gebrüht, dass in der Brühe auch ein Hufeisen nicht untergegangen wäre. Und an einem Hufeisentag sollte man die letzte Tasse nicht zu spät trinken. Er schlief dann zwar abends meist trotzdem rasch ein, doch er schrak stets gegen zwei Uhr früh auf und lag wach, bis der Wecker um halb sechs gnadenlos zum Aufstehen bimmelte.

Auch heute hatte er das Gefühl, immer wacher zu werden, denn zu viel ging ihm durch den Kopf. Klara schien in letzter Zeit mit ihren Gedanken ständig woanders zu sein. Sie war überhaupt nicht mehr bei der Sache. Neulich hatte sie ihm sogar einen falschen Knopf ans Hemd genäht und es nicht einmal gemerkt. Der Kaffee war alle, weil sie vergessen hatte, neuen zu kaufen.

Kappe seufzte leise. Das dritte Kind war ganz offensichtlich zu viel gewesen. Der kleine Karl-Heinz war ein sehr fordernder Junge und saugte offenbar die letzte Kraft aus ihr heraus. Schon Gretchen war nicht einfach mit ihrem ausgeprägten Dickkopf, den sie wohl von ihrer Patentante und Namensvetterin Margarete Klump übernommen hatte, doch Karlchen konnte man praktisch gar nichts recht machen. Schon als ganz kleiner Wicht hatte er Nachbarn und Freunde zum Lachen gebracht, weil er oft unglaublich missmutig in die Weltgeschichte schaute. Kappe fragte sich bis heute, wie es sein konnte, dass schon ein Baby den Widerwillen gegen die Welt so deutlich mit seiner Mimik zum Ausdruck brachte. Ganz abgesehen davon, dass er auch viel schrie.

Hartmut war das genaue Gegenteil von Karl-Heinz. Bereits als Säugling war er still und vergnügt gewesen. Man konnte ihn schon mit den einfachsten Dingen glücklich machen. Als Kleinkind hatte er stundenlang mit Klaras Töpfen gespielt, ohne dessen überdrüssig zu werden.

Doch dass Hartmut so pflegeleicht war, wog das Genöle von Karl-Heinz nicht auf. Oft genug war Kappe heilfroh, der Tyrannei des Kleinen entrinnen zu können, indem er ins Bureau flüchtete. Klara hatte diese Chance nicht und wurde mit der Zeit immer unleidlicher. Und nun war ihr dieser ganze Zirkus offenbar auch aufs Gehirn geschlagen. Kappe konnte sich ihre Verstimmung und die geistige Abwesenheit zumindest nicht anderes erklären, denn es hatte in ihrem Leben ja ansonsten keine Veränderung gegeben.

Wenn er doch nur die Gedanken abstellen könnte! Kappe versuchte, an etwas anderes zu denken. An etwas Schönes. Er wollte sich einen Spaziergang am Meer vorstellen, doch so ganz wollte ihm das nicht gelingen, denn er war noch nie am Meer gewesen. Als Kind war er mit seinem Vater im Fischerboot oft auf dem Scharmützelsee gefahren, aber das konnte man bestimmt nicht vergleichen.

Überhaupt, sein Vater … Der war vor zwei Jahren gestorben, mit gerade einmal 65 Jahren. Nie war er vorher ernsthaft krank gewesen, und wenn er mal so etwas wie einen Schnupfen bekommen hatte und Mutter ihn zum Arzt hatte schicken wollen, hatte er stets nur ein mürrisches Brummen zur Antwort gegeben. Bevor sein Vater zugegeben hätte, dass er sich nicht wohl fühlte und vielleicht sogar ärztliche Hilfe hätte brauchen können, hätte er sich lieber die Zunge abgebissen. Als Fischer könne er sich solchen Pipifax wie eine Krankheit nicht leisten, hatte er stets gesagt.

 

Und nun war sein Vater tot. Schon in den Monaten zuvor war er geistig stark verwirrt gewesen. An Kappes vierzigstem Geburtstag hatte er seinen eigenen Sohn nicht einmal mehr erkannt. Und natürlich hatte sein Vater sich auch nicht mehr daran erinnern können, dass er nie begriffen hatte, weshalb Kappe als Kind kein Draufgänger gewesen war. Er hatte diese Tatsache in den Diskussionen stets seiner Frau angelastet. «Du verzärtelst den Jungen. So wird nie ein echter Kerl aus ihm!», war ein Satz, den Kappe oft gehört hatte.

Abends, wenn er nicht einschlafen konnte, hatte er sich nämlich oft in den dunklen Flur geschlichen und hinter der Küchentür gelauscht, was die Eltern so zu erzählen hatten. Dabei hatte er so manches gehört, was nicht für seine Ohren bestimmt war.

So wie neulich, als Kappe eher versehentlich ein Gespräch belauscht hatte, das Dr. Brettschieß am Telefon geführt hatte. Er war an dessen Bureautür vorbeigegangen, die einen Spalt offen stand. Plötzlich hörte er, dass von der NSDAP die Rede war, und er konnte gar nicht anders, als stehenzubleiben, um zu hören, um was es ging. Sein Chef hatte für seinen Geschmack nämlich im Februar entschieden zu laut getrauert, als der SA-Sturmführer Horst Wessel von zwei Mitgliedern des Roten Frontkämpferbundes in seiner Wohnung erschossen worden war.

Am Telefon hatte Brettschieß sich mit seinem Gesprächspartner dann über das Horst-Wessel-Lied unterhalten. Es waren Sätze gefallen wie «Endlich haben wir eine anständige Hymne!», und Brettschieß hatte gesungen: «Schon bald flattern Hitlerfahnen über allen Straßen!» Kappe hatte fast schon die Flucht ergriffen, doch die Neugier hatte ihn zurückgehalten.

Richtig beunruhigt war er dann gewesen, als Brettschieß vollmundig gesagt hatte: «Bald weht hier ein anderer Wind! Dann können die Itzigs, Tagediebe und Faulenzer sich warm anziehen! Und im Präsidium wird auch aufgeräumt!»

Kappe wagte nicht sich auszumalen, was das bedeuten könnte. Wenn es an Entlassungen ging, würde Kappe vielleicht als einer der Ersten auf der Abschussliste stehen. Was sollte dann aus ihm werden? Aus Klara und den Kindern? Und wieso wollte Klara auf einmal unbedingt von hier weg? Klara …

Als der Morgen dämmerte, war Kappe endlich wieder eingeschlafen. So hörte er auch nicht, dass der kleine Karl-Heinz lauthals schrie und auf sein vermeintliches Recht auf Aufmerksamkeit bestand. Er hörte auch nicht, wie Klara aufstand und grummelte, dass Kappe wenigstens ein einziges Mal reagieren und den Kleinen trösten könne.

«Oh, hallo, wir kenn’ uns doch!»

Victor zuckte zusammen. In Gedanken versunken war er auf dem Weg zum Landwehrkanal gewesen, wo er eine Brücke malen wollte.

Er blickte irritiert auf und sah das Mädchen, das für Alfons Modell gesessen hatte. Das aufreizende Gemälde auf der Staffelei. Er merkte, wie er rot wurde, und konnte Eva nicht in die Augen sehen, nun, nachdem ihm dies eingefallen war. Zu obszön war das Bild. Er fragte sich, ob Alfons sich wirklich im Griff haben konnte, wenn sie vor ihm saß, die Beine gespreizt, keinerlei Geheimnisse mehr verbergend.

Er selbst hatte so was nur ein einziges Mal gesehen, bei Lenchen. Sie war die Einzige, die ihm das je gestattet hatte. Und auch nur ein einziges Mal. Danach hatte sie stets darauf bestanden, dass er das Licht löschte, bevor er sie berühren durfte.

Victor war wütend auf Eva, weil sie ihn an Lenchen erinnert hatte. Es tat zu weh, auch heute noch. Weshalb mussten alle Menschen sterben, die er liebte?

Eva beachtete sein mürrisches Schweigen nicht. Sie redete und redete, während sie ihn auf seinem Weg begleitete. Als er schon dachte, sie würde ihr Geschnatter niemals abstellen, winkte sie ihm fröhlich zu.

«Ick muss jetzt hia lang! Da wohn ick nämlich! Schön’ Tach noch! Vielleicht sehn wia uns ja mal wieder!»

Bitte nicht, dachte Victor und setzte seinen Weg grußlos fort. Als er einige Meter gegangen war, überlegte er es sich anders. Er konnte selbst nicht sagen, woher dieser plötzliche Impuls kam. Doch er hatte mit einem Mal das Gefühl, es könne nicht schaden zu wissen, wo Eva wohnte. Vielleicht lag es an der Anziehungskraft, die sie auf ihn ausübte, wenn er sie nicht gerade wie einen Wasserfall reden hörte. Ein gewisses sexuelles Verlangen ließ sich nicht leugnen, und schuld daran war Alfons’ Bild.

Vorsichtig sah er um die Hausecke in die Dieffenbachstraße hinein, denn sie sollte natürlich nicht wissen, dass er ihr folgte.

Er hatte Glück, sie war beschäftigt. Ein riesiger Kerl stand vor ihr und redete auf sie ein. Redete? Er brüllte. Und zwar so laut, dass Victor es mühelos hören konnte.

«Wo kommste um die Zeit wieda hea? Wenn dit nich bald uffhört, zieh ick aba andre Saiten uff, haste mir verstan’n?» Der Hüne packte sie hart am Arm, schüttelte sie und zog sie in den Hauseingang.

Das musste Karl Kasulke sein, der Kerl, von dem Alfons gesagt hatte, dass kein Gras mehr wüchse, wo der hinschlug.

Zuerst waren es nur die Blicke gewesen, die bei seinem stets höflichen Gruß förmlich auf den Grund ihrer Seele zu blicken schienen. Er hatte bei jeder Begegnung galant den Hut gelüftet, dann hatten seine stahlblauen Augen sie förmlich gefangen genommen.

Anfangs hatte sie versucht sich einzureden, dass dies alles nur in ihrer Einbildung passierte, doch die «zufälligen» Begegnungen hatten sich gehäuft, die Blicke waren eindringlicher geworden. Bis er sich ihr eines Tages anschloss, als sie sich alleine auf den Weg in die Stadt machte, um etwas zu besorgen. Freundlich hatte er gefragt, wo der Weg sie hinführe und wie es den Kindern und dem Gatten gehe.

Der Herr wohnte im Aufgang nebenan und schien so einiges über sie zu wissen. Dabei ging es hier eigentlich weitaus anonymer zu als in der Gegend, in der sie vorher gewohnt hatten. Ein wenig unheimlich war er ihr schon gewesen, vor allem diese Blicke, mit denen er sie weiterhin durchbohrt hatte.

Später waren zufällige Berührungen hinzugekommen, die sie anfangs erschreckt hatten, die sie jedoch nach einiger Zeit als durchaus angenehm registrierte. Er benutzte ein ganz besonderes Rasierwasser. Es gefiel ihr, denn es roch so männlich.

Bald war die regelmäßige Begleitung auf ihren Spaziergängen zum festen Ritual geworden, und als er eines Tages ihre Hand nahm, zog sie sie nicht weg, obschon sie sich augenblicklich umschaute, ob jemand sie sah. Aber sie waren weit weg von ihrer Wohngegend.

Nachts lag sie wach, von Gewissensbissen geplagt. Was tat sie da? Was setzte sie aufs Spiel? War es das wert? Gleichzeitig beruhigte sie sich mit dem Gedanken, dass sie nichts Verbotenes tat. Harmlose Spaziergänge, nicht einmal ein Kuss. Ein guter Freund war er ihr mittlerweile geworden, weiter nichts.

Immer öfter ließ sie den kleinen Karl-Heinz bei einer Nachbarin und schob wichtige Erledigungen vor, bei denen sie den Kleinen nicht mitnehmen konnte. Das Hand-in-Hand-Laufen wurde intensiver. Er streichelte sie dabei mit seinen Fingern. Und eines Tages, in einer verschwiegenen Stelle im Park, ein Kuss, erst zart, dann leidenschaftlich und immer fordernder. Ein lange verloren geglaubtes Gefühl machte sich in ihrem Unterkörper breit und ließ sie alle Vorsicht vergessen. Sie war wild entschlossen, sich ihm auf der Stelle hinzugeben, doch dann hörte sie in der Ferne Kinderlachen, und das holte sie auf den Boden der Tatsachen zurück.

«Ernst», sie schob ihn von sich, «wir können so nicht weitermachen. Ich darf dich nicht mehr sehen.» Fluchtartig verließ sie den Park und musste sich die rotgeweinten Augen mit Brunnenwasser kühlen, bevor sie in die Wohnung zurückkehrte.