Pussycat

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Oktober 2002
Oktober 2002

Den Fuchsbau gab es noch immer. Ich wusste noch ganz genau, wo er sich befand. Im Untergeschoss ganz am Ende des Flurs. Bis dahin schaffte ich es noch, dann musste ich mich übergeben.

Verdammt, was tat ich hier eigentlich? Was wollte ich mir beweisen? Dass mir die Vergangenheit nichts mehr anhaben konnte?

Ich blieb vor der kleinen Zelle stehen, betrachtete die schwere, massive Holztür. Sie war noch intakt, nur die Schlösser fehlten. In den Putz der Wände waren einzelne Worte und ganze Sätze eingeritzt. Ich wusste, was hier geschrieben stand. Es waren die verzweifelten Worte jener Insassen, die man hier eingesperrt hatte.

Wenn ich nur wüsste, wer mich damals bei den Erziehern verpfiffen hatte? Aber war das überhaupt noch wichtig?

Für die Missstände verantwortlich war auch die Hierarchie unter den Kindern. Natürlich war das von der Obrigkeit so gewollt. Die Kinder sollten gezielt gegeneinander aufgehetzt werden. Für kleinere Vergehen gab es Essensentzug. Dann wurde gesagt: „Ihr wisst ja, wem ihr das zu verdanken habt.“

Und dann rechneten die Kinder unter sich ab. An so manchem Morgen war ich mit einer aufgeplatzten Lippe oder einem blauen Auge aufgestanden. Und der Erzieher hatte noch hämisch gefragt: „Marie, bist du gefallen?“

Man versuchte mit allen Mitteln, die Persönlichkeit der Insassen zu brechen. Viele gingen an der unmenschlichen Behandlung zugrunde, ließen ihr Leben im Fuchsbau oder funktionierten danach genauso, wie es das System von ihnen verlangte. Für uns Mädchen kam ab einem bestimmten Alter noch eine ganz andere Gefahr hinzu: Vergewaltigung. Ich wurde innerhalb von fünf Monaten zehn bis zwölfmal vergewaltigt. Nicht von den Mithäftlingen, sondern von meinen Erziehern und vom Anstaltsdirektor, der auch noch stolz verkündete, man brauche in seinem geschlossenen Jugendwerkhof durchschnittlich drei Tage, um die Jugendlichen auf seine Forderungen einzustellen.

Wie ich sie alle hasste!

Oktober 1973
Oktober 1973

Mit fünfzehn wurde ich schwanger. Dieses Problem erledigte die Obrigkeit auf ihre Art und Weise. Ein sogenannter Facharzt stocherte so lange mit einem Kleiderbügel in meiner Gebärmutter herum, bis alles Mögliche aus mir heraus lief und ich glaubte, verbluten zu müssen. Aber ich überlebte. All die genannten Grausamkeiten und Repressalien vermochten meine Willensstärke nicht zu brechen, auch wenn mich der Hass auf das politische System und auf die Stasi beinahe wahnsinnig werden ließ. Nicht dass die Heimerziehung von der Stasi als ein vorrangiges Ziel betrachtet wurde, so wichtig war sie nun auch wieder nicht, aber dennoch existierte eine enge Zusammenarbeit zwischen allen Einrichtungen der Jugendhilfe und der Staatssicherheit. Informationen über die Spezialheime wurden akribisch gesammelt und ausgewertet. Bei Fehlentwicklungen und negativen Einstellungen zur DDR übernahm die Stasi die Ermittlungen. Inoffizielle Mitarbeiter kamen in der Jugendhilfe und Heimerziehung zum Einsatz.

Ich wuchs zu einem attraktiven Teenager heran, mit Rundungen genau an den Stellen, wo sie sein mussten. Mit festen Brüsten, vollen Lippen, einer schlanken Taille und Hüften, die sich mit einem provozierenden Versprechen bewegten. Mit sechzehn fing ich an, meine körperlichen Reize gezielt einzusetzen. Ich sammelte Kontakte und Informationen über Personen, die mir später einmal von Nutzen sein konnten. Mein erstes Opfer war Bertram König, ein junger Erzieher, der gerade seine Ausbildung absolviert hatte. Eines Abends klopfte er an meine Zellentür, wollte sich nach irgendetwas erkundigen. Er bekam keine Antwort. Unsicher blickte er auf seine Uhr, öffnete vorsichtig die vergitterte Tür und trat ein. Der Raum war dunkel. Mein Schatten näherte sich ihm.

„Bertram …“, flüsterte ich mit heiserer Stimme.

Er erkannte sie und drehte sich um. „Marie, ich möchte etwas mit dir besprechen.“

Weiter kam er nicht. Ich näherte mich ihm langsam und kam so nah, dass er sehen konnte, dass ich nackt war.

„Großer Gott“, Bertram verhaspelte sich. „Was ist …“

Ich nahm seine Hand und legte sie auf meine Brust. „Ich möchte, dass du mit mir schläfst.“

„Du? D… du bist doch noch nicht volljährig!“ Bertram war sichtlich überrascht. „Ich glaube, es ist besser, wenn ich jetzt gehe.“ Er trat einen Schritt zurück und wandte sich der Tür zu, aber ich ahnte, was er vorhatte.

„Geh nur weiter, und ich erzähle dem Direktor, dass du mich zwingen wolltest …“

„Das wagst du nicht …“

„Mach dich nur davon, und du wirst es erleben!“

Er hielt inne. Er wusste, wenn ich wirklich ernst machte, wäre seine letzte Stunde gekommen. Also versuchte er es auf die sanfte Tour. „Katharina, Kleines, sei doch vernünftig …“

„Ich mag es, wenn du mich Kleines nennst.“

„Jetzt hör schon auf, Katharina! Sei vernünftig! Der Direktor wird mich entlassen, wenn du ihm das sagst.“

„Ach was, der doch nicht.“

Er versuchte es abermals. „Ich bin doch erst seit Kurzem hier. Ich würde bei allen in Ungnade fallen.“

„Aber nein! Da waren schon ganz andere, vor dir …“

„Wie bitte?“

„Ach, nichts.“

Es war hoffnungslos.

„Was willst du nun wirklich von mir?“

„Dass du es mit mir tust.“

„Aber das geht doch nicht. Wenn der Direktor davon erfährt … er würde mich auf der Stelle hinauswerfen.“

„Ganz bestimmt nicht. Er muss ja auch gar nichts davon erfahren. Nur wenn du jetzt gehst, dann erzähle ich ihm, dass du es bei mir versucht hast und dann …“

„Marie, bitte nicht.“

Ich blickte ihn herausfordernd an. „Du hast keine andere Wahl, oder?“

Er starrte mich an, ich sah Panik in ihm aufsteigen. „Warum denn gerade ich, Katharina?“

„Weil ich dich mag. Du bist immer freundlich und nett zu mir.“ Ich nahm seine Hände und führte sie vorsichtig an meinen Schoß. „Siehst du, ich bin eine richtige Frau. Zeig mir, wie es ist. Lass mich fühlen, wie eine Frau liebt.“

Was konnte er anderes tun?

Ich führte ihn zu meinem Bett, half ihm sogar aus Hose und Shorts. Dann kniete ich mich vor ihm nieder und berührte seine Männlichkeit mit den Lippen, so, wie es mir die älteren Mädchen erzählt hatten. Er stöhnte auf. Kurz darauf nahm ich sein Ding ganz in den Mund.

Ich spürte, wie hart er war, ließ von ihm ab und legte mich auf ihn. Bertram schlang seine Hände um meinen Nacken und drang von unten tief in mich ein. Er spürte keinen Widerstand, sah mich erschrocken an, aber ich drückte mich noch enger auf ihn, während sich meine Hüften fordernd an die seinen pressten.

„Mein Gott, das ist umwerfend.“

Ich fühlte mich gut. Es kam mir so vor, als wäre ich dafür geboren. Instinktiv wusste ich genau, was ich zu tun hatte. Mein Körper übernahm allein die Initiative. Als es vorbei war, blieb ich noch ein Weilchen neben ihm liegen. „Und morgen machen wir es gleich noch einmal.“

Von diesem Zeitpunkt an war Bertram König mein Verbündeter. Durch ihn genoss ich Freiheiten, von denen meine Mitgefangenen nicht einmal zu träumen wagten.

Ich bekam gesonderte Essensrationen, Süßigkeiten und Obst, und ich durfte sogar ab und zu fernsehen. Zu diesem Zeitpunkt wurde mir klar, es waren nicht die Heime, in denen ich es nicht aushielt, es war das ganze Land.

In der Folgezeit lernte ich, wie der Hase lief, wurde abgebrühter und emotionslos. Ich nahm mir mehrere Liebhaber, von denen ich mir gewisse Vorteile erhoffte. Mit dem Erreichen der Volljährigkeit wurde ich aus dem Heim entlassen. Bei der Entlassung musste ich mich verpflichten, über das Erlebte zu schweigen. Das brachte das Fass zum Überlaufen. Ich hatte meinen Hass besiegt, ihn umgedreht, sogar Kraft aus ihm gezogen, nur, um meine ganz persönliche Rache zu nehmen. Meine ersten Schritte in Freiheit führten mich nach Wolfersdorf und danach direkt zu den Sowjets.

September 1976
September 1976

Das Gebäude der Besatzungsbehörde in Berlin Karlshorst sah ganz anders aus, als ich erwartet hatte. Ich hatte angenommen, das Hauptquartier der russischen Staatssicherheit wäre in einem historischen Prachtbau untergebracht. So etwas wie das alte Bankgebäude mit seinen kunstvoll gemeißelten Pfeilern, die den Platz zweier Ladenfronten auf dem Alexanderplatz einnahmen, doch dem war nicht so.

Die Dienststelle der sowjetischen Staatssicherheit befand sich in einem rechteckigen Gebäudekomplex, dessen Mittelbau über einen erhöhten Sockel mit Kellerfenstern verfügte. Darüber streckten sich vier Vollgeschosse in die Höhe und mündeten in ein leicht geneigtes und deutlich über die Fassade reichendes Flachdach. Der mit einer Sicherheitsschleuse versehene Eingang im erhöht liegenden Erdgeschoss war über eine Freitreppe zu erreichen. Auch wenn dieser Komplex den Charme anderer historischer Gebäude vermissen ließ, so war er dennoch ziemlich beeindruckend.

Ich stand vor dem Tor und wusste nicht so recht, was ich tun sollte. Ein Wachsoldat in dunkelgrüner Uniform trat aus einem der kleinen Kontrollhäuschen, sah mich und kam auf mich zu. Als er beinahe vor mir stand, bemerkte ich sein ernstes Gesicht.

„Sie wünschen, bitte?“

Ich versuchte, meine Nervosität zu unterdrücken, und setzte eine Unschuldsmiene auf. „Ich möchte jemanden vom KGB sprechen.“

Der Soldat musste offensichtlich an sich halten, um nicht gleich laut loszulachen. „Hören Sie, Kindchen. Das hier ist das Hauptquartier der sowjetischen Besatzungsmacht. Von einem KGB weiß ich nichts. Zu wem genau möchten Sie denn?“

 

Ich sah ihn ratlos an. Das war schon mal schiefgegangen. „Leider ist mir hier keine bestimmte Person bekannt. Ich weiß nur, dass ich mit jemanden vom Geheimdienst sprechen möchte.“

Der Uniformierte schenkte mir ein breites Grinsen. „Ich glaube, Sie gehen zu oft ins Kino. Wenn Sie nicht wissen, zu wem Sie wollen, darf ich Sie nicht hineinlassen.“

Mein Mut fiel wie ein Kartenhaus in sich zusammen. „Aber es ist dringend.“

„Nun kommen Sie mal runter, gnädiges Fräulein. Ich habe die Order, hier niemand Unbefugten passieren zu lassen, und Befehl ist Befehl. War mir eine Ehre.“ Der Mann hob seine Hand zum Gruß und ließ mich einfach vor dem Tor stehen.

Und jetzt? Ich glaube, ich war ein wenig blauäugig, zu denken, ich könnte einfach so in das Gebäude der sowjetischen Staatssicherheit hinein marschieren und irgendwer würde sich schon um mich kümmern.

Ich überlegte, was ich tun konnte, wandte mich zum Gehen, zögerte und blieb wieder stehen. In diesem Moment näherte sich eine schwarze ZIL Limousine dem großen Tor. Der Wachsoldat nahm Haltung an und grüßte formell. An der Limousine wurde ein Seitenfenster heruntergelassen. Jetzt trat der Soldat näher an den Wagen heran. Seine Mimik entspannte sich. Anscheinend kannte er die Insassen.

„Hallo Ivan. Na, schiebst wohl eine ruhige Kugel heute, was?“

„In der Tat. Ist nicht viel los heute, Genosse Oberst.“

„Na, ist doch besser als umgekehrt.“

„Das stimmt, Genosse Oberst. Aber gerade ist mir etwas Komisches passiert. Kommt doch die Kleine, die da hinten steht, zu mir und sagt, dass sie zum KGB will. Ich habe mir fast in die Hose gemacht vor Lachen.“

Der Oberst beugte sich aus dem Fenster. Seine Augen folgten Ivans Blickrichtung. Und dann sah er mich. Ich stand einfach nur da, rührte mich nicht und bestaunte die glänzende Limousine.

„Na, die ist vielleicht einfältig. Hat sie gesagt, was sie von uns will?“

„Nein, sie meinte nur, es sei sehr wichtig. Aber zu wem sie wollte, konnte sie mir nicht sagen, und da habe ich sie natürlich auch nicht passieren lassen. Schließlich kenne ich die Dienstvorschriften.“

„Hm … gut. Aber sieht doch ganz manierlich aus, das junge Fräulein. Ich sehe sie mir mal etwas genauer an.“ Der Mann bewegte seinen Oberkörper nach vorn, um sich weiter aus dem Fenster lehnen zu können. „Hey, Sie, kommen Sie doch mal her.“

Ich starrte noch immer auf den glänzenden Wagen, meine Gedanken waren bereits ganz woanders. Erschrocken zuckte ich zusammen, als ich merkte, dass ich angesprochen wurde. Wie in Trance bewegte ich mich auf die Limousine zu. Ein älterer Herr mit grauem Haar und einem großen Schnauzbart lächelte mich freundlich an. Er war der Typ Vater, den ich gern gehabt hätte.

„Ich höre gerade, Sie möchten jemanden von der Botschaft sprechen?“ Er bluffte.

„Äh, nein, eigentlich möchte ich zu jemandem vom Geheimdienst KGB. Leider kenne ich mich hier nicht aus, und der Wachsoldat will mich nicht so einfach in das Gebäude lassen.“

„Um was geht es denn? Kann ich etwas für Sie tun?“

„Nun ja, ich dachte …, ich wollte …“

Der Mann wurde ungeduldig. „Was denn nun, junges Fräulein, zu wem wollten Sie?“

„Äh … ich weiß nicht so recht, nur dass …“ Mein Gestammel ging mir selbst auf den Geist.

Die Miene des Mannes wurde wieder ernst. „Also gut, haben Sie irgendwelche Referenzen?“

Mit fiel etwas ein. Bluffen konnte ich auch. „Ich komme von Oberstleutnant Gregori.“

Die Miene des Mannes erhellte sich. „Ah, der Genosse Theo Gregori. Der ist mir bekannt. Also schön, was haben Sie auf dem Herzen?“

„Soll ich das hier draußen mit Ihnen besprechen, einfach so?“

„Wie bitte? Ach so. Aber nein. Kommen Sie, steigen Sie ein. Haben Sie schon einmal in einem ZIL gesessen?“

„Nein.“

Die Fahrertür öffnete sich, der Chauffeur stieg aus und bequemte sich dazu, mir die linke Seitentür zu öffnen. Ich staunte nicht schlecht, als ich den Luxus im Inneren des Fahrzeugs sah. Da war ein Telefon, eine Trennscheibe aus Glas, sogar eine kleine Bar und Chromleisten, so weit das Auge reichte. Mit einem Seufzer ließ ich mich auf die bequemen Polster fallen. Hinten auf der Rückbank saß noch ein Mann. Auf einmal richteten sich sechs neugierige Augenpaare auf mich.

„Na, dann erzählen Sie mal!“

Ich bemerkte erst jetzt, dass der Mann mit dem Schnauzbart eine Uniform trug, an der mächtig viel Lametta baumelte. Dann erzählte ich ihm meine Geschichte.

„Also, mein Name ist Katharina Böhm. Ich meine, ich besitze einen deutschen Pass, der auf diesen Namen ausgestellt ist. In Wirklichkeit stammt meine Familie aus Russland, zumindest mütterlicherseits. Meine Großmutter wurde in Bolschaja Poljana, dem früheren Paterswalde geboren. Das ist ein kleines Dorf in der Oblast Kaliningrad. Sie nannte mich immer Marischka. Meine Familie ist damals aus Paterswalde geflohen, als die Faschisten kamen. An der Grenze hat man ihnen ein Dokument gegeben, aus dem hervorging, dass sie rassisch rein seien und im Großen und Ganzen dem deutschen Wesen entsprachen. Das Dokument war ausgestellt auf den Namen Böhm. Ich wurde am 10. Juli 1958 in Wolfersdorf geboren. Das liegt in Thüringen. Meinen Vater habe ich kaum gekannt. Er verschwand, als ich fünf Jahre alt war. Ich glaube, er ist in den Westen gegangen. Danach hat meine Mutter andere Männer kennengelernt. Die beschwerten sich immer über die Last der mitgebrachten Kinder. Wir waren zu zweit, müssen Sie wissen. Ich habe noch eine Zwillingsschwester. Der neue Freund meiner Mutter hielt es nicht lange bei uns aus. Danach kam wieder einer, und so ging das immer weiter, bis ich zehn war. Da steckte mich Mutter in ein Heim.“

„Ich verstehe. Wo sind Sie zur Schule gegangen?“

„In Wolfersdorf auf die Grundschule. Allerdings nur für drei Jahre. Danach folgten weitere drei Jahre sozialistischer Unterricht in einem Spezialkinderheim, inklusive gemeinsamem Zeitungslesen und FDJ-Abenden. Aber von dort bin ich dann abgehauen.“

„Was Sie nicht sagen. Wie alt waren Sie da?“

„Warten Sie. Das war im Jahr 1971. Ich muss damals dreizehn gewesen sein. Allerdings haben sie mich sehr schnell wieder geschnappt und in den Jugendwerkhof gebracht. Dort habe ich dann keinen regelmäßigen Unterricht mehr bekommen.“

„Sie haben sich also bewusst gegen das System gestellt?“

„Ach was, nein! Eine Verräterin bin ich nie gewesen. Das kommunistische System ist schon ganz in Ordnung, nur die ausführenden Personen sind unfähig und handeln aus niedrigen Beweggründen. Die meisten Erzieher sind nur daran interessiert, ihr eigenes Selbstbewusstsein an der Machtausübung gegen Wehrlose aufzurichten. Und daran möchte ich gern etwas ändern.“

Er sah mich fragend an.

„Sie meinen, Sie handeln aus echter Überzeugung?“

„Nun, der Genosse Oberstleutnant Gregori hat mir das wenigstens geglaubt. Wir haben uns im Jugendwerkhof in Wolfersdorf kennengelernt und viel miteinander gesprochen. Er wollte mich sogar in die Parteispitze mitnehmen, aber dann hat mich die Geheimpolizei abgeholt und mich nach Torgau gebracht. Nicht einmal der Genosse Oberstleutnant hat das verhindern können.“

„Ich verstehe. Bitte erzählen Sie weiter.“

„Der dortige Jugendwerkhof war die Hölle, und natürlich habe ich versucht, von dort auszubrechen, das gebe ich zu.“

„Was, schon wieder?“

„Ja, ich wollte zurück nach Wolfersdorf, aber sie haben mich nicht gelassen. Stattdessen haben sie mich in den Fuchsbau gesteckt. Sie wissen, was das ist?“

„Aber sicher. Das Konzept stammt von unserem Pädagogen Anton Semjonowitsch Makarenko. Übrigens eine sehr erfolgreiche Umerziehungsmaßnahme. Nun gut, aber irgendwann sind Sie dann entlassen worden?“

„Ja, als ich achtzehn wurde.“

„Und warum sind Sie nach Ihrer Entlassung nicht zurück in Ihre Stadt gegangen?“

„Ich bin dort gewesen, aber niemand von meiner Familie hat mehr in Wolfersdorf gewohnt. Meine Mutter nicht, und auch nicht meine Schwester. Ich weiß nicht, wo sie abgeblieben sind. Wahrscheinlich verschollen. Es gibt keinerlei Nachricht von ihnen.“

„Und was haben Sie dann getan?“

„Ich bin zurück ins Heim gegangen, doch der Oberleutnant war nicht mehr da. Man wollte mich auf irgendeine FDJ-Fakultät schicken, aber das habe ich abgelehnt.“

„Und dann?“

„Ich habe mir stattdessen ein Bahnticket nach Berlin gekauft, und jetzt bin ich hier. Vielleicht haben Sie irgendeine Verwendung für mich?“ Ich sah ihm in die Augen, war mir bewusst, wie das auf Männer wirkte.

Er blickte mich zunächst nachdenklich an, dann erschien prompt ein Lächeln auf seinem Gesicht. Er schob seinen Sitz nach vorn und reichte mir die Hand über seine Kopfstütze.

„Schön, ich bin Oberst Kurganow.“

Ich war baff. „Der Oberst Kurganow?“

„Ja, mit Leib und Seele. Vielen Dank, dass Sie zu uns gekommen sind, Fräulein Böhm. Aber jetzt müssen Sie gehen. Sie werden bald von uns hören. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag.“

Das war alles? Ich war einigermaßen überrascht, doch die freundliche Art des Obersten beruhigte mich. Ich wusste, ich würde ihn bald wiedersehen, stieg aus dem Wagen, ließ einen letzten Blick durch den Innenraum schweifen und ging.

„Vielen Dank, dann bis bald, Genosse Oberst Kurganow.“

Er beobachtete, wie ich die Tür hinter mir schloss und sagte etwas zu seinem Sekretär, das ich nicht mehr verstehen konnte.

Oktober 2002
Oktober 2002

Trotz des beklemmenden Gefühls, das die finstere Umgebung des Fuchsbaus in mir auslöste, musste ich grinsen, als ich daran dachte, wie naiv ich mich damals bei den Russen angestellt hatte. Ich hatte tatsächlich geglaubt, ich könnte einfach so zum KGB marschieren und man würde mir mit Kusshand eine interessante Agententätigkeit anbieten. Obwohl, wenn ich recht darüber nachdachte, war es beinahe so gewesen, denn der Anruf aus Oberst Kurganows Büro kam genau zehn Tage später.

Oktober 1976

Oktober 1976

Die Hauswirtin, bei der ich wohnte, beobachtete mich argwöhnisch, als ich den Hörer entgegennahm. „Keine Männerbesuche“, hatte sie ausdrücklich betont, als ich mich bei ihr vorgestellt und nach dem Zimmer gefragt hatte. Es war winzig, aber billig. Also hatte ich es genommen. Auf eine Kontaktaufnahme seitens der Russen hatte ich bereits sehnlichst gewartet, aber dass die einfach bei mir anrufen würden, hatte mich doch überrascht. Woher die wohl die Telefonnummer meiner Hauswirtin hatten? Und überhaupt, wie konnten sie wissen, dass ich jetzt hier wohnte? Na ja, Geheimdienste wussten eben alles. Das beruhigte mich sogar.

„Fräulein Böhm?“

„Ja, am Apparat.“

„Bitte seien Sie morgen um 15:00 Uhr am Schloss Hohenschönhausen.“

„Wo?“

„Na, an dem alten Gutshaus, Hauptstraße 44.“

„Ja gut. Soll ich …?“

„Nicht am Telefon! Und seien Sie bitte pünktlich!“

Klick, aufgelegt. Schweißperlen bildeten sich auf meiner Stirn, aber ich wusch sie sogleich mit dem Handrücken trocken. Das waren Profis. Ich befand mich auf dem richtigen Weg.

Der nächste Tag kam, und ich fuhr mit dem alten verrosteten Fahrrad meiner Hauswirtin nach Hohenschönhausen. Ich schauderte, als ich an der Untersuchungshaftanstalt der hiesigen Staatssicherheit vorbeifuhr. Die hohen Mauern und Wachtürme erinnerten mich an Torgau. Damit wollte ich nie wieder etwas zu tun haben. Das Schloss lag in Alt-Hohenschönhausen. Ich lehnte das Fahrrad an eine der wuchtigen Mauern und wartete. Ein gelblicher Doppeldeckerbus fuhr an mir vorbei. Dann sah ich die mir bereits bekannte schwarze Limousine. Sie kam schnell näher und hielt vor mir an der Bordsteinkante. Der Chauffeur stieg aus und öffnete mir wieder die hintere Tür. Oberst Kurganow saß auf dem Beifahrersitz. Er grüßte freundlich. Mir fiel auf, dass er in Zivil war. Er trug einen hellen Mantel und einen schwarzen Hut.

„Ich komme direkt aus Moskau“, erklärte er mir.

„Alle Achtung, war es dort schön?“

„Und ob! Der Gorky Park, die Moskwa. Katjuscha und Kalinka … ein Gedicht.“

„Sie waren bei Ihren Töchtern?“

 

Der Oberst grinste über das ganze Gesicht. „Wie, Sie kennen Katjuscha und Kalinka nicht? Von wegen Töchter. Das sind russische Volkslieder. Sie müssen noch sehr viel lernen, mein Kind, wenn Sie eines Tages wirklich zu uns gehören wollen. Hier, ich habe Wodka mitgebracht. Mögen Sie einen Schluck?“

Er reichte mir die Flasche. Sie war in ein Zeitungsblatt der Neuen Zeit eingewickelt. Ich griff danach und führte sie an den Mund.

„Pajéchali, auf geht’s, Nastrovje.“

Ich ließ die klare Flüssigkeit durch meine Kehle laufen. Der Wodka brannte und kitzelte meine Magenwände. Ansonsten war er gar nicht schlecht. „Ah, das tut gut.“

„Nicht wahr? Ist einer der besten, den wir bei uns in Russland haben.“

„Moskau, da möchte ich auch gern mal hin …“

„Nun ja, vielleicht kann ich Ihnen sogar dabei behilflich sein. Möchten Sie noch einen Schluck?“

„Warum nicht?“ Ich spürte bereits die Wirkung des Alkohols.

„Mögen Sie Kaviar?“

„Ich weiß nicht. Ich habe noch nie …“

Der Oberst nahm eine kleine Blechdose und einen Silberlöffel aus dem Handschuhfach.

„Hier, probieren Sie, zur Feier des Tages. Aber Achtung, der schmeckt ein wenig salzig.“

„Zur Feier des Tages? Haben wir denn etwas zu feiern?“

„Ja, das haben wir. Ich habe mich in Moskau für Sie starkgemacht. Aber zuerst verlangt man natürlich einen Beweis Ihrer Loyalität.“

Damit wusste ich nichts anzufangen. Ich zerkleinerte den Kaviar mit den Zähnen und schluckte ihn hinunter. Er schmeckte tatsächlich salzig. An die russischen Spezialitäten musste ich mich erst noch gewöhnen.

„Loyalität?“, fragte ich. „Wie kann ich die denn unter Beweis stellen?“

„Indem Sie für unsere Sache kämpfen.“

Ich blickte den Oberst ungläubig an. „Wo soll ich denn kämpfen? Der Krieg ist doch längst vorbei.“

„Ja, sicher ist er das, aber mit jeder neuen Nation, die sich aus dem Eis hervorwagt, mit jeder Wiederentdeckung alter Identitäten und Leidenschaften, mit jeder Auflockerung des alten Status Quo bekommen unsere Agenten haufenweise Arbeit. Wenn Sie nur einmal Ihre schönen blauen Augen öffnen, werden Sie erkennen, dass der imperialistische Feind uns stetig einkreist und bedroht. Aber wenn man die Gefahr erkennt, ist sie keine mehr, und das verdanken wir nur den wachsamen Augen unserer Spione. Wir haben in bösen Ländern gute Leute, die ihr Leben für unsere Sache riskieren. Hier, trinken Sie noch einen Schluck Wodka. Auf unsere lautlosen Helden!“

„Ja, hicks, auf die Helden.“

Ich war schon leicht beschwipst. So viel Wodka hatte ich noch niemals zuvor in meinem Leben getrunken. Dafür schien der Oberst umso nüchterner zu sein.

„Katharina, ich darf Sie doch Katharina nennen?“

„A… aber sicher, Genosse Oberst.“

„Also gut, Katharina, was würden Sie sagen, wenn Moskau auch Sie …?“

„Mich?“

„Wie ich bereits anfangs erwähnte, habe ich mich mächtig für Sie ins Zeug gelegt.“

„Aber wieso denn gerade für mich? Ich habe doch keinerlei Erfahrung?“

„Nun, ich habe denen erzählt, wie Sie bei uns aufgetreten sind, und glauben Sie mir, die in Moskau verstehen sich darauf, zu beurteilen, wen sie gebrauchen können und wen nicht. Sehen Sie sich das hier einmal an.“ Er griff in die Seitentasche seines Mantels und holte ein Schriftstück hervor.

Ich nahm es an mich und las.

Hiermit verpflichte ich mich zu vollkommener Loyalität dem sowjetischen Staat gegenüber. Des Weiteren werde ich strengsten Gehorsam leisten, sämtliche Aufträge befolgen, sowie alle Hemmungen und Scham über Bord werfen. Ich bin bereit, notfalls auch meinen Körper sowie mein Leben in den Dienst der Sache zu stellen.

Ich schluckte. Das war verdammt starker Tobak.

Oberst Kurganow reichte mir seinen Kugelschreiber. „Hier, unterschreiben Sie.“

Ich dachte nicht lange nach und unterschrieb. Was sollte ich auch anderes tun? Schließlich hatte ich den Stein ins Rollen gebracht und damit mein Schicksal herausgefordert.

Oberst Kurganow saß in seinem geräumigen Dienstzimmer und dachte über seine neuste Rekrutierung nach. Sie war ein Glücksfall. Hübsch, klug, ehrlich und unverbraucht. Er würde sie nach Belieben formen können. Sie war etwas anderes als diese Stümper, die die Rekrutierungen an Hochschulen normalerweise hervorbrachten. Wenn er nur an die letzte Veranstaltung dachte, die er in Leipzig organisiert hatte. Das sogenannte ‚Konfliktforschungsseminar‘ war ein großer Flop gewesen. Niemand hatte sich wirklich für sein Anliegen interessiert. Und dann stand da so ein Prachtmädchen quasi direkt vor seiner Haustür und fragte an, ob er eine Verwendung für sie hätte. Natürlich hatte er die. Er würde …

Das Telefon klingelte, und das penetrante Geräusch unterbrach seine Gedanken, auch wenn er den Anruf erwartet hatte.

„Boris?“

„Dobryy vecher, Juri. Hat alles geklappt?“

„Ja, sie hat unterschrieben.“

„Und jetzt?“

„Na, ich werde sie perfekt ausbilden lassen. Du weißt schon: Treffs, Mikrofone, Geheimschrift, Funk, Code, Fototechnik, das volle Programm. Die Kleine ist sehr begabt. An der werden wir viel Freude haben.“

„Und ideologisch?“

„Ich habe sie auf Herz und Nieren geprüft. Das Mädchen ist klasse. Sie hat Charakter, falls du verstehst, was ich meine.“

„Du meinst, sie hat Format?“

„Ja, und gute Umgangsformen. Sie ist wirklich ganz außergewöhnlich.“

„Wie alt ist sie eigentlich?“

„Gerade achtzehn geworden.“

„Was, noch so jung? Na, in dem Alter stellt man sich unsere Tätigkeit noch als großes Abenteuer vor.“

„Na und? Ist es das etwa nicht?“

„Schon, aber nicht so, wie sie sich unsere Arbeit vorstellen wird. Glaub mir, sie träumt wahrscheinlich noch davon, sich im Kleiderschrank des Bundeskanzlers zu verstecken oder das Hauptquartier der amerikanischen Armee in die Luft zu sprengen.“

„Ach was. So naiv kann sie nicht sein. Wir sind doch hier nicht bei der RAF.“

„Das sagst du was. Andreas Baader, Gudrun Ensslin, Jan-Carl Raspe sitzen schon längst in Stammheim, und Ulrike Meinhof weilt schon nicht mehr unter uns.“

„Das ist mir bekannt. Sie hat sich am 9. Mai in ihrer Zelle erhängt. Somit ist die gesamte Führungsmannschaft der RAF ausgeschaltet.“

„Und dafür haben sie sich 1970 extra in Jordanien ausbilden lassen. Aber es gibt doch sicher eine Nachfolgeorganisation?“

„Sicher, die gibt es. Nennen sich ‚Die zweite Generation‘. Da hatten sogar unsere Jungs die Finger mit im Spiel. Wusstest du, dass sie aus dem 1970 gegründeten Sozialistischen Patientenkollektiv entstanden ist?“

„Mein Gott, Juri, was für ein Wort. Ne, das wusste ich allerdings nicht. Wer ist denn dabei?“

„Zwei Typen namens Haag und Mayer sollen die Anführer sein.“

„Ist mit denen etwas anzufangen?“

„Keine Ahnung. Unsere Leute versuchen gerade, einen Kontakt herzustellen, was sich allerdings als sehr schwierig erweist. Die beiden sind äußerst misstrauisch.“

„Verstehe. Also was ist nun mit der Kleinen? Ist sie naiv oder nicht?“

„Ich denke schon. Immerhin hat sie einen unserer Wachsoldaten nach dem KGB gefragt.“

„Ich würde sie mir ja gern selbst ansehen, aber leider schaffe ich es nicht, von hier wegzukommen. Du weißt schon, das Z. K. bereitet gerade die große Militärparade vor. Da brauchen sie jeden Mann.“

„Kann ich mir vorstellen.“

„Also, du willst sie ausbilden und dann als Kundschafterin nach Westdeutschland schicken?“

„Als einfache Kundschafterin? Ich weiß nicht. Ich glaube nicht, dass sie davon sehr begeistert sein wird.“

„Nicht? An was hast du dann gedacht?“

„Daran, dass sie einmal einen prima Führungsoffizier abgeben würde.“

„Was, du willst sie Führungsaufgaben übernehmen lassen?“

„Später einmal wird sie bestimmt so weit sein.“

„Das verstehe ich nicht. Solch einen Posten muss man sich doch erst erarbeiten. Führungsoffiziere werden nur unsere besten Leute. Sie hat noch nichts für uns geleistet! Warum setzen wir sie nicht erst einmal als Lockvogel ein? Auf dem Foto, das du mir mitgebracht hast, sieht sie ja ganz passabel aus. Typ Unschuld vom Lande, na, du weißt schon, auf so etwas fliegen die Männer.“

„Du wohl auch, was?“

„Aber natürlich. Jedenfalls weiß ich, wovon ich spreche.“

„Alter Schlawiner … obwohl, darüber habe ich auch bereits nachgedacht, nur eigentlich bräuchten wir dringenden Ersatz für Werner Metzger. Du weißt schon, unser Agent, der bei einem Autounfall ums Leben gekommen ist. Die Sache hat ziemlich viel Staub aufgewirbelt. Besonders, als die im Westen das mit der doppelten Identität geschnallt haben. Dabei war seine Identität hervorragend. Nun ja, sei’s drum. Wir müssen nach vorn blicken, müssen unsere alten Träume in den Köpfen junger Leute entfachen und uns am Feuer ihrer Jugend wärmen.“