Die Blaue Revolution

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Auch die linken Parteien in der Schweiz arbeiten zusammen mit den Gewerkschaften darauf hin, dass nicht die Lohnabhängigen die Zeche des ökologischen Wandels bezahlen müssen. Beat Ringger, damals geschäftsführender Sekretär des linken Schweizer Thinktanks Denknetz, hat das in seinem System-Change-Klimaprogramm so formuliert: «Alle Versuche, die Kosten des Klimaschutzes auf die breite Bevölkerung abzuwälzen und gleichzeitig grosse Vermögen vor dem Zugriff zu bewahren sowie wichtige Machtzentren unangetastet zu lassen, werden scheitern – zu Recht.»[33]

Bei der Verknüpfung von ökologischen und sozialen Fragen geht es aber nicht nur darum, den alten Traum einer gerechten Gesellschaft mithilfe der neuen grünen Welle auf der Ebene der Nationalstaaten zu erreichen. Der Umbau der Wirtschaft hin zu einer weltweit nachhaltigen Ökonomie ist nur möglich, wenn er sowohl für die gewöhnlichen Menschen im globalen Norden als auch den breiten Massen im globalen Süden einen positiven Wandel verspricht. «Eine bessere Ökonomie muss sich am guten Leben für alle orientieren», schreibt Carola Rackete.[34] Um weltweit soziale Gerechtigkeit herzustellen und zeitgleich die grassierende Armut zu überwinden, müssen allgemeine Güter wie «die Atmosphäre, die Polarregionen, die Weltmeere, das All, aber auch das Internet» allen Menschen zur Verfügung gestellt werden. Genauso wichtig ist allerdings, dass gleichzeitig die sozialen Güter verbessert würden: «Gesundheitsversorgung oder Bildung, bezahlbares Wohnen und öffentlicher Nahverkehr.» Ein solches Wirtschaftssystem braucht klare Regeln. Rackete plädiert deshalb für ein «Kontrollgremium, das dafür sorgt, dass die Regeln eingehalten werden und die Nutzung gerecht ist.»

Damit ein solches Gremium weltweite Durchsetzungskraft hat, braucht es allerdings den entsprechenden demokratischen Unterbau. Um die menschliche Zivilisation trotz der sich verschärfenden Klimaerwärmung zu bewahren, braucht es nicht nur bei der Produktion ein anderes Wirtschaftssystem. Es braucht auch «eine markante Änderung der Lebensgestaltung und der Konsumgewohnheiten», wie Ringger postuliert.[35]

Um dahin zu kommen, müssen wir aber über den «Elefanten in unseren Wohnzimmern sprechen», wie der deutsche Soziologe und Autor Harald Welzer sagt. Denn das Problem ist nicht die Not oder die Armut, sondern der Wohlstand. Während Durchschnitts-Schweizer*innen im «Turbokapitalismus» wie Maden im Speck leben, ist das aktuelle System «darauf angewiesen, dass Menschen ohne Unterlass neue Bedürfnisse entwickeln und dass es Wirtschaftszweige gibt, die diese neu entwickelten Bedürfnisse befriedigen.» Dass dies zum Kollaps führt, wird ausgeblendet: Jedes Produkt braucht Rohstoffe und Energie und richtet so Zerstörung an. «Hinterher muss der ganze Kram noch entsorgt werden. Über diesen Elefanten in all unseren Wohnzimmern sprechen wir nicht.» Um das System umzubauen, empfiehlt Welzer kleinere «konkrete Utopien». Zusammen könnten diese das grosse Ganze nachhaltig verändern. Allerdings rechnet er mit Widerstand bei der Umsetzung dieser konkreten Utopien: «Der Prozess, da hinzukommen, verläuft über Konflikte. Denn Menschen möchten ihre Besitzstände, ihre Gewohnheiten ungern freiwillig aufgeben. Aber Modernisierung bedeutet immer Konflikt.»[36]

Die Einschätzungen Welzers decken sich mit der Erkenntnis der Wirtschaftsprofessorin Irmi Seidl, die ebenfalls dafür plädiert, von einem einseitigen Wirtschaftswachstum wegzukommen: «Doch ‹Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht nass›, ist unrealistisch.» Es sei die Aufgabe der Politik, dafür zu sorgen, dass es beim Umbau der Wirtschaft zu keiner Massenarbeitslosigkeit komme, sagt sie. Die deutsche Ökonomin leitet die Forschungseinheit Wirtschafts- und Sozialwissenschaften an der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft. Sie weist auf Forschungsergebnisse hin, wonach mit reduzierter Arbeitszeit eine ökologische Entlastung einhergeht. Mehr Zeit für sich und die Familie zu haben, würde den meisten Menschen nicht nur an sich guttun, wir würden auch etwas weniger produzieren und hätten weniger Umwelt- und Gesundheitskosten, sagt Seidl.[37]

Mit ihrem Wunsch nach einer signifikanten Arbeitszeitverkürzung trifft sich Seidl nicht nur mit dem Niko Paech, sondern knüpft auch an einer Forderung an, welche die Arbeiter*innenbewegung seit ihren Anfängen im 19. Jahrhundert begleitet. Um die umweltverträgliche Transformation der Wirtschaft durchsetzen zu können, macht also eine breite Koalition der ökologischen und sozialen Bewegungen Sinn.

Der amerikanische Historiker und Autor Thomas Frank sagte im Hinblick auf die US-Präsidentschaftswahlen 2020, dass es «eine grosse Koalition aller Arbeiter*innen, unabhängig von Hautfarbe und Ethnie» brauchte, um die Wiederwahl Trumps zu verhindern. «Das ist der Weg, den Franklin Roosevelt ging, als er die Reformen des New Deal durchsetzte.» Um diese Koalition für einen Green New Deal zu gewinnen, ist es nötig, bei den realen Lebensbedingungen der Menschen anzusetzen. Und zwar jener Menschen, die nicht im Überfluss leben. Deshalb lohnt es sich, mit Frank einen Blick in die USA zu werfen, wo die chronischen Probleme, die das Leben von Millionen von Amerikaner*innen prekär machen, trotz der bis Anfang 2020 boomenden Wirtschaft noch immer existieren. «Sie können sich keine Medikamente leisten, sie müssen sich für einen Krankenhausaufenthalt verschulden oder verzichten angesichts dieser Aussicht ganz auf die Behandlung. Sie verzweifeln an den hohen Kosten für eine Ausbildung», sagte Frank, noch bevor das Corona-Virus die amerikanische Wirtschaft lahmlegte und Hunderttausende Menschen das Leben kostete. «Wenn man durch die früheren Industrieregionen des Mittleren Westens fährt, sieht man: Das Leben ist nicht dorthin zurückgekehrt. Die Einwohner spüren jeden Tag: Ihre Gesundheitsversorgung ist schlecht. Ihre Stadt geht vor die Hunde. Und sie wissen, dass ihre Kinder nicht zu den Gewinnern gehören werden, die an die guten Colleges gehen werden.»[38]

Mit graduellen Unterschieden waren auch in den reichen Ländern Europas ähnlich prekäre Verhältnisse bereits vor der Coronakrise sichtbar, egal ob in Deutschland, Frankreich oder Grossbritannien. Es waren die Auswirkungen der neoliberalen Politik, die auf Ronald Reagan und Margaret Thatcher zurückgingen und seit gut 40 Jahren das soziale Klima bestimmten. Das wirkte sich auch in der Schweiz aus: «Das verfügbare Einkommen nach Abzug von gestiegenen Mieten, Krankenkassenprämien und anderen Abgaben ging in den meisten Regionen für die Mehrheit zurück. Das Hamsterrad in der Arbeitswelt dreht und dreht, doch die halbe Bevölkerung hat nichts davon», analysierte der ehemalige Schweizer Preisüberwacher Rudolf Strahm.[39]

Den erbärmlichen Zustand der Welt zeigt der UNO-Bericht zur Ernährungssicherheit vom Juli 2019: Jeder zehnte Mensch auf der Erde leidet an Hunger. Rund 820 Millionen Menschen haben nicht genug zu essen. Damit ist die Zahl der Hungernden das dritte Jahr in Folge angestiegen. Dabei ist für Frauen die Wahrscheinlichkeit, von Hunger betroffen zu sein, auf allen Kontinenten höher als jene für Männer.

Der UN-Report stellt fest, dass in Ostafrika fast ein Drittel der Bevölkerung unterernährt ist. Zu den Ursachen gehören Klimaextreme und Konflikte sowie die schleppende wirtschaftliche Entwicklung. Mit über 500 Millionen leben die meisten unterernährten Menschen aber in Asien, vor allem in südasiatischen Ländern. Über 250 Millionen Hungernde leben in Afrika und über 40 Millionen in Lateinamerika und in der Karibik. Insgesamt haben zwei Milliarden Menschen «keinen verlässlichen Zugang zu Nahrung». Knapp 150 Millionen Kinder unter fünf Jahren sind wegen chronischer Mangelernährung unterentwickelt.[40]

Dass solche beschämenden und Zahlen nicht nötig wären, weiss der ehemalige UNO-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung, der Schweizer Sozialist Jean Ziegler. Denn der Welternährungsbericht, der die oben genannten Opferzahlen aufführt, sagt gleichzeitig, «dass die Weltlandwirtschaft in der heutigen Phase der Entwicklung ihrer Produktionskräfte problemlos zwölf Milliarden Menschen ernähren könnte.» Also etwa 50 Prozent mehr als die Weltbevölkerung heute ausmacht. «Zum ersten Mal in der Geschichte gibt es keinen objektiven Mangel mehr. Das Problem ist nicht mehr die fehlende Produktion, sondern der fehlende Zugang zu Nahrung», hält Ziegler fest. Dass dennoch alle fünf Sekunden ein Kind unter zehn Jahren an Hunger oder seinen unmittelbaren Folgen stirbt, sei bei einer vernünftigen Organisation und einer gerechten Weltordnung vermeidbar. Deshalb kommt der ehemalige Schweizer Nationalrat aus Genf zum Schluss: «Ein Kind, das an Hunger stirbt, wird ermordet.» Hoffnung auf eine Änderung dieser skandalösen Zustände sieht Ziegler «im Aufstand des Gewissens, im demokratischen Widerstand, im radikalen Reformwillen der Zivilgesellschaft.»[41]

Die Zustände im industrialisierten Norden sind zwar nicht so erbärmlich wie in den Entwicklungs- und Schwellenländern. Aber selbst in der reichen Schweiz lebt jeder zwölfte Mensch in Armut, verglichen mit dem allgemeinen Lebensstandard im Land. Das heisst: kein Geld für Schuhe, kein Geld für Ferien, kein Geld für einen Eintritt ins Freibad. Die Armut in der Schweiz nahm in den Jahren 2014 bis 2017 um rund 20 Prozent zu. Für den Anstieg der Armut findet der Soziologe und Armutsforscher Franz Schultheis klare Worte. «Das ist ein skandalöser Tatbestand.» Vor allem alleinerziehende Mütter, die Kinderbetreuung und Arbeit vereinbaren müssen, sind von Armut betroffen. Weil in der Schweiz die externen Betreuungsangebote für Kinder oft zu teuer und zu knapp vorhanden sind, können viele dieser Frauen nur die Teilzeit arbeiten. Unter Armut leiden in der Schweiz aber auch über 70 000 Kinder: «Häufig gibt es bei armutsbetroffenen Kindern in der Schweiz eine viel höhere Krankheitsquote. Die Kindheit, die von Armut betroffen wird, ist ganz besonderen verschiedenen Risiken ausgesetzt», sagt Schultheis.[42]

 

Trotzdem: In der Schweiz muss im 21. Jahrhundert kein Kind Hunger leiden, niemand muss unter Brücken schlafen. Und die Gesundheitsversorgung ist auch für Arme weitgehend gewährleistet. Das sieht in den grundsätzlich ebenfalls reichen Vereinigten Staaten der USA ganz anders aus: «Obdachlosigkeit, Hunger, Scham: In den USA sind 43 Millionen Bürger davon betroffen – doppelt so viele wie vor 50 Jahren. Es kann ganz schnell gehen: Krankheit, Jobverlust, schon ist man auf der Strasse», hiess es im November 2019 in einem Dokumentarfilm. In der strukturschwachen Bergbau-Region der Appalachen war es für die Einwohner*innen fast normal geworden, mit Lebensmittelkarten einkaufen zu gehen. Und wer seine Wohnung verliert, dem bleibt oft nichts anderes übrig, als im Auto zu leben. «In Los Angeles gibt es mittlerweile so viele Obdachlose, dass Hilfsverbände damit begonnen haben, kleine Holzhütten bauen, um ihnen ein Dach über dem Kopf zu bieten. Auch die Zahl obdachloser Kinder ist dramatisch gestiegen, 1,5 Millionen sind es mittlerweile – dreimal mehr als zur Wirtschaftskrise in den 30er-Jahren, der sogenannten Grossen Depression», lautete der Befund bereits Monate vor der Coronakrise.[43]

Und dafür ist nicht nur Trump verantwortlich. Bereits im August 2014, als noch Barack Obama das Land regierte, warnte der amerikanische Milliardär Nick Hanauer: «Die Kluft zwischen Habenden und Nicht-Habenden reisst immer schneller auf.» Die Steuererleichterung der Reichen und Superreichen, seit Reagan das Dogma der Republikaner und von Demokraten wie Bill Clinton oder Obama nicht infrage gestellt, hat nur einer schmalen Elite Vorteile gebracht. Der Mittelstand fiel immer stärker zurück und verfügte über immer weniger reales Einkommen. Zur gleichen Zeit, in der Menschen wie Hanauer «jenseits der wildesten Träume aller Plutokraten der Geschichte reich» wurden, blieben 99 Prozent der Einwohner*innen des Landes immer weiter zurück. «Es gibt kein Beispiel in der Geschichte der Menschheit, bei dem ein solch immenser Reichtum angehäuft wurde, und das schliesslich nicht die Mistgabeln auftauchen liess», schrieb Hanauer, lange bevor sich Donald Trump daran machte, die amerikanische Gesellschaft noch stärker zu spalten und die Reichen mit erneuten massiven Steuererleichterungen noch reicher zu machen. Milliardär Nick Hanauer war aber nicht nur in der Analyse stark. Er wusste auch, wie das Wirtschaftssystem wieder ein wenig gerechter würde: mit der Erhöhung des Mindestlohns.[44]

Damit befand sich der amerikanische Multimilliardär mit den Schweizer Gewerkschaften in Einklang, die sich schon lange und teilweise erfolgreich für die Anhebung der Mindestlöhne engagieren. Der Schweizerische Gewerkschaftsbund (SGB) unterstützt darüber hinaus aber auch die jugendlichen Klima-Aktivist*innen der Fridays for Future-Bewegung.[45] Denn für die Gewerkschaften ist es ein existenzielles Anliegen, sich weltweit für griffige ökologische Massnahmen einzusetzen. Nicht nur weil auch die Schweiz von der Klimaerwärmung stark betroffen ist. Dem SGB geht es insbesondere um die sozialen Auswirkungen der Klimakrise: «Besonders betroffen von den negativen Folgen des Klimawandels werden vor allem die Schwachen, die Menschen mit niedrigen Einkommen sein – sowohl global gesehen wie auch bei uns.» Darum setzen sich die Gewerkschafter*innen dafür ein, dass die Massnahmen gegen den Klimawandel sozialverträglich sind: «Der Werkplatz und der Arbeitsmarkt Schweiz können nur mit guten Arbeitsbedingungen und einer solidarisch finanzierten Energiewende gesichert werden.» Was für die Schweiz gilt, ist auch global richtig.

Das sieht auch die internationale Klimabewegung so. Stellvertretend dafür steht in der Klimacharta der Jugendlichen, die in der Schweiz die Fridays for Future-Demos organisieren: «Wir fordern Klimagerechtigkeit.» Dabei geht es um Massnahmen, «die materiell und finanziell benachteiligte Menschen nicht zusätzlich belasten.» Das soll durch das Verursacherprinzip sichergestellt werden: Wer Treibhausgasemissionen und die Umweltverschmutzung verursacht und davon profitiert, wird zur Verantwortung gezogen. «Sie müssen Schäden vorbeugen, beziehungsweise bereits entstandene Schäden beheben.» Dieses Prinzip soll nicht nur generationenübergreifend, sondern auch global gelten.[46]

Der Berner Geografie-Professor Peter Messerli hat zusammen mit 15 Kolleg*innen im Auftrag der UNO den ersten unabhängigen Weltnachhaltigkeitsbericht verfasst. In einem Interview sagte er bereits ein halbes Jahr bevor Greta Thunberg ihren Schulstreik fürs Klima begann, dass wir alle zehn Jahre den weltweiten C02-Ausstoss halbieren müssten, um den Klimawandel zu stoppen. Einer nachhaltigen Entwicklung stehe aber noch ein zweites, riesiges Problem im Weg, die Ungleichheit in der Welt. «Sie hat vor allem innerhalb der Länder extrem zugenommen, und wir haben keine Rezepte dagegen.» Für die Entwicklung der Menschheit seien die nächsten zehn Jahre «absolut entscheidend», sagt Messerli. Da die Vernetzung und die Verbindung der Welt in den letzten Jahren exponentiell zugenommen hat, muss man die Spielregeln anpassen, weil die Menschen «nicht nur einen sicheren, sondern auch einen gerechten Platz auf der Welt» brauchen. Und dafür trägt auch die kleine Schweiz eine grosse Verantwortung: «Wer, wenn nicht die Schweiz, kann es sich leisten, den Mut zu haben und die Innovation zu entwickeln, um die Welt neu zu entwerfen?», fragt der Professor für Nachhaltige Entwicklung. Und er erinnert daran, dass fast 90 Prozent der Konsumgüter, welche die Einwohner*innen der Schweiz verbrauchen, ganz oder teilweise im Ausland produziert werden. Darin zeigt sich nicht nur die Abhängigkeit der Schweiz, sondern auch ihre internationale Verantwortung.[47] In anderen reichen Staaten des globalen Nordens sind die entsprechenden Zahlen vielleicht nicht ganz so extrem. Hoch sind sie allemal.

Doch die Schweiz trägt nicht nur politische und gesellschaftliche Mitverantwortung für die Verhältnisse in der Welt. Wie sieht es mit ihrer ökologischen Verantwortung aus? Der Klima-Fussabdruck der Schweiz ist «eigentlich doppelt so gross ist, wie der Inlandwert glauben lässt», sagt Reto Knutti, der führende Klimawissenschafter der Schweiz. Die Schweiz will zwar offiziell bis in 30 Jahren klimaneutral sein und unter dem Strich keine Treibhausgas-Emissionen mehr ausstossen und so mithelfen, die globale Klimaerwärmung auf maximal 1.5 Grad gegenüber der vorindustriellen Zeit zu begrenzen.[48] Dennoch ist die Schweiz noch lange nicht auf Kurs, wie ETH-Professor Knutti ausführt. Denn während die Schweiz im Gebäudesektor Fortschritte erzielt hat, gingen die Verkehrsemissionen nicht zurück. «Deutlich zugenommen haben die ‹grauen› Emissionen, also Emissionen, die durch Güter und Dienstleistungen, die im Ausland für uns produziert und in der Schweiz konsumiert werden.» Die Schweiz verlagert einfach einen grossen Teil der eigenen Emissionen ins Ausland. Auch bei den in der Schweiz konsumierten Nahrungsmitteln ist «über die Hälfte des Treibhausgasausstosses auf importierte Produkte zurückzuführen». Für eine nachhaltige Klimapolitik ist die Schweiz also gewiss kein Musterland. Dafür bräuchte es klare Rahmenbedingungen sowie einen klaren gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Gestaltungswillen.[49]

Wenn also im Folgenden aufgezeigt wird, welche Vorteile das politische System der Schweiz für eine globalen Demokratie bietet, geht es nicht darum, die herrschende Politik der Schweiz als Vorbild oder Massstab für künftiges Handeln zu propagieren.

Zusammengefasst:

 Die ökologischen und sozialen Probleme hängen eng zusammen.

 Die existentiellen globalen Probleme können nur global gelöst werden.

 Die nationalen Regierungen und internationalen Organisationen sind unfähig, die Probleme zu lösen.

 Das herrschende Wirtschaftssystem muss radikal umgebaut werden, wenn der Klimawandel begrenzt werden soll.

Dass ein neues System demokratisch und nachhaltig ökologisch sein muss, liegt auf der Hand. Wobei die grösste Schwierigkeit nicht darin besteht, eine globale Demokratie zu skizzieren. Die schwierigste Aufgabe wird es sein, den politischen und wirtschaftlichen Umbau so zu gestalten, dass das herrschende System nicht unkontrolliert zusammenbricht und die Welt in Schutt und Asche zerfällt. Denn die ersten Opfer eines solchen Crashs würden jene sein, deren Leben bereits heute vor allem aus Entbehrungen besteht.

Deshalb braucht es für den politischen Umbau nicht nur eine breite Basisbewegung, welche die nötigen Mehrheiten beschafft, um die politischen Umwälzungen weltweit zu erzwingen. Wir brauchen auf der anderen Seite auch hellwache und demokratisch gesinnte Persönlichkeiten, die dafür sorgen, dass der Übergang geordnet und ohne fundamentale Wirtschaftskrise oder Kriegswirren vonstattengeht. Angesichts der Figuren, die im Jahr 2020 in den USA, in Russland, Brasilien oder Australien an der Macht sind, könnte man das als unmöglich bezeichnen.

Dass aber auch scheinbar unbewegliche Machthaber grundsätzlich zu neuen Einsichten fähig sind, hat das Beispiel von Glasnost und Perestrojka in der damaligen Sowjetunion gezeigt. Als Mitte der 1980er-Jahre der neue Generalsekretär der allmächtigen Kommunistischen Partei der Sowjetunion den Umbau des überholten Sowjetsystems ankündigte, konnte sich niemand vorstellen, dass diese Atommacht nach fast 50 Jahren Kaltem Krieg in wenigen Jahren praktisch ohne Blutvergiessen einem neuen System Platz machen würde. Es geht hier nicht darum, zu werten, was das neue System den Russ*innen und ihren damaligen Verbündeten unter dem Strich gebracht hat. Wichtig ist die Erkenntnis, dass es möglich ist, auch innerhalb von wenigen Jahren ein veraltetes System umzubauen, wenn der Wille dafür vorhanden ist.

Und im Gegensatz zur Sowjetunion haben die Gesellschaften in den erwähnten demokratisch verfassten Ländern die Möglichkeit, ihren Politiker*innen Beine zu machen oder sie abzuwählen.

Dass die Klimaerwärmung helfen kann, den nächsten Schritt in der Evolution der Menschheit zu machen, hat der deutsche Historiker Philipp Blom aufgezeigt. In seiner «Geschichte der Kleinen Eiszeit» weist er nach, wie die letzte grosse Klimaveränderung im 16. Jahrhundert den Boden für die Aufklärung bereitete, ohne die wir nicht über Menschenrechte oder Demokratie sprechen würden. Im 17. Jahrhundert waren Menschenrechte noch äusserst «gefährliche und moralisch skandalöse Ideen». Dass ein Mann besser war als eine Frau oder ein Christ besser als ein Heide, wurde nicht hinterfragt. «Die Idee von der Gleichheit der Menschen hat an den moralischen Grundfesten der Gesellschaft gerüttelt», sagt Blom.

Nutzen wir also die neue Klimaerwärmung, um die heute überholten Grundsätze der Gesellschaft positiv zu verändern. Dass die Gedanken dazu als «gefährlich und moralisch skandalös» eingestuft werden können, nehmen wir gerne in Kauf.

Jean Paul «Bluey» Maunick ist Profimusiker und kein Politiker. Deshalb hat er sich nicht gefragt, ob sein Statement politisch korrekt oder gar gefährlich war. «Bluey» hat einfach gesagt, was er denkt und was er an den unzähligen Konzerten von Incognito rund um den Globus erlebt hat: «We are one nation – we are one family.»

Es ist Zeit, diese Erkenntnis politisch umzusetzen. Zeit, die Welt so zu organisieren, dass wir als Menschheit anständig zusammenleben können. Zeit, eine globale Demokratie aufzubauen. Nutzen wir die Klimakrise als Chance. Sorgen wir dafür, dass die Menschen die Angst überwinden.

Wenn es uns gelingt, die Menschen wieder zum Träumen zu bringen, schaffen wir es, eine Welt aufzubauen, in der die ganze Menschheit in Freiheit, Gleichheit und Solidarität leben kann.

Bevor solche Träume in die Tat umgesetzt werden können, gilt es, der Realität ins Auge zu blicken. Dazu dient das nächste Kapitel.

1 «Wormser Zeitung», Worms, 20. August 2016 ↵

www.mlwerke.de/me/me04/me04_459.htm

3 www.aargauerzeitung.ch/schweiz/jean-ziegler-spekulanten-toeten-millionen ↵

www.srf.ch/news/international/guterres-neujahrsbotschaft-die-welt-steht-in-flammen-die-uno-ist-ohnmaechtig

 

www.bluewin.ch/de/news/schweiz/greta-thunberg-das-haus-brennt-206113.html

www.europarl.europa.eu/news/de/press-room/20191121IPR67110/europaisches-parlament-ruft-klimanotstand-aus

www.derbund.ch/ausland/europa/unoklimakonferenz-geht-in-die-verlaengerung/story/14527760

www.srf.ch/news/schweiz/klima-laenderrating-schweiz-faellt-um-sieben-plaetze-zurueck

www.derbund.ch/wirtschaft/duestere-prognose-die-maechtigen-der-welt-fuerchten-sich-vor-umweltrisiken/story/18714198

10 www.derbund.ch/schweiz/standard/traenen-bei-den-klimaaktivisten-raunen-im-gerichtssaal/story/10342973

11 «Der Bund», Bern, 25. September 2020 ↵

12 www.derbund.ch/sport/tennis/federer-lobt-greta/story/17803146

13 Rackete, Carola: Handeln statt Hoffen, München, 2019, Seite 10 ↵

14 «Sonntagsblick», Zürich, 8. Dezember 2019 ↵

15 Daellenbach, Ruth (Hrsg.): Reclaim Democracy – Die Demokratie stärken und weiterentwickeln, Zürich, 2019, Seite 35 ff ↵

16 Ringger, Beat: Das Systemchange Klimaprogramm, Zürich, 2019, Seite 11 ↵

17 aao, Seite 18 ↵

18 Rackete, Carola: Handeln statt Hoffen, München, 2019, Seite 129 ↵

19 aao, Seite 42 ↵

20 «NZZ am Sonntag», Zürich, 1. Juli 2018 ↵

21 «Der Bund», Bern, 28. Dezember 2019 ↵

22 «Sonntagsblick», Zürich, 10. November 2019 ↵

23 «Der Bund», Bern, 28. Dezember 2019 ↵

24 «Blick», Zürich, 20. Januar 2020 ↵

25 www.srf.ch/kultur/gesellschaft-religion/streitgespraech-das-wirtschaftswachstum-stoesst-an-seine-grenzen

26 Rifkin, Jeremy: The Green New Deal, e-book, New York City, 2019 ↵

27 Rifkin, Jeremy, aao, Seite 59 ↵

28 Rifkin, Jeremy, aao, Seite 28 ↵

29 Rifkin, Jeremy, aao, Seite 14 ↵

30 Rackete, Carola: Handeln statt Hoffen, München, 2019, Seite 123 ↵

31 «Der Bund», Bern, 14. Januar 2019 ↵

32 Rifkin, Jeremy: The Green New Deal, e-book, New York City, 2019, Seite 52 ↵

33 Ringger, Beat: Das Systemchange Klimaprogramm, Zürich, 2019, Seite 27 ↵

34 Rackete, Carola: Handeln statt Hoffen, München, 2019, Seite 124 ↵

35 Ringger, Beat: Das Systemchange Klimaprogramm, Zürich, 2019, Seite 26 ↵

36 www.srf.ch/kultur/gesellschaft-religion/soziologe-harald-welzer-ueber-den-elefanten-in-unseren-wohnzimmern-sprechen-wir-nicht

37 «Sonntagsblick», Zürich, 22. Dezember 2019 ↵

38 «Der Bund», Bern, 6. Januar 2020 ↵

39 «Der Bund», Bern, 28. Dezember 2019 ↵

40 www.unicef.de/informieren/aktuelles/presse/2019/un-report-jeder-neunte-mensch-hungert/196298

41 www.welthungerhilfe.de/aktuelles/gastbeitrag/hunger-ist-der-absolute-skandal-unserer-zeit

42 www.srf.ch/news/schweiz/armutsquote-stark-gestiegen-jede-zwoelfte-person-in-der-schweiz-ist-arm

43 www.dw.com/de/armut-in-amerika/g-17392168

44 «Der Bund», Bern, 27. August 2014 ↵

45 www.sgb.ch/themen/service-public/detail/dem-klima-und-der-klimajugend-zur-seite-stehen

46 https://klimacharta.ch/charta

47 «NZZ am Sonntag», Zürich, 25. Februar 2018 ↵

48 www.srf.ch/news/schweiz/bundesrat-verschaerft-klimaziel-wir-duerfen-keine-zeit-mehr-verlieren

49 «NZZ am Sonntag», Zürich, 20. Oktober 2019 ↵