Die Blaue Revolution

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Wer ist Peter Staub? Erwachen

Wie kommt dieser unbekannte ehemalige Journalist und Gewerkschaftssekretär Peter Staub aus der kleinen Schweiz dazu, zu einer globalen Revolution aufzurufen? Gute Frage.

«Ich weiss nicht, was du genommen hast, aber du solltest unbedingt weniger nehmen», sagte mir vor Jahren ein deutscher Mitsegler. Zusammen mit meiner Ehefrau hatte ich den Törn gebucht, um auf die 1000 Seemeilen zu kommen, die wir brauchten, um den Hochsee-Segelschein zu erhalten. Da kann man sich die Mitsegler*innen nicht aussuchen.

Wir lagen im Hafen von San Miguel auf Teneriffa und sprachen über alles Mögliche. Irgendwann kamen wir auf den Klimawandel, und ich begann über mein Lieblingsthema zu referieren: «Wir brauchen eine globale Demokratie, um die globalen Probleme zu lösen». Bei spanischem Rotwein entwarf ich dem siebenköpfigen Publikum meine Vision einer besseren Welt. Ich sprach davon, wie es wäre, in einer weltweiten Demokratie nach schweizerischem Vorbild zu leben. Ich sprach von einer Welt, in der alle Menschen gleichberechtigt sind, von einer demokratisch legitimierten Weltregierung, einem Weltbundesrat. Und ich sprach von einem Weltparlament, das globale Gesetze erarbeitet und verabschiedet, um die Klimaerwärmung zu begrenzen.

Der Kommentar meines Mitseglers schaffte es dann unter dem Gelächter seiner Kolleg*innen, das Gespräch in eine andere Richtung zu leiten.

Natürlich hinderte mich das nicht daran, weiter über die Welt von morgen nachzudenken. Frei nach einem Refrain von Fleetwood Mac, der mich seit Jahren durch allerlei Krisen begleitet:

«Don’t stop thinking about tomorrow Don’t stop, it’ll soon be here It’ll be, better than before Yesterday’s gone, yesterday’s gone» [1]

Der der Einwand des teutonischen Hobbyseglers war typisch. Erstens wird jeder, der über den politischen Tellerrand hinausschaut und sich auch noch getraut, darüber zu reden, schief angeschaut. Und wenn er oder sie sich das dann noch erlaubt, ohne einen Professorentitel zu tragen oder zumindest einen Doktor in Politologie mitzubringen, ist die Bereitschaft, sich mit den neuen Ideen auseinanderzusetzen oft klein. Schliesslich wusste schon der russische Revolutionär Lenin, «dass nicht jeder Tagelöhner, jede Köchin von heute auf morgen den Staat regieren kann.»[2]

Gut, ich will keinen Staat regieren. Und Leninist war ich auch nie. Auf «–ist» reagierte ich schon immer fast allergisch. Deshalb bezeichne ich mich auch nicht als Atheist, obwohl ich mit der Religion so wenig am Hut habe wie mit autoritären Regierungssystemen.

Wie also kommt also einer, der sich in seinen rund 40 Berufsjahren unter anderem als Dachdecker, Hilfszimmermann, Journalist, Taxichauffeur und Gewerkschaftssekretär durchs Leben schlug und als akademischen Grad ausschliesslich einen Weiterbildungsmaster in Writing and Corporate Publishing vorzuweisen hat, dazu, zu denken, er könne der Menschheit helfen, den nächsten Evolutionsschritt zu schaffen?

Die Freund*innen und Helfer*innen von der Schweizer Bundesanwaltschaft würden wohl auf meine Fiche verweisen. Als Fichen wurden die rund 900 000 Karteikarten bezeichnet, welche die kantonalen Polizeikorps und die Bundesbehörden in den Zeiten des Kalten Krieges über echte und vermeintliche «Staatsfeinde» angelegt hatten. Nachdem Ende der 1980-er Jahre der «Fichenskandal» aufflog, erhielt ich ein paar Jahre später eine Kopie meiner Fiche. Der erste Eintrag stammte vom 28. März 1985 und bezog sich darauf, dass ich von einem verfassungsmässigen Recht Gebrauch machte. Ich war damals 23 Jahre alt.

Der Aktenvermerk lautete (0)936/558. «v. SD SO: Fig. Auf Liste von Personen, die gemäss Bundesblatt Nr 9 als Erstunterzeichner/Urheber der ‹Volksinitiative für eine Schweiz ohne Armee und für eine umfassende Friedenspolitik› aufgeführt sind.» Der Autor der Meldung war mit einem schwarzen Balken unsichtbar gemacht. Genauso wie bei allen anderen Einträgen, die drei Seiten füllten. Im selben Jahr unter demselben Aktenzeichen gab es noch einen Eintrag, diesmal von der Stadtpolizei Zürich: «Dokumentation «Gruppe Schweiz ohne Armee – Entwicklung und Aktivitäten vom März 81 bis August 85. – Daselbst aufgeführt als Redaktionsmitglied der GSoA-Infos.»

Soviel zu meinen Anfängen als amtlich registrierter, politischer Dissident.

Dabei begann alles viel früher: Geboren wurde ich im Januar 1962. Die ersten zehn Jahre lebte ich zusammen mit drei Geschwistern und den Eltern in einer kleinen Drei-Zimmer-Wohnung im Haus der Grosseltern in Trimbach am Fusse des Hauensteins. Die Mutter, gelernte Schneiderin, kümmerte sich um die Kinder und besorgte den Haushalt. Der Vater arbeitete als gelernter Schlosser zuerst als Monteur, bevor er sich zum technischen Verkäufer umschulen liess und sich später in einem Ein-Mann-Betrieb selbstständig machte.

Es war ein damals typischer Arbeiter*innen-Haushalt, pro Woche gab es einmal Fleisch zu essen, für die Kinder je einen halben Cervelat. Später zogen wir in eine Fünf-Zimmer-Wohnung in einem kleinen Wohnblock. Der soziale Aufstieg zeigte sich daran, dass ich bloss noch mit einem Bruder das Zimmer teilte und Schweineschnitzel die Cervelats ablösten.

Nach der achten Klasse wechselte ich von der Bezirkschule in Trimbach ans mathematisch-naturwissenschaftliche Gymnasium in Olten. Unterdessen hatte ich begonnen, Handball zu spielen. Um finanziell unabhängiger zu werden, begann ich mit 15 Jahren, in den Frühlings- und Herbstferien jeweils zwei Wochen in der Industrie zu arbeiten. Mit 16 arbeitete ich zudem jeden Mittwochnachmittag in einer Fabrik, in der Dachfenster zusammengesetzt wurden. Im Herbst 1982 erhielt ich mein Maturazeugnis.

Neben Schule, Sport und Arbeit gewann das Thema Politik langsam an Bedeutung. Dafür war eine meiner Grossmütter verantwortlich, die mir zum 18. Geburtstag eine Biografie von Robert Grimm schenkte, der beim schweizerischen Landesstreik von 1918 eine wichtige Rolle gespielt hatte.[3] Die Geschichte Grimms eröffnete mir eine völlig neue Sicht auf die Welt.

Dass es eine Grossmutter war, die mir den Weg zur Politik öffnete, war kein Zufall. Während die Eltern politisch nicht aktiv waren, engagierten sich ihre Mütter. Die eine Grossmutter machte bis ins hohe Alter bei den lokalen SP-Frauen mit, während die andere sich in jüngeren Jahren aktiv für Flüchtlinge aus Nazi-Deutschland einsetzte und bis ins hohe Alter das politische Denken nie aufgab.

Der Landesstreik von 1918, der die Schweiz nachhaltig veränderte, obwohl er in einer krachenden Niederlage endete, weckte mein Interesse an der Arbeiter*innenbewegung und insbesondere an der Russischen Revolution. Die Lektüre des bewegten Lebens Grimms politisierte mich. Ich lernte, dass die Welt nicht nur ungerecht war, sondern sich auch verändern liess. Wenn man sich organisierte, ein gemeinsames Ziel und einen Plan hatte.

Mein antiautoritärer Charakter machte mich immun gegen die Ableger neolinker Politsekten, die damals an der Kantonsschule Olten den Ton angaben. Mit den Marxisten-Leninist*innen oder Trotzkist*innen lag ich aber nicht nur wegen ihres Personenkults in den Haaren, sondern auch, weil sie oft zu einfache Antworten auf die komplizierten Fragen der Zeit hatten.

Das hinderte mich jedoch nicht, leidenschaftlich mit ihnen über Politik im Allgemeinen oder über spezielle Aspekte der Russischen Revolution zu diskutieren. Aufgrund meiner Lektüre betrachtete ich die Oktoberrevolution aus der Perspektive der russischen Anarchist*innen, die bereits kurz nach der Oktoberrevolution von Lenin und seinen Bolschewiki bekämpft worden waren. Mit einer gleichaltrigen Gymnasiastin, die aus einer gutbürgerlichen Familie stammte und mit ihren rund 19 Jahren eine glühende Verehrerin Leo Trotzkis war, stritt ich mich besonders gern.

Mein Lieblingsthema war die Niederschlagung des Aufstands der Matrosen von Kronstadt. Damals war Trotzki noch eine der wichtigsten Figuren der Russischen Revolution. Es war im Jahre 1921, als die Matrosen von Kronstadt, die in der Oktoberrevolution vier Jahre zuvor eine zentrale Rolle gespielt hatten, sich dagegen wehrten, dass die Bolschewiki ohne Rücksicht auf Verluste ihre Macht durchsetzten. Der Aufstand von Kronstadt war mit Forderungen unterlegt, die sich an den Zielen der Russischen Revolution orientierten. Der russische Anarchist Volin[4] bezeichnete den Aufstand später als den Versuch, in Russland nach 1905 und 1917 eine dritte Revolution durchzuführen. Die brutale Niederschlagung des Aufstandes durch die Rote Armee, angeführt von deren Oberbefehlshaber Leo Trotzki, war für die russischen Anarchisten das endgültige Zeichen, dass die Sowjetkommunisten gnadenlos ihre eigene Diktatur durchzusetzen.

Der Kommunist Victor Serge[5], der später von Stalin aus der Partei ausgeschlossen wurde und nach Frankreich flüchten konnte, erinnerte sich so an den Aufstand von Kronstadt: «Flugschriften, die in den Vorstädten verteilt wurden, gaben die Forderungen des Kronstädter Sowjets bekannt. Es war das Programm einer Erneuerung der Revolution.» Dazu gehörten die Forderung nach der Neuwahl der Sowjets in geheimer Abstimmung, Rede- und Pressefreiheit für alle revolutionären Parteien und Gruppen, Gewerkschaftsfreiheit, Freilassung der revolutionären politischen Gefangenen und die Abschaffung der offiziellen Propaganda. Und, was für traditionelle Stalinist*innen auch Jahre später noch der grösste Stein des Anstosses war, die «Freiheit des Handwerks» und der Rückzug «der Sperrkommandos», welche die Bevölkerung daran hinderten, sich selbst zu versorgen. «Der Sowjet, die Garnison Kronstadt und die Schiffsbesatzungen des ersten und zweiten Geschwaders erhoben sich, um dieses Programm zum Sieg zu führen.»[6]

 

Die uniformierten Sowjetkommunisten schlugen den Aufstand blutig nieder. Am 7. März 1921 befahl Leo Trotzki seiner Armee den Angriff auf die Festung von Kronstadt. Die rund 10 000 Matrosen wehrten sich zuerst erfolgreich. Doch die Bolschewiki gaben nicht auf. Während die Kronstädter Matrosen bereits die Wahlen für die neuen Sowjets, die «Arbeiter- und Soldaten-Räte», vorbereiteten, begann die Rote Armee erneut, die Festung mit Artilleriefeuer anzugreifen. Mitte März stürmten rund 50 000 Soldaten die Festung. Während etwa 8 000 Matrosen übers Eis nach Finnland flüchten konnten, wurden rund 2 500 Matrosen standrechtlich erschossen. Damit war der anarchistische Traum von einer dritten Revolution definitiv vorbei.[7]

Der Aufstand der Kronstädter Matrosen erhält hier so viel Platz, weil die Russischen Revolution für die Geschichte der Menschheit wichtig war, indem sie zeigte, dass eine sozialistische Revolution möglich war und den Weg für zahlreiche Befreiungsbewegungen in der sogenannt Dritten Welt bereitete. Aber die Pervertierung der Russischen Revolution, die nicht erst mit Stalins Aufstieg zum Diktator, sondern viel früher begann, zeigte auch, dass nicht nur das Ziel, sondern auch der Weg dahin so wichtig ist, dass er gut geprüft werden muss.

In meinen jugendlichen Disputen über den Aufstand von Kronstadt schälten sich auch ein paar Erkenntnisse meiner frühen politischen Bildung heraus, die für mich noch heute gelten:

1 Geschichte ist machbar.

2 Um die Welt zu verändern, braucht es ein Ziel und einen Plan.

3 Der Zweck heiligt nicht die Mittel.

4 Das Menschenrecht geht vor. Immer.

5 Eine künftige, emanzipatorische Revolution muss eine weltweite sein.

Während ich die Zeche für meine politische Einstellung und mein politisches Engagement später durch ein faktisches Berufsverbot bezahlte – dazu komme ich noch – machte meine damalige trotzkistische Diskussionspartnerin nach dem Gymnasium eine solide bürgerliche Karriere.

Ich war also nie Kommunist, schon gar kein Parteikommunist. Ich war aber auch nie ein Antikommunist. Im Gegenteil: Den Antikommunismus betrachte ich als bürgerliches Spiegelbild des Stalinismus. Meine basisdemokratische Grundhaltung hat mich davon abgehalten, auf autoritäre Konzepte zu setzen oder einem Leader hinterherzuhecheln.

Während ich in politischen Diskussionen auflebte, langweilte ich mich in den Klassenräumen des Gymnasiums. Ausser in den Fächern Deutsch, Geschichte und Englisch mochte mich der Schulstoff selten zu begeistern. Viel lieber steckte ich meine Energie in eine Schüler*innenzeitung, die ich mitbegründete. Im «Kaktus» schrieb ich erstmals einen politischen Kommentar. Mithilfe einer Broschüre der Demokratischen Juristen argumentierte ich gegen die Verschärfung der Strafgesetzordnung, in der öffentliche Aufforderungen zu Gewalt strafbar gemacht werden sollte. Die Vorlage wurde im Juni 1982 schliesslich deutlich angenommen. Später wurde ich persönlich mit dem neuen Gesetz konfrontiert. Und zwar genau in dem Bereich, in dem ich es kritisiert hatte. Es wurde verwendet, um unliebsame Stimmen zu verstummen zu bringen.

Als in Zürich 1980 die Jugendunruhen ausbrachen, war ich als 18-Jähriger viel mehr an meinen politischen Büchern interessiert, als daran, auf die Strasse zu gehen. Zürich war für mich auch weit entfernt. Es dauerte jedoch nicht mehr lange, bis ich politisch aktiv wurde. Gegen Ende der Schulzeit, die ich Herbst 1982 mit der Matura abschloss, nahm ich erstmals an politischen Sitzungen und Kundgebungen teil.

Die atomare Aufrüstung verhalf der Friedensbewegung in der Schweiz zu neuem Schwung. Ich begann, mich im Oltner Friedenskomitee zu engagieren. Este Demonstrationserfahrungen brachte ich mit, wuchs ich doch in einer Gegend auf, in der ein Atomkraftwerk geplant war. Anfang der 1970er-Jahre nahm ich als etwa 12-Jähriger erstmals an einer Anti-AKW-Demonstration in Olten teil. Daraus resultierte mein erster Akt des «Widerstands». Ich brachte einen Aufkleber mit dem Spruch «Nein zum AKW Gösgen – das Niederamt will leben» im Liftschacht des Wohnblocks an, in dem wir nun wohnten. Der Kleber war jahrelang sichtbar. Das AKW Gösgen wurde 1981 eingeweiht. Auch das sollte mich später noch beschäftigen.

Doch zurück zum Friedenskomitee. Als Gruppe von Schüler*innen brachten wir etwas frischen Wind in den trägen Verein. Wir schritten zur Tat und organisierten in einem Vorort Oltens eine Platzkundgebung, mit der wir uns mit den Rothenthumer Landwirten solidarisierten, die verhindern wollten, dass die Armee in ihrer Moorlandschaft einen Waffenplatz mit Panzerpisten baute. Der Widerstand der Innerschweizer Bauern verknüpfte zwei Themen, die uns damals beschäftigten: die Armee und die Umwelt.

Weil es zu dieser Zeit in der Schweiz noch keinen Zivildienst gab, drohte auch mir die obligatorische Rekrutenschule. Diese kam mir als antiautoritärer Charakter mehr als nur ungelegen. Und der Umweltschutz war mir nicht nur wegen des Engagements gegen das AKW wichtig. Ich kannte den Bericht des Club of Rome zu den Grenzen des Wachstums, der bereits 1972 veröffentlicht wurde.

1982 eskalierte der Streit in Rothenthurm. Die Bauern zündeten nicht nur Warnfeuer an, auch Baracken der Armee gingen in Flammen auf. Der geplante Waffenplatz war zu einem nationalen Thema geworden. Also organisierten wir auf dem Feld eines fortschrittlichen Bauern in Winznau eine Kundgebung mit einem Warnfeuer, das ein paar Hundert Sympathisant*innen anzog. Obwohl ich einer der federführenden Organisatoren der Demonstration war, tauchte mein erstes aktives politisches Engagement später nicht in meiner Staatsschutz-Akte auf.

Natürlich sammelten wir dann auch Unterschriften für die nationale Volksinitiative zum «Schutz der Schweizer Moore», die in nur sechs Monaten mit über 160 000 Unterschriften zustande kam. Im Dezember 1987 sagten die Stimmberechtigten schliesslich mit 57% Ja zur Initiative. Dank diesem sowohl antimilitaristischen wie auch ökologischen Erfolg blieb die Fläche der Moore und Moorlandschaften in der Schweiz seither stabil. Obwohl diese Feuchtgebiete mit 190 Quadratkilometern bloss rund 5 Promille der Landesfläche ausmachen, beherbergen sie rund einen Viertel der bedrohten Pflanzenarten der Schweiz.[8]

www.songtexte.com/songtext/fleetwood-mac/dont-stop-6b8cde2a.html

2 Rustemeyer, Angela: Dienstboten in Petersburg und Moskau 1861-1917, Stuttgart, 1996 ↵

3 Voigt, Christian: Robert Grimm: Kämpfer, Arbeiterführer, Parlamentarier, Bern, 1980 ↵

4 Volin: Die unbekannte Revolution, Hamburg 1983 ↵

5 Serge, Victor: Erinnerungen eines Revolutionärs 1901 – 1941, Hamburg, 1977 ↵

6 Serge, Victor, aao, Seite 145 ↵

www.mdr.de/zeitreise/kronstadt-matrosenaufstand-100.html

www.swissinfo.ch/ger/kampf-um-ein-stueck-heimat-und-natur/6280552

2
Die Zeit drängt – die Klimakrise verschärft sich

In den ersten Monaten des Jahres 2020 häuften sich die Nachrichten über ungewöhnliche Wetterphänomene. Nur zwei Beispiele: Der Januar 2020 war seit Beginn der Aufzeichnungen 1981 der wärmste erste Monat des Jahres. Nicht nur in Europa, sondern weltweit.[1] Und mit 18,3 Grad wurden in der Antarktis die höchsten Temperaturen seit Beginn der Aufzeichnungen gemessen.[2]

Dass es höchste Zeit war, zu handeln, war allen klar, die sich ernsthaft mit dem Thema Klimaerwärmung befassten. So sagte beispielsweise der Ministerpräsident des deutschen Bundeslandes Baden-Württemberg, der Grüne Winfried Kretschmann, der sich selbst in der politischen Mitte verortet, dass er manchmal Panikattacken habe, wenn er Berichte lese, «wie wir uns den Kipppunkten nähern, an denen der Klimawandel unumkehrbar wird.» Etwa als er eine Dokumentation über die Antarktis sah: «Es ist der grösste Eiskörper, 90 Prozent des Eises weltweit. Wenn man gesehen hat, wie dramatisch der Meeresspiegel steigt und die Erderwärmung in das filigrane Artensystem eingreift, dann denkt man schon: Schaffen wir das noch?» Der Permafrostboden taut viel schneller, als dies die Wissenschaft erwartet hat. «Wir haben noch zehn Jahre. Wenn es kippt, ist es gekippt, dann ist es unumkehrbar. So eine Situation haben wir normalerweise in der Politik nicht.»[3]

Die Dringlichkeit des Problems war mittlerweile so breit abgestützt, dass sogar das erzkapitalistische World Economic Forum in Davos im Januar 2020 die Nachhaltigkeit zum Leitthema seiner Tagung machte. Die Schweizerische Bundespräsidentin Simonetta Sommaruga warnte in ihrer Eröffnungsansprache vor einer drohenden Klimakatastrophe. Sie sprach von den riesigen Feuersbrünsten, die im Vorjahr im Amazonas und in Australien Zehntausende von Quadratkilometern verbrannt hatten. Sie redete über die desaströsen Auswirkungen auf die Menschen und darüber, wie das ökologische Gleichgewicht aus den Fugen geriet.

Die Bundesrätin mit sozialdemokratischem Parteibuch sprach auch den dramatischen Verlust der Artenvielfalt weltweit an. Sie verglich die Biodiversität mit dem Pariser Eiffelturm: «Wenn man pro Tag eine Schraube aus dem Turm entfernt, geschieht erst zwar nichts. Früher oder später bricht allerdings der ganze Turm zusammen.»[4]

Einen konkreten Plan, wie die Schweiz beim Klimaschutz oder bei der Wiederherstellung einer lebendigen Biodiversität vorwärtskommen könnte, legte die Vorsteherin des Eidgenössischen Departements für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation allerdings nicht vor. Dabei wäre das dringend nötig gewesen, hinkte die Schweiz ihren eigenen Ansprüchen doch weit hinterher.

Die Schweiz erhebt zwar seit 2008 eine Lenkungsabgabe auf fossile Brennstoffe wie Heizöl oder Erdgas, die zum Heizen gebraucht werden. Davon waren die Treibstoffe für den motorisierten Verkehr ausgenommen. Dabei entfielen auf diesen motorisierten Verkehr, ohne den Flugverkehr mitzurechnen, in der Schweiz rund ein Drittel der CO2-Emissionen. Deshalb wurden hier keine Fortschritte erzielt.[5] Das im Herbst 2020 verabschiedete neue CO2-Gesetz sieht zwar einige Verschärfung vor, «trotzdem reicht das neue Gesetz alleine absolut nicht aus, um der Klimakrise wirksam zu begegnen», wie das die Grünen richtig erkannten.[6]

Am Tag nach der Schweizer Bundespräsidentin hatte auch die damals 17-jährige Greta Thunberg ihren Auftritt am WEF. Sie wies darauf hin, dass trotz der weltweiten Demonstrationen auf der politischen Ebene faktisch nichts getan wurde, um den Klimaschutz zu stärken.

Die jungen Vertreterinnen der Klimabewegung Fridays for Future kritisierten die Ergebnisse der WEF-Tagung am Ende scharf. So sagte Thunberg, dass die Forderungen der Klimajugend «komplett ignoriert» worden seien. Auch Vanessa Nakate aus Uganda oder die Schweizer Aktivistin Loukina Tille warfen dem WEF vor, in einer «geschlossenen Blase» zu leben und sich in einer falschen Sicherheit zu wiegen.[7]

Aber nicht nur die Manager*innen blieben passiv. Bei den Regierungen zeigte sich das Versagen noch viel deutlicher. Dabei hatten die meisten von ihnen das Pariser Klimaabkommen unterzeichnet, das verbindliche Ziele gegen die Klimaerwärmung vorsah. Und doch unternahmen sie so wenig, um diese bescheidenen Ziele zu erreichen, dass sie noch nicht einmal darüber sprechen wollten. Bis am 9. Februar 2020 hätten die Unterzeichnerstaaten des Paris-Abkommens ihre verbesserten Klimaziele einreichen sollen; nur gerade 3 von 184 Staaten hielten diese Frist ein.

Der Hintergrund: Das Pariser Abkommen sah eine regelmässige Steigerung der von den einzelnen Ländern festgelegten Klimaschutzbeiträge vor, weil die bisher zugesagten Beiträge für das Erreichen der Klimaziele nicht ausreichten. Bei der 26. Weltklimakonferenz der UNO, die ursprünglich im Herbst 2020 in Glasgow (COP26) geplant war, wegen der Corona-Krise aber verschoben wurde, sollten die Staaten detaillierter aufzeigen, was sie unternehmen wollten, um die Erderwärmung auf 1,5 bis 2 Grad zu begrenzen. Diese neuen Ziele hätten sie spätestens neun Monate vor der COP26 ankündigen müssen. Doch an diese Frist hielten sich bloss die Marshallinseln, Surinam und Norwegen. Und diese verursachten gemäss des US-amerikanischen Thinktanks World Resources Institute gerade mal einen Tausendstel der weltweiten Treibhausgasemissionen. Was im Umkehrschluss bedeutet, dass die Regierungen deren Länder, die für die restlichen 99,9 Prozent des CO2-Ausstosses verantwortlich waren, sich nicht um ihre eigenen Vereinbarungen kümmerten. Es reicht also nicht, einfach mit dem Finger auf den ökologisch unterbelichteten Präsidenten der USA zu zeigen, der das Klimaabkommen von Paris gekündigt hat. Wie etwa der Klimaökonom Reimund Schwarze vom Leipziger Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung richtig erkannte, hat «das Paris-Abkommen ein riesiges Vollzugsdefizit».[8]

 

Dabei rennt der Welt die Zeit davon. Das sagen nicht nur Klima-Aktivist*innen, sondern auch Wissenschaftler*innen. In einer aufsehenerregenden gemeinsamen Erklärung warnten Anfang November 2019 mehr als 11 000 Forschende aus 153 Ländern vor einem weltweiten «Klima-Notfall». Ohne grundlegende Veränderung sei «unsägliches menschliches Leid» nicht mehr zu verhindern. Als Wissenschaftler*innen hätten sie die «moralische Pflicht, die Menschheit vor jeglicher katastrophalen Bedrohung zu warnen», sagte beispielsweise Co-Autor Thomas Newsome von der University of Sydney. Aus den vorliegenden Daten werde klar, dass wir einem Klima-Notfall gegenüberstehen. «Obwohl global seit 40 Jahren verhandelt wird, haben wir weitergemacht wie vorher und sind diese Krise nicht angegangen», konstatierte Ökologie-Professor William Ripple, der die Gruppe der Wissenschaftler mit seinem Kollegen Christopher Wolf von der Oregon State University in den USA anführte. Der Klimawandel beschleunige sich dabei noch schneller als viele Wissenschaftler erwartet hätten.

Die Forscher forderten in ihrem Beitrag im Fachjournal «Bioscience» Veränderungen vor allem in sechs Bereichen:

 Umstieg auf erneuerbare Energien

 Reduzierung des Ausstosses von Treibhausgasen wie Methan

 Schutz von Ökosystemen wie Wälder und Moore

 Weniger Konsum von tierischen Produkten

 Nachhaltige Veränderung der Weltwirtschaft

 Eindämmung des Anwachsens der Weltbevölkerung

Obwohl sich die Wissenschaftler*innen über das zunehmende Umweltbewusstsein und die Proteste der Fridays for Future-Bewegung freuten, machten sie auch klar, dass noch viel mehr passieren muss. Und sie erklärten sich bereit, «bei einem gerechten Wandel hin zu einer nachhaltigen und gleichberechtigten Zukunft zu helfen».[9] Bisher erhielten die über 11 000 Wissenschaftler von der Weltgemeinschaft allerdings keine konkreten Möglichkeiten, ihre Bereitschaft in die Tat umzusetzen.

Bereits zwei Monate vor dem weltweiten Aufschrei der Forscher*innen zeigte ein Bericht des Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC), des Weltklimarates der UNO, dass das Eis schneller schwand, die Meeresspiegel höher stiegen und die Ozeane stärker versauerten als vorhergesehen. Die deutsche Wissenschaftsjournalistin Alina Schadwinkel wusste schon vorher, dass die Ozeane eine wichtige Rolle spielten, um die weltweite Temperatur zu regeln. Die Dimension hingegen überraschte sie: Die Ozeane hatten rund 90 Prozent der Hitze aufgenommen, die seit 1970 durch das von Menschen produzierte CO2 verursacht worden war. Doch lange könne das die Ozeane nicht mehr durchstehen, wie der IPCC dokumentierte. Die Autor*innen des Berichts gingen von zwei Szenarien aus. Das erste Modell, das Paris-Agreement-Szenario, stellte den besten Fall dar, wonach die globale Temperatur bis ins Jahr 2100 «nur» um 1,6 Grad Celsius steigen würde. Das zweite Modell ging von der realistischeren Einschätzung aus. Im Business-as-usual-Szenario würde die globale Erwärmung bereits im Lauf des 21. Jahrhunderts die Zwei-Grad-Marke durchbrechen. Bis ins Jahr 2100 könnte die weltweite Durchschnittstemperatur um bis zu 4,3 Grad steigen.

Wie sich die Szenarien auswirken, zeigt sich am Anschaulichsten beim Anstieg des Meeresspiegels. Weil das Eis an den Polen schmilzt, stieg der Meeresspiegel seit 1993 um jährlich 3,3 Millimeter. Zuletzt erfolgte dieser Anstieg schneller als erwartet. Gemäss Schadwinkel dürfte der Anstieg künftig «noch mal höher ausfallen.» Nach dem zweiten, realistischeren Szenario des IPCC könnte das Wasser bis ins Jahr 2100 im globalen Durchschnitt um über einen Meter ansteigen. Ein halber Meter könnte es im optimistischeren Paris-Agreement-Szenario sein.

Dabei liegen die Klima-Forscher*innen bei ihren Prognosen wohl unter den tatsächlichen Veränderungen. Denn unterdessen steigt der Meeresspiegel doppelt so schnell wie am Ende des 20. Jahrhunderts, «und das wird sich weiter beschleunigen, wenn Treibhausgasemissionen nicht drastisch verringert werden», sagt der deutsche Meereswissenschaftler Hans-Otto Pörtner, der am IPCC-Sonderbericht mitgeschrieben hat. Die Rekordtemperaturen in der Antarktis vom Januar 2020 waren ein deutlicher Hinweis, welche Folgen der Rückgang des Eises in der Antarktis und in Grönland zeitigt.

Dass sich der Meeresanstieg global unterschiedlich auswirkt, ist unbestritten. «Flache Koralleninseln und flache Küstenstaaten wie Bangladesch, die nur wenige Meter über dem Meer liegen und nur wenig finanzielle und räumliche Schutzmöglichkeiten haben, werden vor allem vor den zunehmenden Wellendynamiken und Sturmintensitäten an die Grenzen ihrer Anpassungsfähigkeit und Bewohnbarkeit kommen», sagte Beate Ratter, IPCC-Autorin und Professorin für Geographie an der Universität Hamburg. Falls der Meeresspiegel um einen Meter steigt, werden rund 20 Prozent von Bangladesch überschwemmt. 30 Millionen Menschen wären unmittelbar davon betroffen.

Mumbai, Shanghai, New York, Miami, Bangkok, Tokio, Jakarta, Barcelona oder Marseille – an den Küsten der Erde leben rund 1,9 Milliarden Menschen. Rund 380 Millionen davon leben weniger als fünf Meter über dem Meeresspiegel. Wenn der Meeresspiegel auch bloss um einen halben Meter steigt, kann das allein in den 20 am meisten bedrohten Hafenstädten der Welt Kosten von rund 27 Billionen US-Dollar verursachen.[10]

Wie sehr die Ozeane das von den Menschen produzierte CO2 absorbierten, zeigte Mitte Januar 2020 eine neue Studie noch deutlicher. Ein Team von 14 Wissenschaftler*innen aus elf Instituten verschiedener Länder publizierte seine Ergebnisse im Fachjournal «Advances in Atmospheric Sciences». Darin belegten sie, dass die vergangenen zehn Jahre die höchsten Temperaturen der Meere seit Mitte des letzten Jahrhunderts brachten. Und sie wiesen auf die Folgen dieser Erwärmung hin: Wirbelstürme und heftige Niederschläge, dazu Sauerstoffarmut, Schäden für Fische und andere Lebewesen in den Meeren. Um zu zeigen, wie gigantisch die Wärme-Energie war, welche die Ozeane in den letzten 25 Jahren absorbierten, machten die Forscher*innen Vergleich: Die Menge entsprach der Energie von 3,6 Milliarden Atombomben von der Grösse der Bombe von Hiroshima.[11]

Praktisch gleichzeitig publizierte auch die amerikanische Unternehmensberatungsfirma McKinseys ein Szenario zum Klimawandel. McKinsey mit seinen weltweit rund 30 000 Mitarbeiter*innen ist kein systemkritisches Unternehmen, eine versteckte politische Agenda kann also ausgeschlossen werden. Dennoch befürchtet McKinsey Ernteausfälle, überflutete Flughäfen und ausbleibende Touristen. McKinsey sieht die Folgen der Erderwärmung für die Volkswirtschaften als verheerend an. Geschehe nichts, könne der Klimawandel «Hunderte Millionen Menschenleben, Billionen von Dollar an Wirtschaftskraft sowie das physische und das natürliche Kapital der Welt gefährden», prognostizierten die Berater von Mc­Kinsey in ihrer Studie «Climate Risk and Response». Darin analysierte das McKinsey Global Institute die Folgen des Klimawandels für 105 Staaten in den kommenden 30 Jahren. Für ihre Prognosen gingen die Autor*innen von der bisher realistischen Annahme aus, dass die CO2-Emissionen weltweit weiter steigen, da nennenswerte Massnahmen ausbleiben.

Von den volkswirtschaftlichen Folgen der Klimakrise wird besonders Indien betroffen sein, da dort ungefähr die Hälfte des Bruttoinlandsprodukts unter freiem Himmel erwirtschaftet wird. Weil Hitze und Luftfeuchtigkeit zunehmen, wird diese Arbeit immer öfter unerträglich. Das könnte Indien bis 2030 bis 4,5 Prozent an Wirtschaftsleistung kosten. Doch Indien ist nicht allein, besonders betroffen sind auch Länder wie Pakistan, Bangladesch oder Nigeria. Falls die CO2-Emissionen weiter ansteigen, werden im Jahre 2030 gegen 360 Millionen Menschen in Regionen mit tödlichen Hitzewellen leben; bis 2050 könnte die Zahl bis auf 1,2 Milliarden wachsen.