Pussycat

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„Das hast du aber schön gesagt, Juri. Bist du unter die Poeten gegangen?“

„Nein, ich bin mit Leib und Seele Geheimdienstler, das weißt du doch.“

„Na gut. Den Agentenjob können auch andere erledigen, denn wenn die Kleine ihre Sache gut macht, dann werden wir alle davon profitieren.“

„Du meinst also, Anika soll sie mal unter ihre Fittiche nehmen?“

„Kann jedenfalls nichts schaden. Die bringt ihr die richtigen Kniffe bei, und ich übernehme alles Weitere. So bekommen wir eine neue ‚Schwalbe‘, die bereit sein wird, ihren Körper als Waffe einzusetzen. Na, was meinst du?“

„Klingt gut. Wir schicken sie nach Westdeutschland. Dort kann sie sich erst einmal bewähren und sich die ersten Sporen verdienen. Ich möchte jedenfalls nicht, dass sie ein anderer Verein bekommt.“

„Denkst du dabei an das Ministerium für Staatssicherheit?“

„Unter anderem.“

„Ach was, das kommt überhaupt nicht in Frage. Nur was, wenn sie überläuft und auspackt?“

„Nie im Leben! Wenn ich mit ihr fertig bin, kenne ich sie besser als sie sich selbst. Glaub mir, sie ist die Beste, die ich jemals bekommen habe. Wir müssen ihr nur das Gefühl geben, dass wir sie anerkennen und dass sie eine von uns ist. Eine Soldatin, die sich für das Wohl ihres Vaterlandes einsetzt. Dann können wir alles von ihr haben.“

„Bist du sicher? Sollen wir sie nicht erst einmal tote Briefkästen leeren lassen?“

„Aber Boris!“

„Ist ja schon gut, Juri. Ich kann das sowieso nicht allein entscheiden. Die Entscheidung, ob jemand an der umfangreichen Ausbildung teilnehmen darf, trifft einzig und allein das Präsidium.“

„Von dem du ein wichtiger Teil bist. Du könntest zumindest ein gutes Wort für sie einlegen.

„Also gut, ich werde sehen, was ich tun kann. Das MFS bekommt sie jedenfalls nicht!“

„Do svidaniya.“

Kapitel 2
April 1977

Als im April 1977 in Karlsruhe der Generalbundesanwalt Siegfried Buback, sein Fahrer Wolfgang Göbel und der Leiter der Fahrbereitschaft der Bundesanwaltschaft Georg Wurster von einem Motorrad aus in ihrem Auto erschossen wurden, hatte ich es geschafft, eine waschechte Spionin zu werden. Wir waren die heimlichen Helden, hatten alles, was wir brauchten: einen bösen Feind, nachsichtige Verbündete, eine brodelnde Welt. Es ging darum, die Menschheit vor ihren eigenen Exzessen zu schützen. Wir hatten einen sehr gefährlichen Planeten geerbt.

Die Ausbildung dauerte sechs Monate. Gleich in der ersten Woche bekam ich einen Decknamen und einen Lehrplan. Alles war neu und verwirrend. Abends in einem Bistro probierte ich meine neue Identität aus, den neuen Namen, und verquatschte mich prompt nach ein paar Minuten. An den Namen ‚Larissa Orloff‘ musste ich mich erst noch gewöhnen, aber Fehler konnte man nicht verhindern. Die Frage war halt, wie man damit umging – indem man improvisierte. Wenn man darüber nachdachte, was man gelernt hatte, dann hatte man schon verloren. Und man durfte keine Angst haben. Ängstliche Menschen lernten nie etwas, hatte ich mal irgendwo gelesen. Die neue Identität musste so nah wie möglich an der Wirklichkeit sein. Ansonsten verstrickte man sich viel zu schnell in Widersprüche. Agenten waren eben keine Schauspieler!

Vier Wochen lang wurde ich alias Larissa Orloff in die Organisation und in die einzelnen Abteilungen des KGB eingewiesen. Fünf Monate lang brachte man mir bei, wie man konspirativ fotografierte, tote Briefkästen und Verstecke für geheime Nachrichten anlegte, wie man Kontaktberichte verfasste und bei den Chefs Geld für verdeckte Operationen beantragte. Außerdem bekam ich Unterricht in Staatsrecht, internationaler Politik und Psychologie.

Wie erkannte man, wenn jemand lügt? Das war eine der Fragen, um die es ging. Und eine, auf die es offenbar trotz aller Forschung keine eindeutige Antwort gab. Nebenbei lernte ich Sprachen. Russisch war Pflicht, Englisch fand ich spannend. Die Schule, auf die man mich zeitweise schickte, hatte etwas von einem alten Schullandheim der Sechzigerjahre. Es gab eine Kegelbahn, einen Aufenthaltsraum, Schlafräume und einen Hörsaal. Alles lag dicht beieinander. Morgens, wenn ich ins Bad ging, schlurfte mein Professor oder einer der Dozenten im Bademantel über den Gang. Man musste sich mit den anderen unterhalten, ob man wollte oder nicht. Ich war von Menschen umgeben, die sehr akribisch waren, und das entsprach genau dem, was mir gefiel und was ich mir aneignete.

„Larissas Präzision ist eine Waffe“, hatte einmal ein Kollege gesagt, und ein anderer hatte bestätigt: „Ja, sie ist beeindruckend. Aber mit der darfst du nicht verheiratet sein, da hast du nichts mehr zu melden.“

Dem KGB war das egal. Den hohen Genossen interessierte es nicht, ob jemand mit ihren Agenten verheiratet sein wollte. Sie wollten nur die besten Leute in ihren Diensten sehen. Ansonsten entsprach der erste Teil der Ausbildung genau meinen Vorstellungen. Er ähnelte den Handlungen aus den Agentenfilmen im Fernsehen, die sich die Leute immer ansahen. Nervtötend war allerdings die bürokratische Trägheit des Verwaltungsapparates. Es dauerte ewig, bis ein Bericht freigegeben wurde. Hierarchie hoch, Hierarchie runter, erneut Überarbeiten. Dann alles wieder von vorn tippen. Ich war erst zufrieden, wenn ich nach einer Recherche ein gutes Lagebild anbieten konnte. Ich schrieb Berichte, die durch viele Hände gingen. Jeden Tag arbeiteten Dutzende Agenten an solchen Berichten. Sie schrieben Tagesberichte, Wochenberichte, Monatsberichte, Meldungen, Warnungen, verbrauchten eine Unmenge an Papier, je nachdem, wie vertraulich das Material war. Von dem, was sie schrieben, kam ein Bruchteil dort an, wo es tatsächlich hingehörte – in die Politik. Das war manchmal frustrierend, aber man musste mit dem Abenteuer und mit der Bürokratie klar kommen. Es war nicht immer einfach, zu verstehen, wie beides zusammengehörte, aber mit der Zeit würde ich es lernen. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich keinen festen Freund. Hätte ich einen gehabt, ich hätte ihm niemals erzählen dürfen, wer mein Arbeitgeber war. Eine Legende, ein erfundenes Leben war für mich ein Schutz, aber halt auch eine Lüge, und den Menschen zu belügen, den man liebte, das ging nicht. Sobald jemand in mein Leben trat, würde ich es melden müssen. Der KGB würde entsprechende Untersuchungen anstellen. Das bedeutete, ich durfte nichts mehr zu Hause auf dem Schreibtisch liegen lassen. Nichts Persönliches, nichts Berufliches, keine Kontaktliste, keinen Kalender, in dem stand, wo ich wann war und wen ich getroffen hatte. Ich versuchte, vorsichtig zu sein, aber nicht übervorsichtig. Ich wurde schnell misstrauisch, wenn Typen zu viel fragten. Ein Mann, der zu viel redete, war nichts für mich. Kollegen, die zu viel redeten, waren auch nicht mein Ding. Das Zauberwort hieß Verschwiegenheit. Darum allein drehte sich beim Geheimdienst alles. Am Ende meines Einführungslehrgangs war ich bereit, die Welt zu retten, und wenn ich sie von einem Ende zum anderen hätte ausspionieren müssen. Überall drohte die imperialistische Gefahr, und ich war bereit, es mit ihr aufzunehmen.

Der zweite Teil meiner Ausbildung umfasste einen Punkt, der in meinem Vertrag als Kleingedrucktes aufgeführt war und den ich bereitwillig unterschrieben hatte: Alle Hemmungen und Scham sind über Bord zu werfen, und auch der eigene Körper soll in den Dienst der Sache gestellt werden. Das betraf die ganze Skala weiblicher Persönlichkeit, von der geistig-kulturell hochstehenden wissenschaftlich gebildeten Frau über die elegante-charmante Gesellschafterin, die geachtete Kollegin bis zur vermeintlichen Partnerin, die mit ihrem bezaubernden Liebreiz lockte und intime Abenteuer versprach. Entsprechend lasen sich die Protokolle über Anwerbungsgespräche und Leistungsbeurteilungen von KGB-Schwalben, die für die gezielte Vorbereitung ausgewertet wurden. Dabei ergaben sich folgende Frauentypen:

Typ 1 – Die Chefsekretärin: steht auf finanzkräftige Männer, sehr gute äußere Erscheinung, macht auf unnahbar, luxuriös und exquisit. Sie ist dezent-berechnend, hochwertig gekleidet, feiert Partys, gibt sich tolerant und weltoffen.

Typ 2 – Die unabhängige Frau: 50 Jahre, alleinstehend; intime Verhältnisse zu diversen Kollegen, raucht, trinkt, lesbische Veranlagung.

Typ 3 – Die Blondine, gesellig, offenherzig, selbstbewusst, 35 Jahre, häufig wechselnder Geschlechtsverkehr, charmant, witzig, leicht ironisch, sie weiß, dass sie mit ihrer Art bei den Männern ankommt.

Typ 4 – Die Studentin: 20 Jahre, ledig; macht auf Männer einen starken sexuellen Eindruck. Sie ist gut aussehend, charmant, flirtet gern.

Typ 5 – Die Schülerin: jugendlich, 17 Jahre, festes Verhältnis zu einem geschiedenen Mann. Sie nimmt an Sexpartys teil, lässt sich von mehreren Jungen am Abend vernaschen, raucht, trinkt, liebt es, öffentlich unsittlich berührt zu werden.

Damit konnte ich noch einigermaßen umgehen, doch dann zeigte mir Anika, was weibliche Intuition und sexuelle Erfahrung zu bewerkstelligen vermochten. Anika war eine alternde Blondine mit einem unförmigen Po, schweren Brüsten und langem Haarzopf. Sie hatte den Zenit ihrer Jugend schon lange überschritten, dafür war sie sexuell erfahren und mit allen Wassern gewaschen. Sie führte mir eine ausgewählte Serie an Pornofilmen vor, die zeigten, wie professionelle Frauen jeglichen Wunsch ihrer männlichen Kunden erfüllten. Ich war gewiss nicht prüde, aber die Filme schockten mich. Zum ersten Mal begann ich zu begreifen, auf was ich mich eingelassen hatte. Ich erfuhr von sexuellen Praktiken, deren Existenz ich mir vorher nicht einmal in meinen kühnsten Träumen hatte vorstellen können. Anika gab mir eine Tonbandaufnahme, in der sie mir Instruktionen gab, wie ich mit den Männern umzugehen hatte. Diese Instruktionen klangen wie Grundregeln für die weibliche Kunst des Verführens oder wie Pflichten, die eine devote Frau zu erfüllen hatte.

 

Berühre ihn mit den Händen, gleite unter sein Hemd, unter seinen Gürtel, fahre mit den Fingernägeln über seinen Brustkorb, seinen Bauch, seine Schenkel. Öffne seine Hose. Streife leicht über die Gegend seiner Geschlechtsteile. Zieh deinen Slip aus und hebe den Rock. Lass den Rocksaum über verschiedene Gegenstände gleiten, seine Arme, seine Beine. Zeig es ihm, wie du es dir machst. Fahre mit deinen Händen über deinen Körper, knie nieder, spreize die Beine. Stöhne und erkläre ihm, dass du es ganz allein für ihn machst. Beschreibe deinen Orgasmus. Frage ihn, was er gern mag. Ruf ihn an und sag ihm, dass du nackt auf der Couch liegst, ein Kissen zwischen die Beine geklemmt hast und mit dir selbst spielst. Bitte ihn, dich nicht so lange allein zu lassen.

Das KGB beauftragte seine Sex-Agentinnen, private Beziehungen mit ausgewählten Männern einzugehen. Zum Aufgabenbereich dieser Damen gehörten Sex, gemeinsame Aufenthalte im kapitalistischen Ausland oder in Städten der Nato-Staaten. Auf diese Weise gewann der sowjetische Geheimdienst Erkenntnisse über westliche Diplomaten, Journalisten und Wirtschaftsvertreter, die er als ‚operativ-interessante Ausländer‘ bezeichnete.

Aber noch war die Theorie eben nur Theorie, und ich hoffte inständig, gewisse sexuelle Praktiken niemals in der Praxis anwenden zu müssen.

Oktober 2002
Oktober 2002

Auf der anderen Seite des Fuchsbaus lagen die Waschräume und die Toiletten. Ich verließ den Ort, der mir die schlimmsten Qualen meines Lebens beschert hatte. Die Räume mit den sanitären Anlagen sahen genauso trostlos aus wie alles andere in dem ehemaligen Erziehungsheim. Die Metallteile waren stark verschmutzt, oxidiert oder lagen herausgerissen auf dem staubbedeckten Boden. Ich blickte auf die alten blassblauen Fliesen. Wie hässlich sie waren. Genauso hässlich wie das, was hier mit mir geschehen war. Genau an dieser Stelle war ich von einem der männlichen Erzieher unsittlich berührt und vergewaltigt worden. Noch nicht einmal in den Waschräumen hatten sie mir eine gewisse Intimsphäre zugestanden. Ich fühlte eine innere Leere in mir. Da war kein Gefühl mehr, einfach nur ein leeres Nichts. Ich hatte mich damals beinahe daran gewöhnt, missbraucht zu werden. Jetzt bedeutete es mir nichts mehr. Ich hegte keine Hassgefühle gegen meine Peiniger. Viel wichtiger war das, was danach kam – mein neues Leben im Westen.

Juli 1977
Juli 1977

Die ersten Gehversuche fielen mir schwer. Ich war eine gerade flügge gewordene Spionin, und Westdeutschland war halt doch ganz anders, als ich es mir vorgestellt hatte. Sicher, ich hatte durch Oberst Kurganow eine vorzügliche Ausbildung genossen, und danach hatte mir Anika gezeigt, wie ich auf die sexuellen Fantasien der Männer reagieren musste, doch die Realität sah zunächst ganz anders aus. Ich reiste über den Grenzübergang Heinrich-Heine-Straße in den Westsektor Berlins ein. Natürlich mit neuen Papieren, die erstklassig waren. Die Sowjets machten keine halben Sachen. Eine neue Identität besaß ich auch, und einen neuen Namen: Larissa Orloff. Dafür war ich extra mit meinem Betreuungsoffizier nach Kaliningrad gefahren, hatte mir jedes Dorf, jeden Hof und jede landschaftsspezifische Eigenschaft eingeprägt. Gemäß meinen neuen Dokumenten stammte ich aus Akulowo. Dort hatte es sogar mal eine Larissa Orlow gegeben, aber die war längst tot. Ich hatte ihr Grab auf dem kleinen Dorffriedhof gefunden. Alles Weitere hatte der örtliche Bürgermeister für mich arrangiert – unter anderem, meinen neuen Namen in sämtliche Register eintragen lassen. So war quasi aus dem Nichts eine neue Larissa Orlow alias Orloff als Tochter einer deutschen Landarbeiterin auferstanden. Mein Pass war so echt, wie er nur echt sein konnte. Das hatte ich wiederum einem von Oberst Kurganow im Polizeirevier Lichtenberg eingeschleusten Kontaktmann zu verdanken.

Von Westberlin aus fuhr ich mit dem Reisebus zu meinem ersten Einsatzort – nach München. Meine Aufgabe war schlicht und einfach. Ich sollte Westbürgerin werden und mich in die westdeutsche Gesellschaft integrieren. Neben meinem Pass bekam ich eine Geburtsurkunde, einen Taufschein, die Sterbeurkunde meiner Mutter, eine Arbeitserlaubnis und ein wenig Startgeld. Das war alles. Von nun an war ich auf mich allein gestellt. Das heißt, nicht ganz. Es gab noch den Betreuungsoffizier Ogoneck und die zweimal wöchentliche Kontaktaufnahme seitens der Russen mittels verschlüsseltem Funkspruch über Kurzwelle.

Ich kam in München an, als die zweite Generation der RAF den Vorstandssprecher der Dresdner Bank, Jürgen Ponto, ermordete. Dies geschah am 30. Juli 1977. Das RAF-Mitglied Susanne Albrecht war mit dem Bankier persönlich bekannt, sodass dieser sie in seinem Privathaus in der Oberhöchstadter Straße in Oberursel empfing. Susanne Albrecht, Brigitte Mohnhaupt und Christian Klar erschienen in Pontos Villa, um ihn zu entführen. Als sich Ponto zur Wehr setzte, schossen Klar und Mohnhaupt fünf Mal auf ihn, woraufhin er im Krankenhaus verstarb.

Die Zeiten waren unruhiger geworden. Etwas Unheimliches ging in Westdeutschland vor sich.

Ich saß ich in einem Café an der Pestalozzistraße und trank einen Kaffee. Draußen war es ungewöhnlich warm, oder kam mir das nur so vor, weil ich jetzt weit im Süden war?

Alles, was ich besaß, war meine neue Identität und einen alten Lederkoffer mit ein paar Habseligkeiten. Das war nicht gerade viel. Was ich jetzt am dringendsten benötigte, war eine Unterkunft und eine legale Arbeit.

„Am besten, Sie suchen sich etwas Öffentliches, wo Sie persönlichen Kontakt zu den Menschen bekommen, Katharina“, hatte mir Oberst Kurganow eingebläut.

Nun, der Oberst war weit weg, und ich hieß auch nicht mehr Katharina, sondern Larissa. Dafür musste ich mich ab sofort irgendwie allein durchbeißen. Und genau das tat ich, indem ich die Tageszeitung studierte. Am meisten interessierten mich die Kleinanzeigen. Bei den Arbeitsangeboten handelte es sich meistens um Vertretertätigkeiten beziehungsweise um Putzjobs. Das war nicht unbedingt das, was ich suchte. Ich blätterte gedankenversunken in der Zeitung, nippte an meinem Kaffee. Irgendetwas musste mir einfallen, und zwar schnell. Später war meine Tasse leer, ich stand auf und bezahlte das Getränk an der Kasse. Dann schlenderte ich zur Garderobe, nahm meine Strickjacke vom Haken und ging weiter in Richtung Ausgang. Da sah ich das Schild. Es hing im Schaufenster neben der Tür. Serviererin gesucht, stand da beidseitig in großen Lettern geschrieben. Ich machte auf dem Absatz kehrt und ging zurück zur Kasse. Die ältere Dame, bei der ich vorhin den Kaffee bezahlt hatte, lächelte freundlich.

„Haben Sie noch etwas vergessen, junges Fräulein?“

„Äh, nein, ich habe nur gerade das Schild im Fenster gesehen. Komisch, dass es mir nicht schon beim Betreten Ihres Cafés aufgefallen ist. Nun, ich bin neu in der Stadt und suche dringend einen Job.“

Der Gesichtsausdruck der älteren Dame veränderte sich. Reine Neugierde ersetzte die Höflichkeit. Trotzdem schien ihr zu gefallen, was sie sah. Ich musste einen adretten und gepflegten Eindruck auf sie gemacht haben.

„Und woher kommen Sie?“, lautete ihre erste Frage.

„Aus Berlin. Äh, Westberlin natürlich“, fügte ich schnell hinzu.

„Natürlich. Und Sie heißen?“

„Larissa Orloff.“

„Haben Sie schon einmal im Service gearbeitet?“

Ich beschloss, die Unwahrheit zu sagen. „Aber sicher! Ich habe mehrfach im vergangenen Sommer bei uns in den Biergärten ausgeholfen.“

„Und warum sind Sie weg von Berlin? Ich meine, eine so schöne große Stadt bietet doch sicher unzählig viele Möglichkeiten?“

Das genau war der Knackpunkt. Hier musste eine einfache, aber glaubhafte Antwort her. Die hatte ich parat. Ich erzählte ihr die Geschichte, die ich mir zurechtgelegt hatte. „Das hat eher persönliche Gründe, verstehen Sie? Ich habe mich von meinem Freund getrennt.“

Jetzt lächelte die ältere Dame wieder. „Ah, ich verstehe, Liebeskummer. Das tut weh, was? Na ja, ihr jungen Leute nehmt die Gefühlsangelegenheiten einfach viel zu ernst. Das Leben geht immer weiter!“

„Ja, schon, aber ich mochte einfach nicht mehr in der gewohnten Umgebung bleiben, wenn Sie verstehen, was ich meine.“

„Aber sicher, Kindchen. Luftveränderung, was? Und da haben Sie sich gerade München ausgesucht?“

Auch darauf wusste ich eine passende Antwort.

„Warum denn nicht München? Ich habe immer gehört, dass München eine fantastische Stadt sein soll, und dann die Nähe zu den Bergen. Ich liebe die Berge, müssen Sie wissen.“

„Wann können Sie anfangen?“

Diese direkte Frage hatte ich so nicht erwartet, aber anscheinend hatte ich die ältere Dame mit meinen Antworten zufriedengestellt.

„Von mir aus gleich morgen. Allerdings muss ich mich noch um eine Unterkunft bemühen …“

„Was, die haben Sie auch nicht?“

„Nein, ich habe Ihnen doch erzählt, dass ich gerade erst in München angekommen bin. Eine entfernte Tante von mir wohnt in Traunstein, aber das ist wohl zu weit, was?“

„Viel zu weit, Kindchen. Da können Sie sich auch gleich in Österreich eine Arbeit suchen.“

„O nein, vielen Dank, ich denke, ich möchte lieber hier in München bleiben.“

„Warten Sie mal, ich habe da oben noch eine Dachkammer frei. Die könnte Ihnen mein Mann ein wenig zurechtmachen. Ich meine, es ist nicht gerade eine Luxuswohnung, aber zum Schlafen reicht es allemal. Und wenn ich mich recht erinnere, steht da oben sogar noch ein alter Elektroofen herum, damit Sie es in den kälteren Jahreszeiten warm haben.“

Das war meine kleinste Sorge. „Passt schon!“

Ich brachte eine der Redewendungen an, die ich vorab einstudiert hatte. Innerhalb von ein paar Minuten hatten sich meine Probleme gelöst. Ich hatte einen Job und eine Unterkunft. Außerdem würde mir der Job als Kellnerin direkten Kontakt zu den Gästen ermöglichen.

Na, Genosse Oberst Kurganow, wie habe ich das gemacht?, dachte ich im Stillen.

Bereits am nächsten Tag begann mein neues Leben als Bundesbürgerin. Ich richtete mich in dem kleinen Dachgeschoss oberhalb des Cafés häuslich ein. Das war nicht weiter schwer, denn ich hatte ja kaum etwas mitgebracht. Trotzdem versuchte ich, es mir irgendwie gemütlich zu machen. Tagsüber ging ich meinem Job als Serviererin nach. Ich nahm meine Aufgabe sehr ernst. Am Anfang war ich noch unbeholfen, aber lernwillig. Und ich lernte schnell. Meine Chefin, Frau Obermayr, zeigte mir sämtliche Kniffe, die Frau brauchte, um den meist männlichen Gästen ein gutes Trinkgeld zu entlocken. Dabei kam mir mein angeborener Charme zugute, und nach ein paar Tagen ging mir die Arbeit wie von selbst von der Hand. Fast kam es mir so vor, als hätte ich in meinem noch so jungen Leben nie etwas anderes getan als Servieren. Neben Frau Obermayr arbeitete auch eine junge Auszubildende in dem Café. Sie hieß Sabine, war siebzehn, nur unwesentlich jünger als ich. Wir schlossen schnell Freundschaft. Sabine stammte aus München und wusste immer, wo etwas los war. So arbeitete ich mich immer mehr in die westdeutsche Mentalität ein. Das war beileibe nicht so schwer, denn der westdeutsche Kleinbürger liebte Geld, Fußball und Autos. Darauf ließ sich aufbauen …

War ich einmal nicht mit Sabine unterwegs, fing ich an, all das zu fotografieren, von dem ich glaubte, es könnte die Sowjets interessieren. Ich unternahm Ausflüge zu Kasernen und fotografierte militärische Einrichtungen, wann immer ich in ihre Nähe kam. Des Weiteren interessierte ich mich für industrielle Anlagen und Güter. Aus diesem Grund schloss ich mich sogar einer Gruppe ausländischer Investoren an, die verschiedene Betriebe besuchte. Nach zwei Wochen hatte ich meinen ersten Film voll. Mit einem gehörigen Gefühl von Stolz steckte ich die Filmrolle in den toten Briefkasten, den man mir zugewiesen hatte. Ich fühlte mich gut. Das war eine Tätigkeit genau nach meinem Geschmack. In der Zwischenzeit ließ mich Frau Obermayr sogar die Kasse machen. Ich hatte ihr Vertrauen gewonnen, erledigte meinen Job zu ihrer vollsten Zufriedenheit. Doch dann kam die bedenkliche Nachricht von meinem Führungsoffizier Ogoneck. Ich wurde zu einer Aktivität gebeten, bei der meine körperlichen Reize gefragt waren. Demzufolge hatte das KGB Akten über potenzielle männliche Opfer angelegt, die lange observiert worden waren und neben beruflichen und privaten Informationen auch deren bevorzugte sexuelle Praktiken enthielten. Es war im September 1977, als man mich in das Haus eines einflussreichen Industriellen schickte, wo an einem ganz bestimmten Tag eine ganz bestimmte Party stattfinden sollte.

 

Woanders in Deutschland erreichte der Linksterrorismus seinen Höhepunkt. Am 5. September 1977 wurde der Präsident des Bundesverbandes der Arbeitgeber, Hanns Martin Schleyer, in Köln entführt. Die vier Begleiter Schleyers wurden erschossen.

„Leopoldstraße“, verkündete der Taxifahrer mit schlaftrunkener Stimme. „Wir sind gleich in Schwabing.“

Ich öffnete meine Handtasche, nahm einen kleinen Taschenspiegel hervor und überprüfte mein Make-up. Alles war perfekt. Also legte ich den Spiegel zurück und zog stattdessen eine Maske heraus, die ich mir extra für diesen Abend zugelegt hatte. Keine zwei Minuten später waren wir am Ziel. Das Taxi hielt an einer Straßenecke. Ich bedankte mich bei meinem Chauffeur, bezahlte und stieg aus. Da war ich nun. Wie würde es jetzt weitergehen? Mit gemischten Gefühlen näherte ich mich dem Haus mit der Nummer 22 und betrachtete das Gebäude. Von außen wirkte es schlicht und einfach. Anscheinend wollte der Eigentümer kein großes Aufsehen erregen. Jetzt stand ich vor der Eingangstür und versuchte, meine Nervosität in den Griff zu bekommen. Dann betätigte ich die Klingel. Im Hintergrund ertönte ein tiefer Gong. Oberhalb der Tür bewegte sich eine Kamera. Während ich so dastand und wartete, erinnerte ich mich an das, was mir Anika beigebracht hatte. Das Opfer in ein Gespräch verwickeln, dem Mann schöne Augen machen und bereit sein, den eigenen Körper für den Erhalt wichtiger Informationen einzusetzen. Jemand betätigte die Sprechanlage.

„Das Kennwort, bitte“, sagte eine monotone Stimme.

„Adel verpflichtet.“

Die Tür öffnete sich, ich betrat das Haus und staunte. Das Innenleben war ganz anders, als man es aufgrund der äußeren Fassade erwarten durfte. Anscheinend hatte der Eigentümer die Ausstattung seinen extravaganten Wünschen angepasst. Allein die Ausmaße des Salons verschlugen jedem Besucher die Sprache. Mit mehr als hundert Quadratmeter Größe übertraf er alles, was die meisten bisher gesehen hatten. Eine exklusive Auswahl an Antiquitäten und teuren Teppichen auf blitzblank geputzten Marmorböden vermittelten den Eindruck von Wohlstand und Vermögen. Ich fühlte mich zunehmend wohler. Meine Nervosität war wie weggeblasen.

„Na, was haben wir denn da für ein hübsches Kätzchen?“ Es war eine angenehm männliche Stimme, die mich begrüßte.

Ich drehte mich um und blickte in das Gesicht eines Dobermanns. Es war natürlich eine Maske, sie gehörte zu meinem Gastgeber. Und sogleich stach mich der Hafer. Zum Dank für das Kompliment machte ich brav einen Knicks, wobei ich gleichzeitig meinen Mantel öffnete und kokett lächelte. „Ich hoffe, dieses hier wird Ihnen noch besser gefallen.“

Mein Gastgeber pfiff durch die Zähne und half mir aus dem Mantel. Darunter trug ich einen schwarzen hautengen Hosenanzug und rote Pumps mit hohen Keilabsätzen. Mein Gesicht hielt ich hinter einer Katzenmaske versteckt.

Meinem Gastgeber schien zu gefallen, was er sah. Er ließ ein weiteres Kompliment folgen. „Freut mich sehr, dass Sie kommen konnten. Sie sehen hinreißend aus.“

Er nahm mich bei der Hand und zog mich mit sich. Ich schaute mir alles genau an. Die Party war bereits voll im Gange. Die Gäste tanzten, tranken und flirteten, was das Zeug hielt. Ich sah, wie sich die ersten Pärchen bildeten. Auf einem Sofa verführten zwei Herren, maskiert als Helmut Schmidt und Franz Josef Strauß, eine Dame mit einer Maske von Margaret Thatcher. Ein Typ mit einer Ayatollah Khomeni-Maske filmte die ganze Aktion. Hinter dem Salon befand sich der berühmte Springbrunnen. Davon hatte ich bereits gehört, wusste sogar, was er beinhaltete – Fruchtbowle mit Zusätzen.

Ich hielt es für besser, bei Mineralwasser zu bleiben, denn ich wollte wissen, was ich tat, während ich über die frivole Menge staunte, die sich zusammengefunden hatte, um eine ausschweifende Party zu feiern. Ich spazierte weiter durch das Haus.

Hoffentlich ging das gut für mich aus.

Mein Gastgeber hatte überall Bildschirme aufgestellt, auf denen schmutzige Filme liefen, selbst draußen auf der Terrasse. Und wie selbstverständlich wurde der Fruchtbowlen-Springbrunnen häufig frequentiert. Ich schaute mich weiter um. Die meisten der Gäste standen bereits unter Alkoholeinfluss. Um eine gewisse Anonymität zu bewahren, trugen sie Masken. Dahinter konnte man sich so wunderschön verstecken, wenn man die Sau rauslassen wollte. Ich machte mir einen Spaß daraus, das Verhalten der Partygäste zu beobachten. Manch einer befand sich bereits im fortgeschrittenen Stadium. Ein Individuum mit einer Piratenmaske starrte mich an. Als ich in ein anderes Zimmer ging, schlich er mir nach und trat genau in dem Moment aus einer Ecke hervor, an der ich vorbeigehen musste. Er stand ganz plötzlich vor mir, als ich mich umdrehte. Durch die Augenschlitze der Maske konnte ich seine Augen sehen – hellblau und eiskalt. Wie grausig! Ich fröstelte. Schnell drehte ich mich um, hielt Ausschau nach jemandem, mit dem ich mich unterhalten konnte, aber da war niemand, der so war, wie ich es mochte – charmant und witzig.

Gegen 23:00 Uhr war ich die Einzige, die noch ohne fremde Hilfe aufrecht stehen konnte. Alle anderen hatten kräftig einen sitzen. Ein Mann mit einer Affenmaske lag tief schnarchend unter einem antiken Holztisch. Seine Hose war verschwunden, dafür hatte jemand sein bestes Stück rot angemalt. Ich musste grinsen, als ich sein kümmerliches Geschlechtsteil sah.

Die meisten der kostbaren Möbelstücke waren beiseitegeschoben worden. Überall standen halb volle Gläser und Becher mit Fruchtbowle herum. Reste von Gebäck und Lachsschnittchen schmückten sich mit Konfetti und Luftschlangen. In den Salatschüsseln schwamm alles Mögliche, nur kein Salat. Es sah aus wie flüssige Pizza. Ich hielt Ausschau nach meinem Gastgeber – ohne Erfolg. Anscheinend wollte er sich nicht finden lassen. Weitere geeignete Kandidaten gab es nicht. Entweder waren die Typen betrunken und vulgär, oder aber bereits besetzt.

Auch gut. So, wie die Dinge jetzt lagen, würde es heute wohl nichts werden mit Informationen.

Ich fand, dass der richtige Zeitpunkt gekommen war, um mich unbeobachtet aus dem Haus zu schleichen. Ich sah die beiden schmalen Türen, die dicht nebeneinanderlagen und von denen eine hinaus auf die Terrasse führen musste. Ich tat genau zwei Schritte auf sie zu, da spürte ich es. Von hinten senkte sich ein gewaltiges Gewicht auf mich. Hastig drehte ich mich um, nur um festzustellen, dass ein übergewichtiger Bursche mit einem Löwenkopf im Begriff war, sich um meinen Rücken zu schlingen.

„Hi, isch bin de Leo.“

Ich hatte alle Mühe, ihn von mir fernzuhalten, wollte ihn unbedingt loswerden. „Ich wollte gerade gehen, trinken Sie doch noch einen.“

Leo rülpste und lallte. „Isch will nischs su drinken. Nur ma so Hallo sagen. Du bisssu süß. D…das wollte ich dir nua sagen.“

„Vielen Dank.“ Ich versuchte weiterhin, den Löwen von mir abzuschütteln.

Der war gerade dabei, meinen Hals mit seinen Händen zu umklammern, was nicht gerade angenehm war. Ich krächzte ihm etwas ins Ohr in der Hoffnung, dass er verstand und dahin verschwand, wo er hergekommen war. „Ich glaube, du brauchst dringend etwas frische Luft, Leo!“

Tat er aber nicht, sondern klammerte sich noch fester an mich, während ich panisch versuchte, nach hinten auszubrechen. Durch den Mundschlitz sah ich seine sabbernde Zunge, die sich leicht nach außen schob, während er mich rückwärts auf die Veranda drückte. Ein eng umschlungenes Paar stand in der hinteren Ecke, fest an das schmiedeeiserne Geländer gepresst. Eine Frau hinter einer Vampirmaske kicherte und ließ ihre Hand im Hosenschlitz des Mannes verschwinden. Danach zog sie ihn mit sich in die Dunkelheit des anliegenden Gartens. Dort verwandelte sich der Klang des Kicherns allmählich zu einem Laut des Schleckens und Stöhnens.