ABGRÜNDE

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Kapitel 4

Wie so oft erwachte Bernadette Meyfarth kurz vor Sonnenaufgang. Sie liebte es, das perlenfarbige Licht am Horizont von ihrem Bett aus beobachten zu können, noch ehe es zu einem rötlich-gelben Streifen herangewachsen war. Dieser Moment stellte für sie eine Art Ritual dar, bot er ihr doch die nötige Ruhe um nachzudenken und sich auf den neuen Tag einzustellen. Bis spät in die Nacht hinein, hatte sie mit ihrem Lebensgefährten Stefan Niedermeyer zusammengesessen, Wein getrunken und einen Artikel überarbeitet, den er in Kürze veröffentlichen wollte. Dabei hatte Stefan zu viel getrunken und war einfach auf dem bequemen Sofa im Wohnzimmer eingeschlafen. Bernadette hatte noch nicht einmal halb so viel getrunken wie er, trotzdem fühlte sie sich schlapp und abgespannt. Sie versuchte aufzustehen, spürte jedoch eine aufkommende Verkrampfung ihrer Muskeln in den Beinen und im Rücken. Sie fluchte, schaffte es aber dann doch im zweiten Anlauf aufzustehen. Ihr Blick streifte das Familienfoto, welches auf ihrer Kommode stand. Sie fühlte eine innere Leere aufkommen, die sofort von ihr Besitz ergreifen wollte. Seit dem Tod ihrer Eltern war ihre Schwester Diana die einzige Familienangehörige, die sie noch besaß.

Apropos Diana, ich muss mich unbedingt mal wieder bei ihr melden! Ist schon eine ganze Weile her, seit ich etwas von ihr gehört habe. Bevor sie nach Köln an die Uni gegangen ist, haben wir fast jede freie Minute miteinander verbracht. Wie ich diese Zeit vermisse! Zeitweilig konnte Stefan die Lücke schließen, die ihre Schwester hinterlassen hatte, aber mit der Beziehung zu ihm stand es mal wieder nicht zum Besten. Sie nahm sich vor Diana gleich nach dem Duschen anzurufen, schnappte sich ihren Morgenmantel und ging ins Bad. Die Wechseldusche erweckte ihre Lebensgeister. Danach zog sie sich an und ging die Treppe hinunter, um die Tageszeitung zu holen. Dabei kam sie an ihrem Wohnzimmer vorbei. Die Tür stand offen. Stefan lag zusammengekauert auf dem Sofa und schnarchte friedlich vor sich hin. Bernadette verdrehte die Augen, holte die Zeitung rein und ging in die Küche. Dort stellte sie routinemäßig die Espressomaschine an und beobachtete, wie die braune Brühe in ihre Tasse floss. Vom Wohnzimmer aus drang Stefans Schnarchen zu ihr herüber, sie nahm die Tasse, setzte sie sich an den Küchentisch und las die Überschrift der Tageszeitung. „GROSSEINSATZ DER POLIZEI AM FÜHLINGER SEE FÜHRTE ZU NICHTS“, stand da in großen Lettern geschrieben. Bernadette beugte sich vor, um den Artikel genauer lesen zu können. Dabei stieß sie mit dem Ellenbogen gegen ihre Kaffeetasse. Die braune Flüssigkeit schwappte auf den Tisch. Hastig sprang sie auf und griff nach einem Stück Zewa. Dabei fiel ihr Blick auf das Schnurlose Telefon, welches auf ihrem Kühlschrank stand.

„Verdammt, Diana! Beinahe hätte ich schon wieder vergessen dich anzurufen! Jetzt aber... Sie schnappte sich den Apparat, wählte Dianas Nummer und fing gleich an freudig drauf los zu plappern, bis sie bemerkte, dass die weibliche Stimme, die zu ihr sprach von einem Band kam. „Hier spricht der automatische Anrufbeantworter von Diana Meyfarth. „Leider können Sie im Moment keine Nachricht hinterlassen. Das Band ist voll. Versuchen Sie es zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal“ Klick, das war`s.

Hm, komisch“, dachte Bernadette. „Wie kann denn das Band ihres Anrufbeantworters vollgesprochen sein? Normalerweise hört Diana den AB regelmäßig ab, und ruft dann auch sofort zurück. „Sie wird doch nicht krank geworden sein? Also gut, dann versuche ich es eben später noch einmal.“

Ein vertrautes Geräusch drang in ihre Ohren. „Stefans tiefgezogener und rasselnder Atem hörte sich an wie das Grunzen eines größeren Tieres. Als nächstes vernahm Bernadette ein abruptes Stottern und ein Stöhnen. Im Wohnzimmer gähnte und reckte sich Stefan, stand dann auf und trottete in die Küche.

„Guten Morgen, Bernie. Ich habe vielleicht einen dicken Schädel!“

Bernadette schaute ihn böse an. Sie hasste es, wenn sie Bernie genannt wurde und fuhr ihn an: „Kein Wunder, so viel wie du getrunken hast!“

„Ach nun sei doch nicht so! Kann doch mal vorkommen. Wie spät ist es überhaupt?“

Bernadette schaute zur Küchenuhr. „Gleich halb acht.“

„Ach, doch noch so früh? Ehrlich gesagt, mir hat es wesentlich besser gefallen, als wir zwei noch in einem Bett geschlafen habe. Da sind wir niemals vor halb zehn aus den Federn gekommen.“

„Ja, lange ist es her. Da waren wir auch noch frisch verliebt.“

Stefans Miene wurde ernst. Kommentarlos ging er ins Badezimmer. Bernadette schüttelte den Kopf und drückte abermals den Startknopf der Espressomaschine. Sie griff nach einer weiteren Kaffeetasse, da klingelte das Telefon. Was für eine Gedankenübertragung“, dachte sie, ließ die Kaffeetasse stehen und schnappte sich stattdessen das kleine Telefon.

„Bist du das Schwesterherz?“

Sie war es nicht.

„Spreche ich mit Bernadette Meyfarth?“ fragte eine weibliche Stimme, die sie nicht kannte.

„Ja, wieso?“, antwortete Bernadette.

„Einen Moment bitte, ich verbinde.“

Hoffentlich ist das nicht schon wieder einer dieser Telefonfuzzies, die mir irgendeinen neuen Tarif andrehen wollen?“, dachte Bernadette.

Am anderen Ende der Leitung wurde wieder gesprochen. „Hier spricht Kommissar Gereon aus Köln. Sind Sie die Schwester von Diana Meyfahrt?“

Bernadette zuckte zusammen. Automatisch ließ sie sich auf den Küchenstuhl fallen.

„Ja, die bin ich“, antwortete sie vorsichtig. „Um was geht es denn? Ist etwas mit Diana nicht in Ordnung?“

„Nun, das wissen wir noch nicht genau, aber wir machen uns Sorgen um sie. Wir glauben, ihre Schwester hatte möglicherweise einen Unfall.“

Bernadette erstarrte. „Wie bitte, einen Unfall? Wollen Sie mir bitte sagen, was genau passiert ist!“ Woher haben Sie überhaupt meine Telefonnummer?“

„Das sind aber gleich zwei Fragen auf einmal, junge Dame. Aber ich will sie gerne beantworten. Ihre Telefonnummer hat mir ein Kollegen aus Daun gegeben. Ich habe ihn angerufen, weil wir eine Verbindung zwischen Ihnen und einer eigenartigen Geschichte herstellen konnten.“

„Was denn für eine eigenartige Geschichte?“ fragte Bernadette und spürte, wie sie immer nervöser wurde.

„Einen Moment Geduld bitte, Frau Meyfarth, ich bin ja dabei Ihnen alles zu erzählen, aber immer schön der Reihe nach. Also zunächst ist bei uns die Medlung eingegangen, dass ein Kanu herrenlos und kopfüber auf dem Fühlinger Sees treiben würde. Das allein wäre sicher noch kein Grund zur Beunruhigung oder für irgendwelche Aktivitäten meinerseits, aber dazu kommt, dass wir bei der genaueren Durchsuchung des Geländes ein Kleidungsstück und eine Handtasche mit Papieren gefunden haben. Darunter befindet sich ein Personalausweis, ausgestellt auf den Namen Diana Meyfarth, was mich nun zu ihrer Schwester, beziehungsweise auch zu Ihnen bringt. Ihre Schwester heißt doch Diana Meyfarth, nicht wahr?“

„J…ja das schon, aber…ich verstehe nicht ganz. Wo sagten Sie, haben sie die Sachen gefunden?“

„Das habe ich noch gar nicht erzählt. Sie lagen an einem Baumstumpf, ganz in der Nähe des Seeufers.“

„Und meine Schwester?“ fragte Bernadette. Ihr Gesicht war leichenblass geworden.

„Wir suchen nach ihr!“

Hoffnung keimte in ihr auf. „Gott sei Dank. Das bedeutet, dass sie noch lebt.“

„Das wissen wir leider nicht genau. In der Nacht herrschte ein starker Wind.“

Bernadette fühlte wie ihr Herz einen Sprung tat. Ganz langsam löste sich ihre Schockstarre. „Und um wie viel Uhr soll das gewesen sein?“

„So gegen 22 Uhr.“

„Ach was, Herr Kommissar. Das gibt es doch gar nicht. Meine Schwester rudert doch nicht so einfach auf den Fühlinger See hinaus, und dann noch zu so später Stunde. Sind Sie sich wirklich sicher, dass die Sachen meiner Schwester gehören?“

„Der Ausweis in jedem Fall. Er ist auf eine Diana Meyfahrt ausgestellt, geboren in Daun/Eifel und da kommen wohl nicht allzu viele Personen in Frage, oder?“

„Wahrscheinlich nicht.“

„Sagen Sie, wäre es möglich, dass ihre Schwester in ernsthaften Schwierigkeiten war?“

Bernadettes linke Hand umfasste die kleine Espressotasse. Ihre Hand zitterte.

„Wollen Sie damit sagen, dass Sie glauben, meine Schwester hätte...? Das ist doch völlig absurd.“

„Frau Meyfarth, Sie halten es also nicht für wahrscheinlich, dass sich ihre Schwester etwas angetan haben könnte?“

„Diana? Ach du liebe Güte. Nein, niemals. Das ist völlig ausgeschlossen! So etwas würde sie niemals tun. Dafür liebt sie das Leben viel zu sehr.“ Bernadettes Stimme klang jetzt wütend und aufgeregt zu gleich.

„Kann ich sonst noch etwas für Sie tun, Herr Kommissar?“

„Im Moment nicht, vielen Dank Frau Meyfahrt.“ Er wollte sich gerade verabschieden, als ihm doch noch etwas einfiel.

„Einen Moment noch. Dürfte ich wohl wissen, wann Sie das letzte Mal mit ihrer Schwester Kontakt hatten?“

Bernadette musste nicht lange überlegte. „Das war etwa vor einem Monat“, antwortete sie rasch. „Aber gerade vorhin wollte ich sie anrufen, doch da war nur ihr AB dran und das Band war voll.“

„Hm…und Sie können sich auch nicht vorstellen, wo sie sich aufhalten könnte?“

„Leider nein.“

„Ok, wir werden an der Sache dran bleiben und Sie auf dem Laufenden halten.“

„Ich bitte da drum“, erwiderte Bernadette und legte auf. Danach blieb sie eine Zeitlang regungslos an ihrem Küchentisch sitzen. Erst langsam wurde ihr klar, was der Kommissar ihr da erzählt hatte.

 

Sie war so sehr mit ihren Gedanken beschäftigt, dass sie gar nicht bemerkte, wie Stefan, frisch geduscht und vollständig angezogen, in die Küche kam.

„Mein Gott, was ist denn mit dir passiert?“, fragte er. Als sie nicht direkt antwortete fragte er weiter. „Ist dir nicht gut Liebes? Du bist ja ganz blass im Gesicht.“

„D…Diana“, stotterte sie. Die Polizei hat angerufen. Sie ist verschwunden. Möglicherweise ist ihr etwas passiert.“

„Hä? Ich verstehe nur Bahnhof. Da geht man kurz unter die Dusche und bei der Rückkehr findet man dich wie ein Häufchen Elend vor. Kannst du mich bitte aufklären?“

Und Bernadette erzählte ihm, was der Kommissar am Telefon gesagt hatte. „Wie hieß der denn noch gleich? Gregor oder Georg?“ Verdammt, sie hatte vergessen sich den Namen zu merken. „Gereon!“ Das war es. Stefan konnte nicht glauben, was er zu hören bekam.„Was sagst du da? Diana soll mit einem Kanu hinaus auf den Fühlinger See gefahren sein, und das bei Nacht? Ich habe noch nie davon gehört, dass sie rudern geht.“

„Ich auch nicht!“ Bernadette zuckte mit den Achseln.

„Das ist es ja, was ich nicht verstehe. Diana macht sich überhaupt nichts aus Wassersport. Sie liebt Volleyball und Tennis, aber Kanufahren? Nie und nimmer. Aber anscheinend hat die Kölner Polizei ihre Papiere gefunden. Das hat mir jedenfalls dieser Kommissar erzählt.“

„Hm…was für eine seltsame Geschichte, aber vielleicht gibt es dafür eine plausible Erklärung.“ Stefan nippte an seinem Espresso, der schon fast kalt war.

„So, glaubst du? Aber da ist noch etwas. Noch vor dem Anruf des Kommissars habe ich versucht Diana telefonisch zu erreichen. Ihr AB lief, aber das Ding war voll. Ich konnte nicht einmal eine Nachricht hinterlassen.“

Stefan sah seine Lebensgefährtin ungläubig an. Er wusste, dass Bernadette für gewisse Dinge einen siebten Sinn besaß. Deshalb zweifelte er auch nicht an ihren Worten.

„Es gibt nur eine Möglichkeit herauszufinden, was dahinter steckt“, sagte er schließlich und legte ihr eine Hand auf die Schulter. „Nimm dir ein paar Tage frei und fahr nach Köln. Sicher gibt es für alles eine Erklärung. In der Zwischenzeit halte ich hier die Stellung. Das ist kein Problem. Ich muss sowieso noch an dem Artikel für dieses Heimatblatt arbeiten. Du weißt schon, der Weinpanscherskandal, der gestohlene Trecker von Bauer Aumann, die goldene Hochzeit von Irene und Wolfgang und ganz, ganz wichtig, die zunehmenden Beschwerden über zu lautes Rasenmähen an den Wochenenden.“ Er grinste und versuchte sie ein wenig aufzuheitern.

„Danke, das ist lieb von dir, Stefan.“ Bernadette formte ihre Lippen zu einem Kussmund. „Wenn du willst, kannst du so nett sein!“

Im Grunde genommen, war sie froh darüber, dass er so schnell für sie entschieden hatte. Diana war nun einmal die einzige Familienangehörige, die sie noch hatte. Sie würde nach ihr suchen, koste es, was es wolle.

Kapitel 5

Am nächsten Tag fuhr Bernadette nach Köln. Es dauerte beinahe eine Ewigkeit, bis sie das Zentrum der Stadt erreichte. Unzählige Baustellen auf der Autobahn machten ein zügiges Vorankommen unmöglich. Überall wurde vergrößert, erweitert und ausgebaut, was das Zeug hielt. Erst nach dem Autobahnkreuz Köln-Ost lief der Verkehr ein wenig flüssiger. Sie bog in die Kanalstraße ein und sah den Dom vor sich.

Köln hat wirklich ein ganz eigenes Flair“, dachte sie. Plötzlich fiel ihr ein, dass sie bei all der Aufregung um ihre Schwester ganz vergessen hatte, für sich ein Hotelzimmer zu reservieren und in Deutz war gerade Möbelmesse.

Na dann Mahlzeit, Bernadette. Das hast du ja wieder prima hinbekommen“, rügte sie sich selbst. „Die großen Hotels kann ich getrost vergessen, aber wo bekomme ich jetzt ein freies Zimmer her, verdammt noch mal?“

Sie fuhr langsam weiter und überlegte rechts ran zu fahren und mit ihrem Smartphone auf Airbnb ein Zimmer zu suchen, aber hinter ihr hupte bereits jemand, weil sie nicht schneller fuhr. „So viel zu den freundlichen Kölnern.“

Vor dem Hauptbahnhof sah sie einen Taxistand. „Das ist es. Die Taxifahrer müssten doch eigentlich wissen, wo in der Stadt noch eine Unterkunft zu bekommen ist!“

Sie hielt auf dem Taxistreifen, ließ das Seitenfenster herunter und rief dem erst besten Fahrer etwas zu.

„Hier kannst du aber nicht stehen bleiben, Liebchen“, bekam sie als Antwort. Bernadette spürte, wie sie rot wurde. „Nur ganz kurz bitte! Ich bin auf der Suche nach einem freien Hotelzimmer.“

Der Mann sah sie an. Seine Augen signalisierten Mitleid. „Auweia, das sieht aber gar nicht gut für dich aus. Im Moment findet in Deutz die Möbelmesse statt. Da geht hier im Zentrum überhaupt nichts. Aber warte mal, nicht verzagen, Jupp fragen! Ich ruf `nen Kollege an. Der ist in Nippes unterwegs. Vielleicht hat der eine Idee.“

Aber in Nippes war auch nichts zu bekommen, doch zehn Minuten später hatte jemand für sie ein freies Zimmer im Stadtteil Dünnwald gefunden. Hastig notierte sie sich die Adresse und bedankte sich bei dem Taxifahrer für dessen Hilfe.

Die Kölner haben ihr Herz also doch am rechten Fleck“, dachte Bernadette, gab die Adresse in ihr Navi ein, setzte den Blinker und kurvte mit ihrem Wagen einmal rund um den Dom herum. Danach leitete sie das Navi Stadtauswärts Richtung Mühlheim und Dünnwald.

Das Hotel mit dem freien Zimmer hieß Petit-Colonia und lag in der Nähe des Stadtwaldes. Es war ein unscheinbares Gebäude aus den 50er Jahren, welches seine besten Zeiten schon lange hinter sich hatte. Bernadette parkte ihren Stadtflitzer auf dem Seitenstreifen, stieg aus und ging nach hinten um die Heckklappe zu öffnen und ihr Gepäck herauszuholen. Doch ein älterer Herr kam ihr entgegen. Er trug eine Baskenmütze.

„Kann ich Ihnen irgendwie behilflich sein?“ fragte er mit freundlicher Stimme.

„Oh ja bitte, das wäre sehr freundlich von Ihnen, vielen Dank. Gehören Sie zum Hotel?“

„Genau so ist es, mein Fräulein. Wenn Sie gestatten, ich bin der Willi. Mir gehört dieses Traumschloss.“

Er schnappte sich ihren Koffer und trug ihn ins Hotel. Bernadette folgte ihm, nur bewaffnet mit ihrer Handtasche. Darin befanden sich ihre Schminksachen, ihr Handy, und vorsichtshalber eine Sprühdose mit Pfefferspray zur Selbstverteidigung. Das erste, was ihr beim Betreten des Hotels auffiel, war eine alte Standuhr. Sie stand im Flur und war nicht zu übersehen. Bernadette blieb davor stehen und bewunderte die Rarität.

„Die habe ich von meinem Großvater geerbt“, erklärte Willi nicht ganz ohne Stolz. Die Rezeption befand sich im Hochparterre. Willi stellte den Koffer ab und zwängte seinen fülligen Leib hinter einen abgenutzten Empfangstisch.

„Ich hoffe, Sie haben noch ein freies Zimmer für mich,“ sagte Bernadette ein wenig besorgt.

„Äwer secher dat! Junge Damen sind bei mir stets herzlich willkommen.“ Er lachte und fügte schnell hinzu: „Nein, aber im Ernst, heutzutage bin ich nur noch sehr selten ausgebucht. Die großen Hotels in der Innenstadt machen mir sehr zu schaffen. Na Sie wissen schon …“

Natürlich wusste Bernadette was er meinte. Und mehr noch, als sie das Zimmer sah. Es war winzig und voll gestellt mit alten Möbeln. Wahrscheinlich stammten sie noch aus der Jugendzeit des Besitzers. Das Doppelbett war ohne Kopfteil. Der Schrank: Zweitürig, schräg, schäbig. Die Kommode mit Spiegelaufsatz: wackelig, eine Schublade fehlte. Des weiteren gab es: Zwei kleine Nachttische, einen rechteckigen Tisch, sowie zwei Stühle. Alles abgenutzt, wackelnd und aus dem gleichen hässlichen Nussbaumimitat gefertigt. Das ganze erbärmliche Bild des Raumes rundete eine Blümchentapete aus den 70er Jahren ab. Sie bestand im Wesentlichen aus den Farben Grün und Braun. Mit einem Seufzer ließ sich Bernadette auf das Bett fallen. „Na wenigstens scheint die Matratze in Ordnung zu sein und die Bettwäsche ist sauber“, dachte sie.

„Passt Ihnen das Zimmer?“, fragte Willi ein wenig besorgt.

Bernadette zuckte zusammen. Sie hatte gar nicht bemerkt, dass Willi zurückgekommen war. In der rechten Hand trug er ihren Koffer.

„J..ja, dd…doch“, stammelte sie.

„Prima. Dann müssen Sie nur noch das Meldeformular ausfüllen. Ordnung muss schließlich sein.“

Wieder lachte er und stellte den Koffer mit einer Kraft auf den Boden, die sie ihm niemals zugetraut hätte. Dann schien ihm noch etwas einzufallen. „Wie lange wollen Sie eigentlich bleiben?“, fragte er.

Wenn ich das wüsste?“, dachte Bernadette, sagte aber: „Vielleicht eine Woche.“

Sie wusste, dass spätestens dann die Möbelmesse in Deutz zu Ende war und sie mit Leichtigkeit ein anderes Hotelzimmer finden würde. Das heißt, für den Fall, dass sie bis dahin immer noch nichts von Diana gehört hatte.

Apropos...es kann ja nicht schaden, wenn ich ihm ein Foto von ihr zeige. Immerhin lebt Willi seit ewigen Zeiten hier in Köln und die Welt kann manchmal so verdammt klein sein.“ Sie griff in ihre Handtasche, zog ein Foto heraus, auf welchem sie zusammen mit ihrer Schwester zu sehen war, hielt es ihm hin und deutete auf die junge Dame an ihrer Seite.

„Das ist meine Schwester Diana. Ich bin auf der Suche nach ihr. Sie kennen sie nicht zufällig?“

Willi griff nach dem Foto und warf einen Blick darauf. „Schönes Mädchen“, sagte er anerkennend. „Ein bisschen jünger als sie, was?“

„Acht Jahre.“

„Und sie soll hier in Köln sein?“

„Ja, sie studiert an der Uni. Kommt sie Ihnen vielleicht bekannt vor?“

Willi schüttelte den Kopf. „Ich wünschte es wäre so, aber leider nein. Ich kenne sie nicht. Aber das will überhaupt nichts heißen, wo Köln doch so verdammt groß ist. Worum suchen Sie eigentlich nach ihr?“

Bernadette hatte keine Lust ihm die Einzelheiten zu erzählen. „Sagen wir einfach, weil ich seit längerer Zeit nichts von ihr gehört habe“, antwortete sie postwendend.

„Ach so, jetzt versteh ich. Unstimmigkeiten unter Geschwistern sollen ja häufiger vorkomme als man denkt. Übrigens gehen die meiste Studenten zum Abfeiern in die Altstadt. Vielleicht sollten Sie dort einmal nachfragen.“

„Prima Idee, das werde ich tun. Vielen Dank für den Tipp. Soll ich Ihnen die Woche im Voraus bezahlen oder lieber jeden Tag einzeln?“

„Das können Sie halten wie Sie wollen junge Dame, Hauptsache ich bekomme mein Geld. Das Zimmer kostet 20 Euro die Nacht.“ Er wandte sich zum gehen, blieb aber auf der Türschwelle noch einmal stehen und sah sie an.

„Also dann genießen Sie ihren Aufenthalt im schönen Kölle“, sagte er bevor er hinaus auf den Flur trat. Drinnen sah sich Bernadette das Zimmer genauer an. „Na ja, mehr als 20 Euro die Nacht ist diese Kammer auch wirklich nicht wert!“

Die Einrichtung war ihr so ziemlich egal. Hauptsache, es gab ein sauberes Bett und ein eigenes Bad. Sie bugsierte ihren Koffer vor das Bett und fing an auszupacken. Die Türen des alten Kleiderschranks waren verzogen und ließen sich nur schwer öffnen. Drinnen roch es muffig nach altem Holz. Sie überlegte, so viele Kleidungsstücke wie möglich auf die wenigen Bügel zu verteilen, die in dem alten Schrank hingen, verwarf den Gedanken aber schnell und legte stattdessen das, was sie benötigte, auf die Matratze neben sich. „Was zum Teufel tue ich eigentlich hier?“ fragte sie sich, während sie einen Blick in den Spiegel oberhalb der kleinen Kommode warf und feststellte, dass sie abgespannt aussah. Schnell ging sie ins Bad. Das Waschbecken war winzig, die Wände mit hellgrünen Kacheln gefliest. Sie drehte den Wasserhahn auf und wusch sich die Hände. Danach überprüfte sie ihr Make-up, ging zurück in ihr Zimmer und schob ihren Koffer unter den Holztisch, weil er ihr woanders im Weg war. Danach stellte sie die beiden Stühle davor, schnappte sich Jacke und Handtasche und ging hinaus.

Willi war gerade dabei ihre Anmeldung in einen Ordner zu heften. Er grüßte sie freundlich, sie erwiderte seinen Gruß, ging nach unten, stieg in ihren roten Flitzer und fuhr los.

Keine dreiviertel Stunde später stand sie vor einem alten Stadthaus im Kölner Ortsteil Lindenthal, welches den Studenten als Wohnheim diente. Während sie das Gebäude in Augenschein nahm und plötzlich spürte, wie sich ein Anfall von Nervosität in ihr breit machen wollte, trat ein Mann in einem blauen Overall aus dem Schatten des Eingangs, griff nach zwei Mülltonen, die seitlich davon aufgestellt waren und schob sie an die Straße.

 

Der Hausmeister!“ kam es ihr in den Sinn. Sie holte tief Luft und ging auf ihn zu, noch bevor er wieder in dem Hauseingang verschwinden konnte.

„Hallo, hören Sie. Kann ich Sie bitte einen Moment sprechen?“

Der Mann drehte sich um und sah sie verdutzt an.

„Was gibt es denn, junge Dame. Ich habe meine Zeit nicht gestohlen!“

Noch so ein freundlicher Kölner“, dachte Bernadette und spürte plötzlich den berühmten Kloß in ihrem Hals sitzen. So nah war sie ihrer Schwester schon lange nicht mehr gewesen.

„Bitte entschuldigen Sie. Sie sind doch hier der Hausmeister, nicht wahr? Ich bin auf der Suche nach meiner Schwester Diana. Sie soll hier wohnen. Wenn Sie so freundlich wären und sich einmal dieses Foto hier anschauen würden. Ich bin mir sicher, sie kommt Ihnen bekannt vor.“

Die fleischige Hand des Hausmeisters griff nach dem Foto. Er betrachtete es eine Weile, dann schüttelte er mit dem Kopf. „Ich kann nicht behaupten, dass ich sie kenne“, sagte er bestimmt. Bernadette rutschte das Herz in die Hose.

„Sind Sie sich da ganz sicher?“, fragte sie ungläubig. „Sie ist Studentin hier an der Uni! Sie müssen sie doch schon einmal gesehen haben.“

„Die Uni liegt am Albertus-Magnus-Platz. Das ist noch ein gutes Stück von hier entfernt, junge Dame. Und wenn ich Ihnen sage, dass ich das Mädel auf dem Foto nicht kenne, dann kenne ich es auch nicht! Schließlich gibt es hier hunderte von Studenten und ihre Schwester kann genauso gut auch woanders wohnen.“

Sofort schossen Bernadette Tränen in die Augen.

„Herr Kowalski…“, flötete eine schrille Stimme hinter ihr. Eine stämmige junge Frau hatte den Hausmeister gesichtet und befand sich im Begriff, den armen Mann in Beschlag zu nehmen. Mit einer eindeutigen Geste deutete sie auf ein Apartment zu ihrer Rechten und zog ihn entschlossen mit sich. Bernadette stand allein auf der Straße und fühlte sich einsam und verlassen. Wie in aller Welt sollte sie so Diana finden?

Einige junge Leute zogen lachend an ihr vorbei. Es waren Studenten.

„E…einen Moment bitte.“ Bernadette reagierte beinahe panisch. Wild mit den Armen gestikulierend hielt sie ihnen das Foto ihrer Schwester entgegen.

„Bitte! Nur einen kurzen Moment. Ich suche meine Schwester. Haben Sie sie vielleicht schon mal gesehen?“

Die jungen Leute sahen sich an. Ihre Blicke waren eindeutig. Was wollte diese Verrückte von ihnen? Sie schüttelten ihre Köpfen, lachten und gingen weiter. Ein junger Mann drehte sich nochmals um und rief ihr etwas zu.

„Versuchen Sie es doch bei der Universitätsverwaltung. Dort sind alle Studenten registriert. Wenn ihre Schwester hier studiert, dann muss sie dort eingetragen sein.“

Gute Idee!“ Bernadette ging zurück zu ihrem Wagen, setzte sich hinter das Lenkrad und fuhr noch ein gutes Stück die Universitätsstraße hinunter. Am Ende bog sie rechts ab. Den Uni-Campus am Albertus-Magnus-Platz konnte sie gar nicht verfehlen. Es war der größte Gebäudekomplex weit du breit. Sie parkte ihren Wagen auf dem Parkplatz, löste einen Parkschein für eine halbe Stunde und betrat das Uni-Gelände. Hier begab sie sich auf ein völlig unbekanntes Terrain

Zunächst glaubte sie, der Schilderwald würde sie verwirren, aber sie fand die Universitätsverwaltung auf Anhieb. Sie befand sich im Untergeschoss des Hauptgebäudes. Die Eingangstür eines der Büros stand weit offen. In dem Raum saßen zwei Angestellte und tippten irgendetwas in ihre Computer ein. Bernadette räusperte sich. Eine der Damen blickte zu ihr auf. Bernadette nahm all ihren Mut zusammen.

„Entschuldigen Sie bitte, dass ich hier einfach so hereinspaziert komme. Ich bin auf der Suche nach meiner Schwester und wollte mich nur erkundigen, für welches Semester sie sich eingeschrieben hat.“

Die Angestellte deutete auf die große Uhr, die über der Eingangstür hing. Bernadette, die von draußen hereingekommen war, hatte sie noch nicht gesehen. Die Zeiger standen auf 13 Uhr.

„Normalerweise haben wir nur an den Vormittagen geöffnet“, sagte die Dame und ihre Stimme klang missmutig. „Aber jetzt, wo Sie sich schon einmal hier sind, wie heißt denn ihre Schwester?“

„Diana Meyfarth.“

„Einen Moment bitte. Ich schau gleich nach.“ Sie bearbeitete ihren Computer, zögerte, spielte mit einer Haarsträhne und wandte sich dann wieder an Bernadette.

„Ich sehe hier tatsächlich einen Eintrag. Eine Diana Meyfarth ist bei uns registriert, allerdings ohne jemals an einer Prüfung teilgenommen zu haben. Ein wenig seltsam ist das schon. Möglicherweise hat sie ihr Studium abgebrochen...“

Bernadette war entsetzt. „Aber sie hat mir doch immer…“

„Tut mir leid. Das ist alles, was der Computer hergibt. Mehr kann ich nicht für Sie tun. Falls Sie noch weitere Auskünfte wünschen, müssen Sie zu den öffentlichen Zeiten wiederkommen.“

Sprach es und schenkte wieder ihre ganze Aufmerksamkeit ihrem Computer. Bernadette bedankte sich und verließ den Raum. Sie war ratlos und enttäuscht. Diana hat ihr Studium an den Nagel gehängt. Was zum Teufel soll das nun wieder bedeuten? In einem unserer letzten Telefonate hat sie sich noch über die schweren Klausuren beklagt. Dann macht es auch keinen Sinn, wenn ich weitere Studenten nach ihr befrage. Diana ist nicht mehr an der Uni. Aus und fertig. Damit muss ich mich wohl oder übel abfinden.“

Blieb noch Kommissar Gereon. Nach den mageren Ergebnissen, die Bernadette bisher gesammelt hatte, kam der Begegnung mit ihm eine ganz besondere Bedeutung zu. Außerdem war es an der Zeit, dass die Polizei endlich etwas tat. Diana schien wie vom Erdboden verschwunden zu sein. Handeln war angesagt, bloß wie?! Als die unerschütterliche Bernadette Meyfarth, ja genauso wollte sie auftreten. Warum bloß gelang es ihr nicht diese verdammte Nervosität in den Griff zu bekommen? Mit einem mulmigen Gefühl in der Magengegend stieg sie in ihren Wagen und fuhr in Richtung Innenstadt.

Das Polizeipräsidium in Köln sah anders aus, als wie sie es sich vorgestellt hatte. Sie hatte angenommen, dass der Polizeiapparat in einem historischen Prachtbau untergebracht sein würde. So etwas wie das alte Bankgebäude, mit seinen kunstvoll gemeißelten Pfeilern, die den Platz zweier Ladenfronten auf dem Marktplatz einnahmen, doch dem war nicht so. Die Kriminalhauptstelle befand sich in einem hypermodernen Gebäudekomplex, dessen Mittelbau über einen gläsernen Sockel mit Panoramafenster verfügte. Darüber streckten sich vier Vollgeschosse in die Höhe und mündeten in ein leicht geneigtes und deutlich über die Fassade reichendes Flachdach. Seitlich begrenzt wurde der Bau von der Barcelona-Straße und der Geschwister-Katz- Straße sowie rückwärtig vom Walter-Pauli-Ring. Der mit einer Sicherheitsschleuse versehene Eingang im erhöht liegenden Erdgeschoss war über eine Freitreppe zu erreichen. Auch wenn dieser Komplex den Charme historischer Gebäude vermissen ließ, so war er dennoch ziemlich beeindruckend. Um Schaulustige fernzuhalten und Platz für die Einsatzfahrzeuge zu schaffen, hatte man einen Bereich von gut dreißig Metern in beide Richtungen abgesperrt. Bernadette sah die Einsatzfahrzeuge der Polizei und etwa noch mal so viele Zivilfahrzeuge. Sie parkte den Fiat 500 in der zweiten Reihe und stieg die Treppenstufen zum Eingang des mit Steinplatten verkleideten Gebäudes hinauf. Der Empfang befand sich auf der rechten Seite. In dem gläsernen Kasten saß ein Mann mittleren Alters hinter einem großen Pult und begrüßte sie mit einem freundlichen Lächeln. „Kann ich etwas für Sie tun?“ fragte er. Bernadette versuchte selbstbewusst aufzutreten. Sie lächelte kurz zurück.

„Ich möchte zu Kommissar Gereon“, sagte sie bestimmt.

„Dürfte ich Ihren Namen wissen?“

„Bernadette Meyfarth.“

„Sind Sie angemeldet?“

„Nein, aber der Kommissar weiß, wer ich bin.“

„Prima, dann werde ich schnell nachfragen, ob er da ist. Wenn Sie sich in der Zwischenzeit bitte hier eintragen wollen.“ Er reichte ihr eine Liste auf der bereits mehrere Namen standen. Bernadette fügte den ihren hinzu und beobachtete, wie der Mann telefonierte. Nachdem er aufgelegt hatte, nickte er ihr freundlich zu.