Hetzwerk

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6.

»Feeken«, wiederholte Kramer. Langsam und deutlich. »Mareike Feeken.«

»Also nicht Ficken.« Die dralle Dame am Empfang guckte auf ihren Bildschirm. »Und wo soll die nochmal arbeiten?«

»In der Redaktion«, sagte Kramer geduldig. Zum dritten Mal schon. »Mareike Feeken, Lokalredaktion.«

»Ach so, Redaktion.« Dem Tonfall der drallen, rotgesichtigen Dame nach zu urteilen, musste die Redaktion so ziemlich das Unwichtigste an einer Lokalzeitung sein. Das mochte daran liegen, dass die Haupttätigkeit dieser Mitarbeiterin der Ostfriesen-Post im Eintippen von Kleinanzeigen bestand. Den Empfang machte sie nur nebenbei. Personelle Sparmaßnahmen; immerhin war Feiertag. Die Leser aber erwarteten am nächsten Morgen natürlich trotzdem ein angemessen gefülltes Blatt. Vor allem die, die immer lautstark gegen Feiertagsarbeit wetterten.

»Ach, hier.« Endlich hatte die Frau den Namen auf ihrer Liste gefunden. »Feeken heißt die, nicht Ficken. Mareike.« Sie bearbeitete das Tastenfeld ihres Tischtelefons. »In der Redaktion haben wir ja immer so viel Wechsel, kaum kennt man jemanden, ist er auch schon wieder weg. Welche Lokalredaktion sagten Sie noch? Leer?«

»Leer, genau. Mareike Feeken, Lokalredaktion Leer.« Oberkommissar Kramer blieb immer höflich. Jetzt gerade fiel das sogar ihm auf. Immerhin stand er hier im Zentralgebäude der Ostfriesen-Post, das sich in Logabirum befand, und Logabirum war ein Stadtteil von Leer.

»Jaaa, Beate, hier ist Tomke, Anzeigen. Moin! Alles gut bei dir? Nee? Ach, ist dein Rasen auch so gelb? Meiner auch! Hat ja zwei Wochen schon nicht geregnet, nee, bei mir auch nicht, jo, ist echt verloren!« Die grelle Stimme der drallen Dame schallte durch den weitläufigen und ansonsten menschenleeren Anzeigen- und Empfangsbereich. Kramer bezweifelte, dass sie zur hausinternen Kommunikation überhaupt ein Telefon benötigte. Und dass er noch lange seine Stoikerfassade aufrechterhalten konnte, das bezweifelte er auch.

»Was? Weswegen ich anrufe? Ach so, ja. Hier steht so ein Mann, der will zu Frau Ficken. Von der Redaktion. Ja, hat er gesagt.« Die dralle Dame schaute Kramer aus starren Augen an. »Was? Habt Ihr keine? Mareike, dachte ich.«

Oberkommissar Kramer ertrug den Blick, indem er tief und beherrscht atmete.

»Wie? Ach so. Ja, Moment.« Die dralle Dame mit dem roten Gesicht deckte mit der Hand die Sprechmuschel ab und rief in abermals erhöhter Lautstärke: »Sie heißt nicht Ficken! Sie wollen vermutlich zu Mareike Feeken, oder?«

»Mareike Feeken. Wie ich schon sagte.« Kramers Stimme klang eine Nuance schärfer als zuvor.

»Na, nun regen Sie sich mal nicht gleich auf! Sie wollen schließlich was von mir, oder?« Der knallrot geschminkte Mund der drallen Dame hatte sich vor Empörung gerundet. »Und was kann ich wohl dafür, wenn Sie sich keinen Namen merken können! Wie heißen Sie denn überhaupt?«

Oberkommissar Kramer, der sich natürlich vorgestellt hatte, zückte seinen Dienstausweis und hielt ihn ihr unter die Nase. Die brauchte einen Moment, um die Aufschrift zu entziffern. »Polizei?«, stieß sie dann hervor. Und gleich noch einmal: »Polizei!«

Sie ließ den Telefonhörer sinken. Eine angsterfüllte Stimme war quäkend zu hören, offenbar Beate aus der Redaktion: »Oh Gott, Tomke, was ist los? Wirst du gerade überfallen? Soll ich die Polizei holen?«

Aus dem Hintergrund huschte eine Gestalt heran. Ehe Kramer reagieren konnte, nahm sie der drallen Dame den Hörer aus der Hand und hob ihn ans eigene Gesicht: »Hallo, Beate, Mareike hier. Alles ist gut! Tomke ist nur ein bisschen überfordert vom Multitasking.« Sie legte auf und lächelte Kramer an: »Ich bin Mareike Feeken. Sie wollten zu mir?«

»Kramer, Kripo Leer-Emden, Fachkommissariat eins«, stellte der Oberkommissar sich vor. Er hatte die Journalistin sofort erkannt; es war noch nicht lange her, dass sie als Neuzugang im eigenen Blatt mit Foto vorgestellt worden war. Ihr langes dunkelblondes Haar trug sie heute allerdings nicht offen, sondern zum Pferdeschwanz gebunden. Und sie war größer, als Kramer erwartet hatte. Annähernd so groß wie er.

Außerdem sah sie, anders als auf dem Foto, ziemlich gestresst aus.

»Die Redaktion ist total unterbesetzt«, sagte sie, nachdem sie mit ihrem Besucher die Eingangshalle verlassen und ihn in ein unbesetztes Büro geführt hatte. »Nicht nur an Feiertagen wie heute, das wäre noch normal, dafür wird auch so viel wie möglich vorproduziert. Unsere Personaldecke ist aber generell viel zu dünn. Und es wird immer weiter gekürzt.«

»Wie ich hörte, musste der letzte Chefredakteur gehen, weil er keine weiteren Kürzungen akzeptieren wollte«, warf Kramer ein.

Mareike Feeken lächelte verlegen. »Dazu kann ich gar nichts sagen. Nein, wirklich, davon weiß ich nichts, das war vor meiner Zeit. Ich habe ja quasi zeitgleich mit dem aktuellen Chefredakteur hier angefangen.«

Eine Meinung dazu hat sie bestimmt, dachte Kramer, aber sie traut sich nicht. Gute Vorgesetzte schätzten es, wenn Mitarbeiter ihre eigenen Ansichten entwickelten. Schlechte Chefs kannten nur die ihren. Arme Frau Feeken! In dieser Hinsicht durfte Kramer sich glücklich schätzen.

Aber deswegen war er nicht hier. »Es geht um den Mord an Carsten Fecht«, sagte er.

Die junge Redakteurin nickte. »Steht schon in unserer Online-Ausgabe. Jedenfalls die bisher bekannten Fakten. Können Sie mir denn schon weitere Details erzählen?«

Kramers Pokerface war wieder einsatzbereit. »Sie missverstehen den Grund meines Hierseins. Ich habe Fragen, keine Informationen.«

Mareike Feeken grinste schelmisch. »Weiß ich doch. Aber man kann es mal versuchen, nicht?«

Das konnte Kramer ihr nicht verübeln, trotzdem ging er nicht darauf ein. »Ein Zeuge berichtete uns, Sie hätten neue Chatprotokolle von Carsten Fecht vorliegen«, sagte er. »Sie sollen Informationen enthalten, die weitere Lokalpolitiker und andere Personen in Misskredit bringen könnten. Diese Dateien brauchen wir.«

Mareike Feeken lächelte das erwartungsvolle Lächeln, das Journalisten gerne aufsetzen, um ihre Gesprächspartner zum Weiterreden zu animieren. Lernte man das in der Ausbildung? Es dauerte einen Augenblick, bis ihr klar wurde, dass Kramer schon ausgeredet hatte. Dann verschwand das Lächeln wie weggewischt.

»Sie wollen Dokumente von mir, die ich von einem Informanten erhalten habe?«, vergewisserte sich die Redakteurin. »Aber Sie wissen schon, dass so etwas unter Quellenschutz fällt?«

»Ich ermittle in einem Mordfall«, sagte Kramer ungerührt. »Ein Verbrechen gegen das Leben ist das eindeutig höhere Rechtsgut. Außerdem hatten Sie ohnehin vor, das Material zu veröffentlichen. Darüber habe ich ebenfalls eine Zeugenaussage.«

Die junge Frau schien beeindruckt, aber noch lange nicht willens, klein beizugeben. »Dazu müsste ich zuerst die Einwilligung meines Chefredakteurs einholen«, bezog sie ihre nächste Verteidigungslinie. »Und der hat leider keinen Feiertagsdienst. Ich müsste also zunächst einmal herausfinden, wo ich ihn erreichen kann, und das wird sicher etwas dauern.«

»Bedaure«, erwiderte Kramer. »Verzögerungen würden eine Mordermittlung behindern. Das darf ich leider nicht zulassen.«

Mareike Feeken schüttelte energisch den Kopf. »Ohne eine solche Rückversicherung händige ich Ihnen das Material ganz bestimmt nicht aus«, beharrte sie. »Und schon gar nicht ohne eine richterliche Anordnung!« Ihre triumphierende Miene deutete an, dass ihr diese letzte Rückzugsposition gerade eben noch eingefallen war. Dies war ihr Burgfried, hier würde sie sich behaupten, bis Entsatz kam!

Kramers Lächeln war so dünn, dass nur Eingeweihte es wahrnehmen konnten. Sie kennt mich noch nicht, dachte er, also lasse ich sie auch nicht allzu lange zappeln. Beim nächsten Mal weiß sie dann Bescheid.

Der Oberkommissar zog die richterliche Verfügung aus der Innentasche seines Sakkos und entfaltete sie, sodass Unterschrift und Dienstsiegel gut zu erkennen waren. »Wenn ich dann bitten dürfte?«, fragte er mit untadeliger Höflichkeit.

Eine Sekunde lag saß Mareike Feeken wie erstarrt, das Gesicht ausdruckslos. Dann kehrte das Leben in ihre Miene zurück. Ein schalkhaftes Grinsen ließ winzige Fältchen in ihren Augenwinkel erscheinen. »Und wenn nicht?«, fragte sie. »Wartet für diesen Fall draußen schon das Rollkommando?«

Kramers Pokerface hielt auch diesem Frontalangriff stand. Als stünden draußen tatsächlich zwei vollbesetzte Mannschaftswagen bereit.

»Also gut.« Die Journalistin schlug ihre Handflächen auf die Oberschenkel und sprang auf. »Ich hab’s versucht. Folgen Sie mir bitte.«

Sie eilte voraus, steuerte einen weiß gestrichenen Gang an, von dem offene Türen rechts und links Einblicke in verlassene Redaktionsstuben gestatteten und in dem es intensiv nach staubigem Papier roch, aller Digitalisierung zum Trotz. Sie betrat das letzte Büro links und warf sich in den Drehstuhl vor dem PC. Ohne hinzuschauen, öffnete sie eine flache Schublade und entnahm ihr einen USB-Stick, den sie schwungvoll auf den nahezu leeren Schreibtisch warf. Es schlitterte über die Platte, und Kramer kam gerade noch zurecht, um das winzige Ding aufzufangen.

»Das ist alles?«, fragte er.

Sie starrte ihn herausfordernd an. »Ja, das ist alles. Sämtliches Material, das ich von und über Carsten Fecht bekommen habe, befindet sich auf diesem Stick. Glauben Sie mir.«

Tja, dachte Kramer, glaube ich ihr? Die Ostfriesen-Post hatte sich unter der neuen Leitung stark verändert, vom etwas behäbigen, aber seriösen Chronistenblatt hin zur Boulevardgazette. Statt das tatsächliche Geschehen in der Region abzubilden und zu begleiten, setzte die Redaktion jetzt auf kontroverse Themen, gezielte Provokationen und reißerische Aufmachung. Wohl ein letztes Aufbäumen angesichts sinkender Abonnentenzahlen. Änderten sich damit auch die Wertvorstellungen der Mitarbeiter? Log man jetzt ungehemmt für eine skandalträchtige Schlagzeile? Die Politik machte es allenthalben vor.

 

»Ich glaube Ihnen«, sagte Kramer. »Vielen Dank.« Er steckte den Stick ein, zusammen mit der richterlichen Verfügung. »Sehen Sie, jetzt haben wir die gar nicht gebraucht. Schönen Dienst wünsche ich noch.«

Mareike Feekens herausfordernder Blick geleitete ihn zur Tür hinaus.

7.

»In 200 Metern links abbiegen«, verkündete die Navi-Stimme, »dann haben Sie Ihren Zielort erreicht.«

Tröstlich, dachte Stahnke. Ohne Navigationshilfe hätte er die Adresse, die Christel Röben ihm am Handy genannte hatte, wohl nie gefunden. Im Innenstadtbereich von Aurich kannte er sich zwar einigermaßen aus, nicht jedoch in den eingemeindeten Ortsteilen, und das hier war Aurich-Sandhorst.

Im nächsten Moment stieg der Hauptkommissar fluchend auf die Bremse. Ein schwarzer Audi mit Auricher Nummernschild hatte ihm die Vorfahrt genommen. Na warte! Die Nummer prägte er sich ein, darin war er geübt. Kaum hatte er wieder eingekuppelt, schob sich ein riesiges rotes Feuerwehrfahrzeug aus der Straße, in der sich sein Ziel befinden sollte, und blockierte beim Abbiegen die gesamte Einmündung. Aha, die große Drehleiter. Hatten die Kollegen Blauröcke hier etwa eine Übung gehabt? Und das am 1. Mai?

Er drückte seinen Wagen so eng an den Bordstein, dass die Reifen radierten. Das rote Ungetüm rauschte an ihm vorbei. Ein brenzliger Geruch kitzelte seine Nase.

Stahnke bog ab. Jetzt war es klar. Absperrung, Gaffergrüppchen, zweierlei Uniformen, Dienstfahrzeuge in Rot und Blau-Silber. Ein zweistöckiges, verrußtes Haus mit halb eingestürztem Dach. Eine Brandruine. Nichts mit Übung.

Die Kollegen kannten ihn und ließen ihn anstandslos passieren. Christel Röben erwartete ihn vor einem der geborstenen Fenster. Sie trug einen Regenmantel und deutlich zu jugendlich wirkende Gummistiefel, die in allen Farben des Regenbogens leuchteten. Stahnke musste in Halbschuhen durch die Löschwasserpfützen patschen.

»Morgen sollte der Einzug sein«, sagte die Frau. Sie war mittelgroß und schmal gebaut, die blonden Haare trug sie schulterlang, ihr blasses Gesicht wirkte ungeschminkt. »Zwei große kurdische Familien mit zusammen neun Kindern. Gestern hatten wir schon ein kleines Begrüßungsfest im Vorgarten, genau hier, mit Grill und selbstgemachten Leckereien. Viele Nachbarn sind gekommen.« Christel Röben hob die Schultern: »Jetzt können wir mit der Wohnungssuche von vorn beginnen.«

»Ein Grill?« Stahnkes Blick wanderte an der verputzten Hausfassade hoch, die offenbar schon vor dem Brand schmutzig gewesen war. »Kann der brandursächlich gewesen sein?«

»Sicher nicht«, erwiderte Christel Röben mit abweisender Miene. »Der Grill wurde noch gestern Abend abtransportiert, die Asche mit der restlichen Glut kam in einen verschließbaren Metallbehälter, der ebenfalls mitgenommen wurde. Glauben Sie mir, wir wissen, wie das geht.«

Eine andere Frau gesellte sich zu ihnen, nicht größer als Christel Röben, aber weitaus kräftiger und sportlich durchtrainiert. Ihre dichten braunen Locken hatte sie mit einem Zopfband im Nacken gebändigt. »Annika Brühl, grüß Gott, Herr Kollege!«, strahlte sie Stahnke an. »Oder vielmehr Moin, wie ihr hier sagt, gell? Muss ich mich noch dran gewöhnen.« Sie lachte laut, ebenso unpassend wie ansteckend. »Ab morgen bin ich bei euch in Leer. Passt gut, dass wir uns hier treffen.«

Stahnke runzelte nur kurz die Stirn, dann fiel es ihm wieder ein. »Ach, die neue Hauptkommissarin aus Hessen! Tja, dann mal herzlich willkommen in Ostfriesland. Oder vielmehr Moin, wie wir hier sagen.«

Laut Aktenlage war Annika Brühl 39, also nur drei Jahre jünger als Christel Röben. Rein optisch aber schienen mindestens zehn Jahre zwischen den beiden Frauen zu liegen. Lag es am strahlenden Lächeln und den blitzenden dunkelbraunen Augen? Christel Röben hatte momentan gerade gar nichts zu lachen, war um die Aufgabe, schnellstens ein anderes geeignetes Wohnhaus zu beschaffen, nicht zu beneiden. Wohl deshalb wirkten ihre grauen Augen so stumpf.

Annika Brühl strahlte schon wieder. »Vielen Dank, aber in Ostfriesland bin ich schon seit einem Monat! Witzige Geschichte. Meine neue Stelle in Leer wird offiziell erst heute frei, während mein Nachfolger in Wiesbaden schon Ende Februar angerückt ist. Und Aurich hat einen chronisch hohen Krankenstand. Also hat man mich für einen Monat in der Inspektion am Fischteichweg zwischengelagert. Zur Eingewöhnung.«

Stahnke war baff; so etwas hatte er noch nie gehört. »Warum wurden Sie denn nicht gleich nach Leer versetzt?«, fragte er. »Wir haben auch immer Personalbedarf!«

Annika Brühl zuckte mit den kräftigen Schultern. »Aber nicht so viel wie Aurich, sagt die Statistik. Und die entscheidet.« Ihre Stimme sank zu einem verschwörerischen Flüstern herab: »Passte mir außerdem ganz gut, mich vorher schon mal in der Gegend umtun zu können, dienstlich wie privat. Dann ist man nachher, wenn es richtig losgeht, nicht mehr das heurige Häschen.«

Christel Röben trat von einem Gummistiefel auf den anderen. Die wachsende Ungeduld war ihr anzusehen. »Haben Sie denn jetzt Erkenntnisse bezüglich der Brandursache?«, fragte sie die Hauptkommissarin drängend. »Ihr Kollege fragt schon, ob wir das vielleicht selbst waren, weil wir nicht mit einem Grill umgehen können.«

Stahnke wollte empört widersprechen, kam aber nicht zu Wort. »Haben wir«, antwortete stattdessen Annika Brühl. »Größere Mengen Brandbeschleuniger konnten nachgewiesen werden. Außerdem wurde das hier gefunden.« Sie winkte einen weiß gekleideten Kollegen von der Spurensicherung herbei, der etwas vorzeigte, das an einen unappetitlichen Nachtisch in einem zersplitterten Schälchen erinnerte. »Das war mal eine Haushaltskerze, fixiert in einer gläsernen Schale, die mit einer brennbaren Paste gefüllt war«, erläuterte die Hauptkommissarin. »Diente vermutlich als Zünder. Primitiv, aber wirkungsvoll. So konnte der Brand vergangene Nacht vorbereitet werden, brach aber erst heute Morgen aus.«

»Also Brandstiftung«, fasste Christel Röben zusammen und nickte. Ihr Gesicht wirkte hart und keineswegs überrascht.

Stahnke hatte diesen Schluss längst selbst gezogen. Seine Gedanken kreisten gerade um etwas anderes. Hauptkommissarin, dachte er, noch keine 40, die kann etwas und will noch mehr. Schaue ich hier in das Gesicht meiner Nachfolgerin?

Ein hübsches Gesicht noch dazu. Und kräftige Hände mit langen Fingern, um die sie bestimmt ihre sämtlichen männlichen Vorgesetzten wickeln konnte, angefangen beim Inspektionsleiter. Oder womöglich bei ihm?

»Haben Sie einen Verdacht, Frau Röben?«, fragte Annika Brühl. Erneut an Stahnkes Stelle. Er musste wirklich aufmerksamer sein.

»Na ja, wen wohl? Die üblichen Ausländerfeinde eben.« Christel Röben schnaubte abfällig. »Aber eine nennenswert schlagkräftige NPD gibt es hierzulande nicht, und die AfD hat mehr mit sich selbst zu tun, zerstritten, wie die ist. Konkret wüsste ich also nicht, wen ich da nennen sollte.« Sie hielt kurz inne, rieb sich mit beiden Händen über die blassen Wangen. »Es kann natürlich auch etwas ganz anderes dahinterstecken.«

»Nämlich?«, fragte Stahnke. Überflüssigerweise, aber immerhin als Erster.

»Spekulanten«, sagte die blasse Frau und schaute den Hauptkommissar an, als sei damit alles gesagt.

War es nicht. »Um mit Immobilien spekulieren zu können, muss man doch deren Besitzer sein«, erwiderte er. »Und sind das nicht – Sie? Beziehungsweise Ihre Organisation?«

»Stiftung«, korrigierte Christel Röben. »Ich vertrete die Stiftung Integer pro Integration, deren Geschäftsführerin ich bin, wie Sie sicher wissen. Und nein, die Stiftung besitzt dieses Haus nicht, sie hat es angemietet. Langfristig. Mit dem Ziel, Migrantenfamilien mit Bleiberecht aus der Isolation der Flüchtlingsunterkünfte und aus überteuerten Wohnungen in prekären Gebieten herauszuholen und ihnen zu helfen, in Wohnlagen mit mehrheitlich deutscher Einwohnerschaft umzusiedeln.«

»Löblich«, sagte Stahnke. »Aber wo wäre die Spekulation?«

»Wie Sie sehen, ist dies ein Zweifamilienhaus«, erklärte Christel Röben. »Der Trend geht jedoch zur Nachverdichtung bestehender Wohngebiete. Viele Menschen leben in Ein- oder Zweipersonenhaushalten, die wollen keine großen Häuser am Stadtrand mit ausgedehnten Gärten, die wollen pflegeleichte Kompaktwohnungen in verkehrsgünstiger Lage. Auf einem Grundstück wie diesem kann locker ein Acht-Parteien-Wohnblock stehen, ohne gegen bestehende Bauvorschriften zu verstoßen. Ich schätze, genau das hat der Besitzer vor.«

»Beschuldigen Sie den Eigentümer damit der Brandstiftung?«, fragte Annika Brühl. »Auf welcher Grundlage?«

»Ich wurde nach einem Verdacht gefragt, dies ist meine Antwort«, erwiderte die blasse Frau spitz. »Beweise sind Ihre Sache, oder nicht?«

Annika Brühl ging nicht darauf ein. »Sagen Sie, als Sie und Ihre Stiftung planten, die Migrantenfamilien genau hier anzusiedeln, haben Sie eigentlich vorher die Nachbarn befragt, was die davon halten?«

»Ich verstehe nicht.« Genauso guckte Christel Röben auch. »Das Objekt war zur Vermietung angeboten, und wir haben gemietet. Man kennt unsere Stiftung, also war klar, wer hier einziehen würde. Und dann haben wir ja gestern das Kennenlernfest mit den Nachbarn gefeiert.« Sie zögerte kurz. »Zugegeben, nicht alle Nachbarn sind gekommen.«

Annika Brühl nickte nur, schickte Stahnke jedoch einen vielsagenden Blick. Ging sie davon aus, dass einige der Nachbarn nicht einverstanden mit dem geplanten Zuzug waren und dafür gesorgt hatten, dass Frau Röbens Stiftung sie kennenlernte? Natürlich im übertragenen Sinn? Nun, dachte der Hauptkommissar, Tätervermutungen durfte man anstellen. Solange man trotzdem in alle Richtungen ermittelte.

Eine weitere Kollegin von der Spurensicherung trat hinzu, ebenfalls in einen weißen Overall gehüllt, und blickte von Stahnke zu Annika Brühl und zurück, offenbar unsicher, an wen sie ihre Frage loswerden konnte. Stahnke half ihr mit einem leichten Neigen des Kopfes. »Ich bin aus einem ganz anderen Grund hier«, sagte er und wandte sich ganz Christel Röben zu: »Ich müsste wegen gestern Abend mit Ihnen sprechen.«

Die beiden gingen ein paar Schritte zur Seite. »Ich nehme an, damit meinen Sie nicht schon wieder unser Grillfest und den angeblich leichtfertigen Umgang mit glühender Holzkohle«, sagte sie. »Ich war heute früh bereits online und weiß von Carsten Fecht, falls Sie das meinen.«

Stahnke nickte. Natürlich, heute war Feiertag, es gab keine Tageszeitung; da holte sich jeder seine aktuellen Informationen auf anderen Kanälen. Daran konnte man sich gewöhnen. Hatten Zeitungen unter diesen Umständen überhaupt noch eine Zukunft? Klar, auch sie bedienten die neuen Infokanäle – allerdings gegen Geld. Andere taten das kostenlos.

»Wir ermitteln in alle Richtungen«, erklärte er. »Zu denjenigen, die von Carsten Fecht verbal heftig attackiert worden sind, gehören auch Sie als Schriftführerin des SPD-Stadtverbandes Aurich.« Der Hauptkommissar rieb sich das unrasierte Kinn; es raschelte. »Wie sind Sie beide einander eigentlich in die Quere gekommen? Fecht ist Leeraner und hat seine Karriere dort gestartet. Sie, Frau Röben, waren stets auf lokaler Ebene in Aurich politisch aktiv. Wo waren da die Reibungspunkte?«

Christel Röben schaute zu Boden. »Ich stamme aus Leer«, sagte sie. »Da bin ich schon sehr früh mit Carsten zusammengerasselt. Das hat gereicht.«

»Was genau ist denn passiert?«, fragte Stahnke.

Christel Röben seufzte tief. »Ich war damals Juso-Vorsitzende in Leer. Die Jusos, das war so wie das Kinderplanschbecken im Schwimmbad, da durfte man auch mal etwas linken Schaum schlagen. Nahm ja keiner ernst. Aber man wurde beobachtet, ob man für eine Parteikarriere in Betracht kam, und wenn ja, für welche. Höhere Weihen oder Fußvolk. Nach oben ging es nur über den rechten Flügel. Wer sich nicht rechtzeitig die linken Hörner abgestoßen hatte, war gerade gut genug für Infotische. Rote Plastiknelken verteilen. Oder zum Plakatekleben. Mehr nicht.«

»Also waren Sie Ihrer Partei für eine Politkarriere nicht rechts genug? Ich meine, für eine Karriere über die Ortsebene hinaus?«

»Einmal das. Und ich bin eine Frau. Rote Fotze, Sie verstehen?«

»Was?« Stahnke zuckte zusammen. Das kam unerwartet.

Christel Röben lächelte bitter. »Das habe ich mir nicht etwa von Neonazis anhören müssen, falls Sie das vielleicht glauben. Die reden sicher auch so, aber das bekam man damals noch nicht mit, in den Zeiten vor Internet und Facebook. Heute glauben sogar deutsche Richter, dass man sich als Politikerin so was anhören muss.«

 

»Einige deutsche Richter«, korrigierte Stahnke.

»Schlimm genug.« Die blasse Frau schaute auf ihre Armbanduhr. »Sie wollten mir Fragen stellen. Ich möchte nämlich noch zur Kundgebung.«

»Das mit der roten, äh … also die Beleidigung, die Sie zitiert haben: Stammt die aus den gehackten Chats von Carsten Fecht?«

Christel Röben nickte. »So hat er mich aber auch schon Auge in Auge beleidigt. Anfangs natürlich nicht, damals hat er sogar für mich geschwärmt. Er ist mit 16 eingetreten, ich war 20 und im Juso-Vorstand. War mir schon fast peinlich, wie der an meinen Lippen gehangen und alles nachgeplappert hat! Aber dann ist er ins andere Fahrwasser geraten.«

»Ins rechte?«

»Na klar. Er hat schneller als ich gemerkt, wo es nach oben geht. Viel schneller!« Christel Röben blieb stehen und wandte sich Stahnke zu, schaute ihm direkt in die Augen: »Sie sind doch Leeraner, oder? Erinnern Sie sich noch, wie seinerzeit der Bundestagswahlkreis erstmals an die CDU ging?«

»Damals habe ich in Oldenburg gewohnt«, erwiderte der Hauptkommissar. »Hab’s aus dem Regionalfernsehen erfahren. Worauf wollen Sie hinaus?«

»Es gab eine Podiumsdiskussion mit allen Kandidatinnen und Kandidaten im Ostfriesenhof. Für die CDU trat erstmals eine Frau an. Als die ihr Statement abgab, standen die SPD-Granden hinten an der Bar und haben gemeinsam gegrölt: ›Du hast die Haare schön, du hast die Haare schön‹. Verstehen Sie?«

»Die Geringschätzung?« Stahnke nickte. »Allerdings. Wurde auch prompt bestraft. Es gab eine krachende Niederlage für die SPD.«

»Davon hat sich die Partei hierzulande nie wieder erholt«, sagte Christel Röben. »Aber glauben Sie, irgendwer in den oberen Rängen hätte daraus Schlüsse gezogen? Kein Stück! Immer weiter so, das ist alles, was die können!«

»Und Carsten Fecht?«, hakte Stahnke nach.

»Der stand damals mit an der Bar! Und hat mitgegrölt, dieser Milchbubi. Hatte bestimmt die Hosen voll dabei.« Christel Röben schnaubte verächtlich: »Aber die Parteifürsten haben ihm auf die Schultern geklopft dafür. Das hat er sich gemerkt.«

»Seitdem sind Sie beide spinnefeind gewesen?«

»Mal mehr, mal weniger.« Die blasse Frau schaute auf ihre bunten Gummistiefel. »In letzter Zeit hat er mich wieder öfter aufs Korn genommen. Ohne konkreten Anlass eigentlich. Vermutlich bloß, weil ich als Frau ein Parteiamt bekleide.«

»Ich dachte, seit August Bebel sei die Gleichstellung der Frau für alle Sozialdemokraten selbstverständlich«, warf Stahnke ein.

Christel Röben lachte hell auf. »Ach, haben Sie gedacht! Von wegen. Man möchte glauben, dass Denkstrukturen doch vererbt werden. Viele Kerle in unserer Partei stecken von ihren Ansichten her jedenfalls noch tief im Mittelalter.«

»Würden Sie sagen, dass Sie Carsten Fecht gehasst haben?«, fragte der Hauptkommissar.

»Gehasst?« Sie hob ihren Blick. »Ach nein. Verachtet schon eher.«

»Und gestern Abend? Können Sie mir sagen, wann Sie wo waren?«

»Aha, jetzt kommt die Katze aus dem Sack!« Die Frau grinste schelmisch. Auf einmal wirkte sie zehn Jahre jünger. »Die Grillparty mit den Nachbarn, Sie erinnern sich? Die ging um 18 Uhr los, vorher haben wir bestimmt eine Stunde lang aufgebaut. Dieser große Grill ist verdammt schwer, ich hab’ mich dabei ein bisschen verhoben.« Sie machte rollende Bewegungen mit ihren schmalen Schultern. »Die Fete hat sich dann ziemlich hingezogen. Die meisten sind zwar gegen 21 Uhr gegangen, aber einige haben noch bis 23.30 Uhr zusammengesessen und diskutiert. Erst danach konnten wir abbauen.« Sie hob ihren schlanken Zeigefinger: »Und natürlich die restliche Glut ordnungsgemäß entsorgen! Viel war es eh nicht mehr.«

Von 18 Uhr bis Mitternacht, dachte Stahnke, das ist mehr als genug. »Und wer war außer Ihnen dabei?«

»Drei Mitarbeiter der Stiftung; die Namen kann ich Ihnen geben. Und die beiden kurdischen Familien natürlich.« Zischend sog sie Luft durch ihre Zähne: »Denen muss ich erst mal erzählen, dass es mit dem Umzug morgen nichts wird. Das wird hart, die hatten sich schon sehr gefreut. Außerdem werden die sich natürlich wegen der Brandstiftung ihre Gedanken machen. Wollen Sie deren Namen auch?«

»Danke, muss nicht sein, die Namen der Mitarbeiter reichen völlig.« Er zückte Block und Kugelschreiber, notierte Namen und Telefonnummern. Christel Röben verabschiedete sich und rauschte in ihrem dunkelroten Audi davon. Auch nicht gerade klimafreundlich, registrierte Stahnke automatisch. Und auch nicht wirklich rot. Eher rotbraun. Unauffällig, uneindeutig. Hatte die Frau Angst vor weiteren Beschimpfungen?

Unbemerkt hatte sich Kollegin Annika Brühl neben ihn gestellt. »Die Sozis haben es nicht leicht im Moment«, kommentierte sie. »Das ist in Hessen genauso. Hat ein paar Jahre gedauert, bis die Wähler gemerkt haben, dass von einer Seeheimer-SPD nun mal keine zukunftweisende Politik für Menschen vom Mittelstand abwärts zu erwarten ist. Jahre? Jahrzehnte! Aber jetzt haben sie es gemerkt, und sie werden es wohl so schnell nicht wieder vergessen.«

»Stimmt«, sagte Stahnke, »Hessen war ja auch mal rot! Aber sicher nicht so rot wie Emden. Dort hat die SPD über 60 Jahre in Folge den Oberbürgermeister gestellt – und bei der letzten Wahl haben die Emder den SPD-Kandidaten mit unter 20 Prozent vom Hof gejagt. Das war richtig bitter für den und seine Partei.«

»Und Carsten Fecht haben sie erschossen«, ergänzte Annika Brühl trocken. »Um den Fall darf ich mich ab morgen auch mit kümmern. Bin gespannt, wie weit ihr schon seid.«

»Heiße Spur ist noch Fehlanzeige, wir ermitteln in alle Richtungen«, gab Stahnke zu. »Darum bin ich auch hier.«

»Die Pöbelchats.« Die Hauptkommissarin nickte bestätigend. »Kommt unsere Stiftungsdame hier auch in Betracht? Die gut betuchte Audifahrerin mit Proletariatshintergund?«

»Vermutlich nicht, wenn ihr Alibi bestätigt wird«, erwiderte Stahnke. »Aber wie darf ich denn Ihre Bemerkung verstehen?«

Annika Brühl lachte wieder. »So steif, Herr Kollege! In unserem Fachkommissariat in Wiesbaden haben wir uns alle geduzt. Ich bin zwar vermutlich die Jüngere von uns beiden, aber – wie sieht’s aus? Ich bin die Annika.« Sie streckte die Hand aus.

Stahnke griff zu, war von der Festigkeit ihres Händedrucks angenehm überrascht. »Na klar, einverstanden. Ich bin, äh – einfach Stahnke. Stahnke reicht.«

Zwei blitzende dunkelbraune Augen, ein breites Grinsen. »Hätte ja klappen können!«, rief Annika Brühl fröhlich. »Hab schon gehört, dass du aus deinem Vornamen ein Haupt- und Staatsgeheimnis machst. Runde eins geht an dich, aber warte nur, den krieg ich noch raus!«

Jetzt erst ließ sie seine Hand los. Verblüfft starrte Stahnke auf seine Finger, als müsste er sie auf Vollzähligkeit überprüfen.

»Zu deiner Frage«, fuhr Annika Brühl fort: »Frau Röben hat einen Ruf in Aurich. Es heißt, sie sei vom Stamme Nimm. Achtet immer darauf, dass sie auch ihr Recht bekommt – und nach Möglichkeit etwas mehr. Ihr Auto hast du ja gesehen, ihr Haus ist eher eine Villa, und Mitglied im Golfklub Wiesmoor ist sie auch. Ihr Vater hatte in Leer bei der Müllabfuhr gearbeitet. Ist schon lange verstorben, und sie redet auch nie über ihn. Vielleicht weiß gerade deswegen jeder Bescheid.«

»Sozialneid? Oder liegt irgendetwas Handfestes gegen die Dame vor?«

Annika Brühl schüttelte den Kopf. »Nichts. Die Leute reden eben, das ist in Ostfriesland auch nicht anders als in Hessen.«

Stahnkes Smartphone meldete sich. Ekincis Nummer. »Was gibt es?«, fragte der Hauptkommissar.