Die Blaue Revolution

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Konsequenzen hat die Klimaerwärmung aber auch in anderen Regionen. Bis ins Jahr 2050 werden auch der Tourismus und die Lebensmittelproduktion am Mittelmeer leiden; das Klima in Marseille wird jenem von Algier von heute entsprechen. Die Gefahr durch Wirbelstürme und Flutwellen könnte den Wert von Immobilien im US-Staat Florida um 30 Prozent reduzieren. Die Erwärmung der Ozeane wird den Fischfang um rund acht Prozent verringern und die Lebensgrundlage von 650 bis 800 Millionen Bürgern weltweit beeinträchtigen. Und weil ein Viertel der wichtigsten 100 Flughäfen weniger als zehn Meter über dem Meeresspiegel liegen, werden diese ernsthaften Gefahren durch Flut und Sturm ausgesetzt sein, heisst es in der McKinsey-Studie.[12]

Forscher*innen und Wirtschaftsfachleute reden in ihren Untersuchungen und Studien zwar vom worst case, wenn sie davon ausgehen, dass sich kein wirksamer Klimaschutz durchzusetzt. Dabei ist der schlimmste Fall noch viel schlimmer. Und er ist die Realität.

Der worst case ist nicht, dass es beim bisherigen CO2-Ausstoss bleibt. Der schlimmste Fall ist, dass der CO2-Ausstoss weiter massiv ansteigt. Die globalen Treibhausgas-Emissionen stiegen in den letzten zehn Jahren um 1,5 Prozent jährlich. Deshalb wurde 2018 ein neuer Höchstwert erreicht. Deshalb wird die Menge Treibhausgase, die reduziert werden muss, immer grösser statt kleiner. Ende November 2019 veröffentlichte das Umweltprogramm der UNO (Unep) den «Emission Gap Reports». Das kollektive Versagen, das Klima zu schützen, «verlangt nun eine starke Reduktion der Emissionen in den nächsten Jahren», sagte die Unep-Direktorin Inger Andersen.[13]

So alt diese Forderung war, erhört wurde sie nicht. Im Gegenteil, das Wachstum des CO2-Ausstosses wird vorerst weitergehen. Es gibt keinen weltweiten Plan, den Neubau von Kohlekraftwerken zu verbieten oder die Erschliessung von neuen Öl- oder Erdgas-Feldern innerhalb nützlicher Frist zu stoppen. Dabei ist der Fall klar: Um das 1,5-Grad-Ziel zu erreichen, dürfte die Menschheit gemäss Weltklimarat insgesamt maximal noch 580 Gigatonnen CO2 produzieren, um spätestens bis zum Jahr 2050 CO2-neutral zu werden. Doch eine Studie, die im Juli 2019 im Fachmagazin Nature veröffentlicht wurde, zeigte, dass allein die bereits existierenden Verbrennungskraftwerke – Kohle, Öl und Gas – mit 658 Gigatonnen CO2 weit mehr Kohlendioxid ausstossen werden, wenn sie wie geplant weiter betrieben werden.[14]

Und es wird noch viel schlimmer.

Obwohl die Europäische Union Mitte Januar unter Propaganda-Getöse Tausend Milliarden Euro Investitionen in einen «Green Deal» ankündigte, um die EU bis ins Jahr 2050 klimaneutral zu machen[15], stimmte das EU-Parlament einen Monat später für eine von der EU-Kommission vorgelegte Liste mit 32 Gas-Infrastrukturprojekten. Für die Grünen war dieser Entscheid «eine Schande», weil er den Green Deal der EU untergrabe und mithelfe, den Planeten weiter aufzuheizen. Auch das Climate Action Network kritisierte den Entscheid: «Diesen Gasprojekten Priorität und Geld zu geben, bedeutet, Europas Zukunft über die nächsten 40 bis 50 Jahre in Gasabhängigkeiten zu zementieren und bis zu 29 Milliarden Euro an EU-Steuergeldern in unnütze Anlagen zu verschwenden.»[16]

Weltweit sieht es nicht besser aus. Im Oktober 2018 befanden sich über 1300 neue Kohlekraftwerke in Planung. Zudem planten mehr als die Hälfte der 746 Kohlekraftwerksbetreiber weltweit, ihre Anlagen zu erweitern. In rund 60 Staaten trieben Unternehmen und Investoren den Bau von Kohlekraftwerken voran. Über 200 Unternehmen bauten ihren Kohleabbau aus. Das publizierte die Global Coal Exit List, die von einer Gruppe von 28 Nichtregierungs-Organisationen geführt wird. Dabei war nicht der Energiehunger der Industrie oder der Bevölkerung für den Bau der neuen CO2-Schleudern entscheidend. Nein, es waren grössten Teils die Kohleminenbesitzer selbst, die ihre Kohle verfeuern wollten, um daraus Profit zu schlagen.[17] Und keine Regierung war im Jahr 2020 bereit, ihnen den Riegel zu schieben. Selbst das reiche Deutschland will erst im Jahr 2038 aus der Kohle aussteigen. «Die Inbetriebnahme eines neuen Kohlekraftwerks und das weitere Abbaggern von Dörfern lässt sich weder national noch international erklären», sagte Bundestags-Fraktionschef der Grünen Anton Hofreiter zu Recht.[18]

Der Klimawandel ist unterdessen so weit fortgeschritten, dass er nicht mehr bloss in Langzeitvergleichen, sondern gar im täglichen Wetter nachweisbar ist. «Seit April 2012 hatten wir weltweit betrachtet keinen einzigen Tag mit ‹normalem› Wetter», sagte Sebastian Sippel im Januar 2020. Der Forscher am Institut für Atmosphären- und Klimaforschung der ETH Zürich war Hauptautor einer Studie, die kurz zuvor im Fachmagazin «Nature ­Climate Change» veröffentlicht wurde. Neue Daten öffneten eine neue Perspektive in der öffentlichen Wahrnehmung des Klimawandels. Denn der Mensch orientiert sich an einzelnen und aktuellen Wetterereignissen, wie Mitautor und ETH-Forscher Reto Knutti sagte. Die Studie zeigte, dass nicht nur die Häufung von Extremereignissen Zeichen für den Klimawandel sind, sondern dass sich die Erderwärmung global gesehen sogar an jedem einzelnen Tag bemerkbar macht.[19]

Ein anderes Beispiel, wie stark die Klimakrise bereits eingesetzt hat, sind die zunehmenden Feuersbrünste. Sie haben Stephen Pyne dazu veranlasst, vom Pyrozän, dem Zeitalter des Feuers, zu sprechen, das nun angebrochen sei. Der Forscher der Arizona State University gilt als Pionier der Feuerökologie. Seine These des Pyorzäns belegt er unter anderem dadurch, dass es im Frühsommer 2019 in Alaska und Sibirien so intensiv brannte wie noch nie. Die Forscher im des Copernicus-Programms beobachteten im gleichen Jahr mehr als hundert Brandherde, für sie eine klare Folge der heissen und trockenen Bedingungen. In Indonesien brannten Torflandschaften, im Amazonasgebiet in Brasilien und Bolivien der Regenwald und die Brände in Australien waren verheerend wie selten zuvor. In den Bundesstaaten New South Wales und Queensland brannte es gar so stark wie noch nie, seit die Brände mit Satelliten erfasst werden.[20]

Der Klimanotstand war aber allerdings schon vorher soweit anerkannt, dass sich sogar die Menschenrechtsorganisation Amnesty International damit auseinandersetzte. «Millionen von Menschen leiden bereits jetzt unter den Folgen extremer Katastrophen, die durch den Klimawandel verschärft wurden: von anhaltender Dürre in Subsahara-Afrika bis hin zu tropischen Stürmen über Südostasien, der Karibik und dem Pazifik. Da der Klimawandel nicht nur für die Natur, sondern auch für die Menschheit verheerende Folgen hat, ist er eines der drängendsten Menschenrechtsthemen unserer Zeit», heisst es auf der Webseite von Amnesty International. Und weil der Klimawandel die bestehenden Ungleichheiten vergrössert, werden Menschenrechte «durch die globale Erwärmung direkt bedroht: das Recht auf Leben, Wasser, Nahrung, Zugang zu Sanitätseinrichtungen und auf eine angemessene Unterkunft.»

Die immer extremeren Folgen der Klimaerwärmung gefährden heutige und zukünftige Generationen unmittelbar. «Beim Engagement für den Klimaschutz geht es deshalb ums Überleben,» konstatiert Amnesty International. Doch nicht nur diese Gefahren machen der Menschenrechtsorganisation zu schaffen, sondern auch dass «in verschiedenen Weltregionen Umweltaktivist*innen bedroht, manche sogar ermordet» werden. Laut Global Witness wurden allein im Jahr 2017 über 200 Umweltschützer*innen getötet, weil sie ihr Land und dessen natürlichen Ressourcen verteidigten.[21]

Carola Rackete zitiert dazu in ihrem Buch «Handeln statt Hoffen» den UNO-Bericht Climate Change and Poverty aus dem Jahr 2019, der ebenfalls darauf hinwies, dass der Klimawandel «für Menschen, die unter Armut leben, verheerende Folgen haben» wird. Selbst im besten Fall werden Hunderte Millionen Menschen von Ernährungsunsicherheit, erzwungener Migration, Krankheit und Tod bedroht sein. «Der Klimawandel bedroht die Zukunft der Menschenrechte und birgt das Risiko, dass die Fortschritte der letzten 50 Jahre in den Bereichen Entwicklung, globale Gesundheit und Armut zunichte gemacht werden.»[22]

Für Rackete ist es deshalb eine Frage der Klimagerechtigkeit, anzuerkennen, dass «die Menschen, die am wenigsten zu diesem Desaster beigetragen haben, es am frühesten und am heftigsten zu spüren bekommen.» Die Folgen der Klimakrise werden zunächst vor allem jene Teile der Erde betreffen, in denen die Menschen viel schlechter geschützt sind als in den Industrieländern. «Diese Menschen besitzen keine Versicherung für ihre Häuser, keine medizinische Versorgung, keine Infrastruktur für Rettungsdienste.»[23]

Der Schweizer Chemie-Nobelpreisträger Jacques Dubochet bringt es den Punkt, wenn er sagt, die Menschheit stehe vor der grössten Herausforderung, die es je gab. Sein öffentliches Engagement gegen die Klimakrise begründet er so: «Ich bin seit kurzem Grossvater. Im Jahr 2100 wird unser Enkel 81 Jahre alt sein. Mit grosser Wahrscheinlichkeit werden dann die Lebensumstände wegen der Klimaerwärmung sehr schwierig sein. Es wird wahrscheinlich eine chaotische Welt sein, wenn wir die Lage nicht unter Kontrolle bringen, und zwar schnell.»[24]

Tatsächlich sprach sich Ende 2019 langsam herum, dass es allmählich höchste Zeit war, zu handeln. Der Grossteil der verantwortlichen Politiker*innen hatte es seit dem Umwelt-Gipfel der UNO in Rio von 1992 versäumt, in die Gänge zu kommen. Unterdessen ist es zwar bis weit ins bürgerliche Lager hinein Kosens, dass etwas getan werden muss. Aber Lösungen, die etwas kosten und die gezwungenermassen einen Teil des Lebensstils der satten Mehrheit in den industrialisierten Staaten infrage stellen, lassen weiterhin auf sich warten. Noch immer glauben zu viele, man müsse bloss ein paar Schräubchen am Getriebe des Systems anders einstellen.

 

Da braucht es neben den Naturwissenschaftler*innen auch Historiker*innen wie Philipp Blom, die Klartext sprechen: «Es geschieht alles viel zu langsam! Wenn wir erst 2050 tatsächlich carbonfrei werden, hat London die gleichen Sommertemperaturen wie Barcelona.» Blom wies Ende 2019 unmissverständlich darauf hin, dass nun «sehr schnelle radikale Handlungen notwendig wären.» Und er stellte zurecht die Fragen, ob die Fridays for Future-Bewegung stark genug sein wird, um die herrschenden Verhältnisse zu ändern, und was mit den globalen Konzernen geschehen muss, die sich bisher der demokratischen Kontrolle weitgehend entziehen.[25]

Auf diese Konzerne kam auch der Schweizer Autor Beat Ringger in seinem «System-Change-Klimaprogramm» zu sprechen: «Sechs der acht umsatzstärksten Unternehmen der Welt sind Öl- und Gaskonzerne – und auf den Plätzen 9 und 10 folgen die beiden weltweit grössten Autokonzerne. Diese Konzerne verteilen Geld, Macht, Privilegien.»[26] Und sie sind nicht bereit, ihre Macht und ihr Geld einfach so aufzugeben. Deshalb plädierte Ringger für «eine Ausweitung der Demokratie gegenüber der Macht der Konzerne.»[27]

Davon wird noch die Rede sein.

Bleiben wir kurz bei den Öl- und Autokonzernen. Dass sie sich so wichtigmachen konnten, hatte mit dem «Auto-Zeitalter» zu tun, wie es der amerikanische Wirtschaftsprofessor Jeremy Rifkin nennt: «Das Automobil war der Anker der zweiten industriellen Revolution.» Ein Grossteil des Weltbruttoprodukts war im 20. Jahrhundert auf die Produktion und den Verkauf der Abermillionen von Autos, Bussen und Lastwagen sowie auf alle Sektoren zurückzuführen, die dazu beitrugen. Dazu gehörten auch «alle Branchen und Unternehmen, die vom ‹Auto-Zeitalter› und dem Aufbau neuer Städte und Vororte profitierten, einschliesslich der Immobilienbranche, Einkaufszentren, Fast-Food-Ketten, Reisen und Tourismus, Themenparks und Technologie Parks … die Liste ist endlos.»[28]

Allerdings sieht Rifkin hier bereits eine schleichende Revolution im Gang, die sich auch in der Schweiz abzeichnet; die Veränderung des Mobilitätsverhaltens. In den grossen Städten der Schweiz, etwa in Basel oder Bern, verfügt bereits heute die Mehrheit der Haushalte über kein eigenes Auto mehr. Parallel dazu boomen Carsharing-Unternehmen wie die Genossenschaft Mobility. Rifkin analysiert die Veränderung des Verkehrssektors als «völligen Umbruch der Mobilität und Logistik auf der ganzen Welt». Dieser werde «eine Reihe gestrandeter Vermögenswerte» hinterlassen, deren Grösse noch nicht absehbar sei.[29] Denn Rifkin sieht es als weltweiten Trend, dass in städtischen Gebieten junge Menschen den Zugang zur Mobilität dem Besitz von Fahrzeugen bevorzugen. «Künftige Generationen werden in einer Ära intelligenter und automatisierter Mobilität wahrscheinlich nie mehr Fahrzeuge besitzen.»

Doch bis sich diese Entwicklung global auf die CO2-Produktion auswirkt, geht es viel zu lange. Abgesehen davon, dass in den automobiltechnisch noch unterversorgten, aufstrebenden Schwellenländern die Menschen danach gieren, auch endlich ein Auto zu besitzen. Im Jahre 2019 krochen gemäss Rifkin «1,2 Milliarden Autos, Busse und Lastwagen in dichten städtischen Gebieten auf der ganzen Welt herum.» Auch wenn Rifkin mit seiner Einschätzung richtig liegt, dass 80 Prozent dieser Fahrzeuge, «im Laufe der nächsten Generation durch die weitverbreitete Einführung von Carsharing-Diensten beseitigt werden»[30], stossen sie noch jahrelang täglich ihre CO2-Wolken aus.

Die Klimaerwärmung wird sich also weiter verschärfen. Ausser wir stoppen sie. Was nur global koordiniert möglich ist. Harald Lesch, Professor für Astrophysik in München, spricht deshalb davon, dass «eine global agierende Gesellschaft Brücken bauen sollte, statt Grenzen zu ziehen.» Der Trend sah zumindest bis zur Coronakrise ganz anders aus. Wie Lesch richtig erkannt hat, leben die Verlierer des herrschenden Systems in Afrika, in Asien und in Südamerika. «Irgendwann werden sie vor unserer Haustür stehen und ihren Anteil fordern. Da können wir nicht einfach sagen ‹Zurück mit euch!›, weil wir massgeblich für ihre Fluchtursachen verantwortlich sind.» Lesch meint, dass es solche «globale Ausgleichsströmungen» geben werde, «solange wir uns nicht solidarisch erklären mit allen anderen auf diesem Planeten.»

Die weltweite Migration wird neben dem Klimawandel das Problem der Zukunft sein: «Wir dachten immer, wir könnten unsere Abfälle in die Meere, die Atmosphäre oder den Boden entsorgen, jetzt kommt die Retourkutsche. Wir haben auf viel zu grossem Fuss gelebt und merken allmählich, dass die Party vorbei ist», sagt Lesch.[31]

Wie es um die weltweite Migration steht und warum das Thema ein jahrhundertalter Dauerbrenner ist, zeigt das nächste Kapitel.

www.welt.de/wissenschaft/article205617497/2020-war-der-weltweit-waermste-Januar-seit-Beginn-der-Aufzeichnungen

www.spiegel.de/wissenschaft/antarktis-temperaturrekord-macht-forschern-sorgen-a-37c52743-6165-4e0d-be4d-20bb4e1ba504

3 «NZZ am Sonntag», Zürich, 9. Februar 2020 ↵

www.srf.ch/news/international/eroeffnung-des-50-wef-trump-lobt-thunberg-kritisiert-sommaruga-warnt

www.nzz.ch/wirtschaft/die-schweiz-ist-nur-auf-den-ersten-blick-ein-umwelt-musterschueler-ld.1470064?reduced=true

https://gruene.ch/medienmitteilungen/co2-gesetz-wichtiger-zwischenerfolg-fuer-mehr-klimaschutz

www.srf.ch/news/schweiz/wef-bilanz-von-greta-thunberg-die-klimaforderungen-wurden-komplett-ignoriert

www.klimareporter.de/international/paris-abkommen-die-laender-liefern-nicht

www.srf.ch/news/international/weltweiter-klima-notfall-wissenschaftler-warnen-vor-unsaeglichem-menschlichem-leid

10 www.zeit.de/wissen/umwelt/2019-09/sonderbericht-klimawandel-ipcc-report-ergebnisse-weltklimarat-klimaschutz

11 www.mdr.de/wissen/weltmeere-so-warm-wie-nie-zuvor-100.html

12 www.spiegel.de/wirtschaft/service/mckinsey-studie-zum-klimawandel-ergebnisse-sind-verheerend-a-0ccc0af4-6706-4a38-a4ef-38bdf570d9a6

13 «Der Bund», Bern, 27. November 2019 ↵

14 www.br.de/nachrichten/wissen/weltweite-kraftwerk-laufzeiten-sprengen-alle-klimaziele,RUxlPR9

15 www.srf.ch/news/international/klimaschutz-paket-der-eu-darum-geht-es-beim-green-deal

16 www.euractiv.de/section/energie-und-umwelt/news/gruene-sauer-eu-parlament-unterstuetzt-umstrittene-energieprojekte

17 www.erneuerbareenergien.de/400-von-746-kohleunternehmen-planen-eine-erweiterung-ihrer-aktivitaeten

18 www.welt.de/politik/deutschland/article205191121/Gruene-fordern-Bundesregierung-zur-Nacharbeit-am-Kohleausstieg-auf

19 «Der Bund», Bern, 3. Januar 2020 ↵

20 «Der Bund», Bern, 31. Dezember 2019 ↵

21 www.amnesty.ch/de/themen/klima/doc/2019/fragen-und-antworten-zu-klimagerechtigkeit-und-menschenrechte

22 Rackete, Carola: Handeln statt Hoffen, München, 2019, Seite 78 ↵

23 Rackete, Carola, aao, Seite 86 ↵

24 «Der Bund», Bern, 31. Oktober 2019 ↵

25 «Der Bund», Bern, 23. Dezember 2019 ↵

26 Ringger, Beat: Das Systemchange Klimaprogramm. Zürich, 2019, Seite 33 ↵

27 Ringger, Beat, aao, Seite 34 ↵

28 Rifkin, Jeremy: The Green New Deal, e-book, New York City, 2019, Seite 60 ↵

29 aao, Seite 61 ↵

30 aao, Seite 64 ↵

31 «Der Bund», Bern, 2. Februar 2019 ↵

Antimilitarist

Als ich mich im Friedenskomitee engagierte, hörte ich davon, dass eine Gruppe von jungen Leuten darüber diskutierte, wie man die Armee abschaffen könnte. Das musste man mir nicht zweimal sagen. Flugs machte ich mich mit einer Handvoll Gleichgesinnter daran, die Oltner Regionalgruppe der «Gruppe für eine Schweiz ohne Armee» (GSoA) zu organisieren.

Im September 1982, kurz nach meinem Schulabschluss, den ich mit dem Auszug aus dem elterlichen Zuhause verband, war ich im Saal des selbstverwalteten Restaurants «Kreuz» in Solothurn dabei, als die GSoA gegründet wurde. Und weil ich gleich engagiert ans Werk ging, vertrat ich von Anfang an die Regionalgruppe Olten im nationalen Vorstand der GSoA. Drei Jahre später gehörte ich zum Initiativkomitee, das die eidgenössische Volksinitiative «Für eine Schweiz ohne Armee und für eine umfassende Friedenspolitik» lancierte, wie die GSoA-Initiative offiziell hiess.

Parallel zu diesem antimilitaristischen Engagement spielte ich immer noch wettkampfmässig Handball. Und hier holte mich dann doch die 80er-Jugendbewegung ein. So könnte man zumindest die folgende Geschichte interpretieren.

 

Obwohl ich noch bei den Junioren hätte spielen können, wurde ich als 19-Jähriger in den Kader der ersten Mannschaft der Handballriege Trimbach aufgenommen. Diese spielte in der zweiten Liga, der vierthöchsten Stufe des Landes. Allerdings nicht besonders erfolgreich. Trotz meiner für Handballverhältnisse eher kleinen Körpergrösse wurde ich im Abstiegskampf als Mitte-Rückraumspieler eingesetzt. Ebenfalls nicht besonders erfolgreich. Auch ich konnte nicht verhindern, dass wir in die dritte Liga abstiegen.

Aber ermutigt durch die Revolte meiner Alterskolleg*innen in Zürich, Bern und Basel und durch meine ersten politischen Erfahrungen, nutzte ich zusammen mit zwei älteren Spielern diesen Abstieg, um in der HR Trimbach eine Meuterei anzuzetteln. Wir drängten den langjährigen Übungsleiter aus seinem Amt. An seiner Stelle installierten wir ein Trainerkollektiv, das aus vier aktiven Spielern bestand; einer davon war ich. Der Vereinsvorstand goutierte unseren Aufstand nicht und trat geschlossen zurück. Also übernahmen wir auch die Leitung des Vereins.

Das Experiment mit einer sich weitgehend selbst organisierenden Mannschaft und einem vierköpfigen Spielertrainer-Team war nicht besonders erfolgreich. Es endete gar in einem sportlichen Desaster. Weil bis auf drei Spieler alle erfahrenen Mitglieder des alten Teams geschlossen in die zweite Mannschaft wechselten, traten wir in der Dritt-Liga-Meisterschaft praktisch mit einem Juniorenteam an. Unser Spiel sah zwar sehr dynamisch und attraktiv aus. Aber es fehlte uns an Erfahrung, Härte und Effizienz. Nachdem wir die Vorrunde ohne Sieg abgeschlossen hatten, begann auch die Trainingsdisziplin so stark zu bröckeln, dass wir manchmal ohne Torwart und bloss noch zu sechst in der Turnhalle übten. Am Ende der Saison stiegen wir ohne einen einzigen Sieg in die vierte Liga ab. Während gleichzeitig die zweite Mannschaft mit den erfahrenen Spielern und einem traditionellen Übungsleiter in die dritte Liga aufstieg.

Unsere Handball-Revolte in Trimbach war krachend gescheitert. Ich trat nicht nur als Mitglied des Trainer-Kollektivs, sondern auch als Vereinskassier zurück und nabelte mich bald darauf vom Handballsport ab, den ich rund zehn Jahre lang leidenschaftlich ausgeübt hatte. Der Teamgedanke war mir dabei immer wichtiger, als meinen sportlichen Ehrgeiz zu befriedigen.

Diesen Teamgedanken brachte ich nun vermehrt im aussenparlamentarischen Engagement der GSoA-Regionalgruppe ein. Solange wir als «GSoAt*innen» damit beschäftigt waren, die nötigen 100 000 Unterschriften für unsere Initiative zu sammeln, brauchten wir für die Teambildung nicht viel zu tun. Der massive Widerstand von aussen reichte, um uns als kleine, verschworene Gruppe zusammenzuschweissen. Nicht nur die Vertreter der bürgerlichen Stahlhelm-Fraktionen stellten sich gegen uns. «Moskau einfach», hiess es auf der Strasse auch von ehemaligen Mitgliedern der Aktivdienstgeneration, die, ohne dabei einen einzigen Schuss abzugeben, während des Zweiten Weltkriegs Militärdienst leisteten.

Auch die Linke hatte wenig Verständnis dafür, dass wir eine Schweiz ohne Armee als konkrete Utopie proklamierten. In den Stammkneipen der Neuen Linken, die in Olten vor allem aus Vertreter*innen der marxistisch-leninistischen Progressiven Organisationen der Schweiz (Poch) und der trotzkistischen Revolutionären Marxistischen Liga (RML) bestand, wurden wir hart kritisiert. Den Sozialdemokrat*innen waren wir sowieso zu radikal.

Die Einstellung der Neuen Linken gegenüber der GSoA ändert sich erst, als wir es geschafft hatten: Im Herbst 1986 reichten wir in Bern über 110 000 gültige Unterschriften ein. Damit war klar, dass es als Weltneuheit erstmals eine Volksabstimmung über die Abschaffung der bewaffneten Landesverteidigung geben würde. Wir hatten uns in der Linken etwas Respekt erarbeitet.

Um mir meinen Lebensunterhalt zu verdienen und um Abstand zum Schulbetrieb zu schaffen, begann ich nach der Matura auf dem Bau zu arbeiten. Zuerst als Hilfsarbeiter auf dem Strassenbau, bis ich mir bei einem Unfall eine Fingerkuppe so stark abquetschte, dass mir sie im Spital wieder angenäht werden musste.

Danach zog es mich in die Höhe: Ich begann, als Dachdecker zu arbeiten. Die körperliche Arbeit war anstrengend, aber ich genoss es, draussen zu arbeiten und nur den freien Himmel über mir zu haben. Um Erfahrungen zu sammeln, wechselte ich alle drei, vier Monate die Stelle. Das war damals kein Problem, Arbeit gab es genug und ich erhielt für meine Leistungen immer gute Referenzen. So arbeitete ich nicht nur als Dachdecker, sondern auch als Zimmermann, Dichtungstechniker, Spengler und Bauschreiner oder im Winter als Monteur am Fliessband einer Fabrik, die Seilbahn-Gondeln in die ganze Welt exportierte.

Parallel zu diesem Broterwerb schrieb ich Bewerbungen, um mein Berufsziel zu erreichen: Journalist. Für den Weg dahin liess ich mich von Niklaus Meienberg inspirieren, den ich als linksliberalen Journalisten und Reporter vor allem seiner Fabrik-Reportagen wegen schätzte. Er hatte einmal geschrieben, dass für einen Journalisten besser sei, nicht an einer Universität zu studieren, sondern das Leben aus einer anderen Perspektive kennenzulernen.

Da ich für meinen Matur-Aufsatz die Höchstnote 6 erhalten hatte und auch als Gesamtnote in Deutsch eine 6 vorweisen konnte, ging ich davon aus, dass ich auch ohne Studium ein Praktikum oder eine Stagiaire-Stelle auf einer Redaktion ergattern konnte. Natürlich wusste ich, dass es sogar in eher liberalen Zeitungen wie dem Zürcher «Tagesanzeiger» ein Redaktionsstatut gab, wonach die dort angestellten Journalisten die «bewaffnete Neutralität» befürworten mussten. Das hinderte mich nicht daran, mich auf fast allen Deutschschweizer Redaktionen für ein Praktikum zu bewerben.

Auf meine mehr als 50 schriftlichen Bewerbungen erhielt ich bloss zwei positive Antworten. Ein neues Basler Lokalradio bot mir im Frühling 1984 die Chance, ein dreimonatiges Praktikum in der Nachrichtenredaktion zu machen. So fuhr ich jeweils mit meinem alten Fiat Panda um 3 Uhr morgens los, um in Basel um 4 Uhr auf der Redaktion zu sein. Nach zwei Monaten merkten die Radiomacher dann doch, dass ich keinen Basler Dialekt sprach. Also verlängerten sie mein Praktikum nicht. Das zweite Angebot kam vom freisinnigen «Oltner Tagblatt», das mich zwei Wochen lang auf seiner Redaktion schnuppern liess. Das war die magere Ausbeute meiner Bemühungen. Keine einzige Zeitung in der Deutschschweiz bot mir die Möglichkeit, eine Ausbildung on the job zu machen. Dabei war dieser Ausbildungsweg damals üblich.

Das änderte sich selbst dann nicht, als 1984 in der Nähe von Luzern das Medienausbildungszentrum MAZ eröffnet wurde. Ich nahm an der ersten Aufnahmeprüfung für die zweijährige, berufsbegleitende Ausbildung teil. Mit meinen 22 Jahren war ich einer der Jüngsten. Wir waren etwa dreimal so viele Bewerber*innen, wie es Ausbildungsplätze gab. Und ich rechnete mir nicht allzu viele Chancen aus, da viele Kandidat*innen bereits über einen Universitätsabschluss verfügten.

Als ich ein paar Wochen nach der Prüfung den Anruf des MAZ erhielt, war ich entsprechend nervös. Und als man mir sagte, dass ich die Prüfung bestanden hatte, hätte ich schreien können vor Glück. Dieses Gefühl hielt allerdings nur kurz. Weil ich keine Anstellung bei einer Redaktion vorweisen konnte, wollte man mich trotz bestandener Prüfung nicht zur Ausbildung zulassen. Es nützte nichts, dass ich insistierte, schliesslich hatte man mir zuvor versichert, dass ich mir immer noch eine Stelle suchen konnte, falls ich die Prüfung bestehen würde. Der Bescheid war klipp und klar: «Sie werden nicht zugelassen.»

Dass meine Schwierigkeiten, einen Ausbildungsplatz als Journalist zu bekommen, mit meinem politischen Engagement zu tun hatten, kam mir damals nicht in den Sinn. Zwar wusste ich aus der Literatur, dass es in Ost und West üblich war, politische Oppositionelle zu überwachen, zu gängeln und zu drangsalieren, um nicht von Schlimmerem zu sprechen. Aber ich dachte damals nicht, dass das mit mir etwas zu tun hatte.

Also kehrte ich am Tag nach dem enttäuschenden Anruf aus dem MAZ aufs Dach zurück, um zusammen mit anderen Hilfsarbeitern, die oft entweder gerade aus dem Knast entlassen worden waren oder regelmässig harte Drogen konsumierten, wieder Dachlatten auf Balken zu nageln und Ziegel zu legen.

Unterdessen hatte sich meine militärische Zukunft geklärt. Nachdem mich die Schweizer Armee bei der Musterung nicht aus medizinischen Gründen ablehnen wollte, wie ich das beantragt hatte, und ich partout nicht im Sinn hatte, die Rekrutenschule zu absolvieren, gab es für mich nur zwei Möglichkeiten: entweder als Dienstverweigerer in den Knast zu gehen oder mich aus psychiatrischen Gründen dispensieren zu lassen.

Als Dienstverweigerer aus politischen Gründen musste ich mit einer Gefängnisstrafe von mindestens eineinhalb Jahren rechnen. Weil ich keinerlei Lust hatte, als politischer Märtyrer so lange in den Knast zu gehen, vereinbarte ich einen Termin bei einem Psychiater, der dafür bekannt war, Gutachten für Antimilitaristen zu schreiben. Gut vorbereitet erzählte ich ihm einen schrecklichen, ausgedachten Traum, während dem ich an einem Lagerfeuer friedlich Gitarre spielend von einer Handgranate zerfetzt wurde. Für seine Empfehlung, mich vom Dienst zu dispensieren, war allerdings eher entscheidend, dass ich ihm sinngemäss Folgendes sagte: «Ich bin zwar ein geduldiger Mensch. Aber wenn man mich zu lange piesackt und ich ein geladenes Gewehr auf mir trage, kann es durchaus soweit kommen, dass ich einem fiesen militärischen Vorgesetzten ins Bein schiesse.»

Das war ein wenig zugespitzt, aber nicht völlig an den Haaren herbeigezogen. Aufgewachsen in einem Umfeld, in dem immer mal wieder eine «Hand ausrutschte», war mir Gewalt nicht fremd. So war ich selbst auf dem Pausenplatz kein Engel. In der Primarschule ging ich keiner Prügelei aus dem Weg. Dabei konnte ich nicht nur gut austeilen, ich hatte auch ganz gute Nehmerqualitäten. Zur Zeit meines Besuchs beim Psychiater hatte ich mich allerdings schon jahrelang nicht mehr geprügelt, weil ich in der Pubertät endlich erkannt hatte, dass ich mit diesen Schlägereien ein Verhalten reproduzierte, das eigentlich nicht meinem Charakter entsprach.

Meine Abneigung gegenüber fiesen Autoritätspersonen hatte mir in der obligatorischen Schulzeit mehr als eine Ohrfeige eingebrockt. Und weil im Militär die Rekruten kaum Möglichkeiten hatten, sich gegen sadistische Vorgesetzte zu wehren, machte meine Argumentation beim Psychiater Sinn. Die Armee konnte es nach diesem Statement gar nicht mehr wagen, mir eine geladene Waffe in die Hände zu drücken. Falls ich tatsächlich einmal einem Drill-Sergeant oder einem aufgeblasenen Oberst eine Kugel verpasst hätte, wäre es mir ein Leichtes gewesen, zu sagen: «Ich habe euch gewarnt.»

Die Ärzte der Armee schienen das ähnlich gesehen zu haben. Jedenfalls wurde ich kurz nach meinem Besuch beim Psychiater in Abwesenheit ausgemustert. Aus medizinischen Gründen. Diesmal blieb mir der Jubel nicht im Hals stecken. Doch mir war auch bewusst, dass ich in den Akten der Armee als möglicherweise gewalttätig geführt wurde.

Mit der Matura war auch das Ende der Pflichtlektüre gekommen. Fortan las ich in der Regel zwei, drei Bücher parallel. Neben sozialkritischen Reportagen von Niklaus Meienberg oder Günther Wallraff und politischen Büchern über die Schweiz wie «Die unheimlichen Patrioten»[1] oder Max Schmids «Demokratie von Fall zu Fall» über die «Repression in der Schweiz»[2] prägte mich vor allem die Biographie des Zürcher Arbeiterarztes und Anarchisten Fritz Brupbacher[3]. Seine unverfrorene Art imponierte mir. Zuerst hatte Brupbacher als «Kritiker, Ketzer, Kämpfer»[4] wegen seiner anarchistischen Ansichten als Mitglied der Sozialdemokratischen Partei Schwierigkeiten gekriegt. 1921 trat er der neu gegründeten Kommunistischen Partei der Schweiz bei, hielt aber an seinen antiautoritären Zielen fest. So war es kein Wunder, dass er von dieser 1933 wegen «antimarxistischer anarchistischer Einstellung» ausgeschlossen wurde.

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