Ebbe und Blut

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8

Die Autobahn zwischen Emden und Leer war zwar schon seit längerer Zeit lückenlos fertig, aber Boelsen benutzte sie nicht. Das tat er nie. Längere Strecken legte er mit der Bahn zurück, notfalls mit dem Flugzeug. Seinen Urlaub verbrachte er ohnehin auf dem Wasser, entweder auf einem gecharterten Segelboot irgendwo in der Ägäis oder auf der Aeolus, seinem Dreizehnmeter-Motorkreuzer, irgendwo in den hiesigen Revieren, auf den Flüssen Ems und Weser oder zwischen den Inseln.

Aeolus, der Herr der Winde – den Namen hatte er natürlich bewusst gewählt, und er passte zu ihm wie zu seiner Profession. Besser als das stählerne Schiff selbst mit seinen beiden großvolumigen Dieselmotoren. Irgendwann würde er sich eine Segelyacht zulegen, eine, deren Segel so geschnitten waren, dass er sie auch alleine beherrschen konnte. Herr der Winde. Aber vorerst brauchte er die alte Aeolus noch, denn sie diente auch als schwimmende Tagungsstätte für Geschäftspartner und potentielle Kunden. Mancher Vertrag, der zwischen Bürowänden auf Widerstände stieß, kam an der frischen Seeluft problemlos zur Unterschrift.

Sein Diesel-Golf fuhr mit Rapsöl, und er benutzte ihn fast ausschließlich im Nahbereich, zwischen seinem Haus in Leer-Loga, seiner Firma in Wiesmoor und den Anlagen und Baustellen überall in Ostfriesland. Wenn es in Diskussionen mit Umweltschützern um die Drosselung des individuellen Energieverbrauchs ging, führte er sich gern selbst als Beispiel an. »Wo es Wege zur Einsparung gibt, da müssen wir sie nutzen, und wo es diese Wege noch nicht gibt, da müssen wir sie schaffen.« Boelsen nickte gedankenverloren. Für ihn gab es keine Kluft zwischen Überzeugung und Geschäft. Er gönnte sich eine kleine Dosis Selbstzufriedenheit.

In Oldersum, wo die Bundesstraße direkt am Innentor der Schleuse vorbeiführte, nahm er Fahrt weg und schaute durch das Brückengeländer auf den Ems-Seitenkanal hinunter. Weiter hinten spielten Kinder auf dem Eis, das so dick war wie selten. Mehrere kleinere Yachten ragten aus der weißen Fläche, eine davon war steuerbords bis zum Gangbord weggesackt, vermutlich vom Eisdruck beschädigt und vollgelaufen. Boelsens eigenes Schiff stand sicher an Land, im Winterlager. Er wusste genau, was ihn diese Aktion gekostet hatte, trotz aller Beziehungen, und verbot sich daher jede Schadenfreude. Die Überholungsarbeiten waren beendet; sobald das Eis weg war, sollte die Aeolus wieder ins Wasser, so schnell wie möglich.

Noch aber war das Eis da, und darum beneidete er die Kinder: Schöfeln gehörte zu den ostfriesischen Grundsportarten. Boelsen hatte sich vor Jahren schon Schlittschuhe gekauft, in den letzten Wintern aber hatte es nie lange genug gefroren; entweder hatte er gerade keine Zeit gehabt, wenn das Eis freigegeben wurde, oder aber die Flächen waren so voll gewesen, dass er sich geniert hatte, sich vor so vielen Könnern als Anfänger bloßzustellen. Als vor einiger Zeit Pläne bekannt geworden waren, in Leer eine monströse Eishalle zu bauen, hatte auch er zu den Begeisterten gehört. Und jetzt dieser Winter. Ein Hohn. Aber auch ein interessantes Projekt, diese Eishalle, obwohl sie vermutlich nie realisiert werden würde. Ehrgeizig. Natürlich nicht so ehrgeizig wie seine eigenen Pläne. Seine Bowindra – »Boelsens windbetriebene Rotor-Anlagen« – war drauf und dran, ihren ersten wirklich bedeutenden Coup im Ausland zu landen, und zwar nicht irgendwo, sondern in den USA. Am liebsten hätte er sich die Hände gerieben. Zweihundert Anlagen auf einen Streich, das war ein Ding. Wenn das klappte, dann war ein gewaltiger Markt erschlossen. Gerade zur rechten Zeit, denn in Deutschland wurde die Konkurrenz stärker, und auch die Dänen schliefen nicht. Und warum sollte das nicht klappen? An ihm sollte es jedenfalls nicht liegen.

Kurz hinter Terborg bog er auf die Straße direkt unterm Deich ein. Für ihn als Logaer verlief die zwar eigentlich zu weit westlich, aber er wollte lieber den Mittagstrubel in Neermoor und die Käuferkolonnen beim Emspark vermeiden. Außerdem fuhr er gern dicht an der Ems entlang, auch wenn der Fluss hier gänzlich hinter dem hochragenden Deich verborgen war. Aber er wusste ja, dass der Fluss da war, und das war schließlich die Hauptsache.

Beim Sautelersiel nahm er wieder Gas weg, begutachtete den zugefrorenen Vorfluter. Es dauerte eine Weile, bis er merkte, dass er selbst für seine Verhältnisse zu bummelig fuhr. Boelsen streckte sich hinterm Steuer und gab Gas.

Den Schlag spürte er zuerst im Lenkrad. Hinter ihm knallte es, der Wagen zuckte leicht nach rechts. Boelsen glaubte, Schneegriesel an seinem Hinterkopf zu fühlen. Dann brauste es eisig herein. Er nahm den Fuß vom Gaspedal und fasste sich in den Nacken. Als der Wagen ausgerollt war, zog er die Handbremse mit der linken Hand an. Die rechte war blutig.

Er schaltete die Warnblinker ein und stieg aus, taumelte, hielt sich an der Dachkante fest. Zwei Autos fuhren vorbei, Boelsen registrierte missbilligende Blicke.

Die hintere Seitenscheibe seines Golfs war weg, Glassplitter bedeckten die Rückbank, einige steckten in der Kopfstütze. Wieder griff er sich an Kopf und Hals und zuckte zurück. Schmerz und Schock kamen gleichzeitig. Er lehnte die Unterarme an die Dachkante, legte seine Stirn darauf, drückte die zitternden Knie durch und atmete tief, bis sich der Schwindel legte.

Als er die Augen wieder öffnete, sah er die kleinen, runden Löcher im Seitenblech unter der gähnenden Fensterhöhle. Schrot, dachte er. Kornemann hätte das gleich gesehen. Dann überlief es ihn heiß. Er schaute zurück, drehte sich um, einmal ganz um die eigene Achse. Da war niemand. Oder? Auf der anderen Straßenseite waren Weiden, davor ein Graben, Büsche, krumme Bäume. Weiter hinten ein Haus, eine Einmündung. Die Straße kannte er, ein geschlängelter Betonplattenweg, der führte quer durch den Hammrich zur Bundesstraße, da hatte er auch schon Grundstücke inspiziert.

Ob der Schütze da gestanden hatte? Ob er da immer noch stand? Dann sieht er jetzt, dass ich noch lebe, dachte Boelsen. Er stieg ein, startete und fuhr los. Als er seine klebrige Hand vom Griff der Bremse löste, wurde ihm übel.

9

Der Kulturspeicher hatte nicht ausgereicht, bei weitem nicht. Also hatte man die Veranstaltung in die Turnhalle des Ubbo-Emmius-Gymnasiums verlegt, und auch die platzte fast aus den Nähten. Drei- bis vierhundert Leute, schätzte Sina Gersema. Im Schätzen war sie geübt, drei Jahre Lokaljournalismus hatten Früchte getragen. Der kleinere Teil der Leute hockte auf den Holzbänken vor dem Podium wie die Vögel auf der Stange, die weitaus meisten standen dahinter. Noch ging es nicht los, man unterhielt sich gruppenweise. Die allgemeine Erregung ließ die Halle brausen und dröhnen.

Die Diskussionsveranstaltung war schon vor Wochen angesetzt worden. Wie viel Windkraft braucht das Land? – Podiumsdiskussion mit Vertretern der Parteien und Interessengruppen. Kulturprogramm: Nanno Taddigs (Lieder und Lyrik). Veranstalter: Initiative für Ostfriesland (IFO).

Zwei bis drei Dutzend Leute höchstens, dachte Sina, mehr wären niemals gekommen. Trotz Nanno. Wenn das nicht gerade heute passiert wäre.

Wie fast alle anderen auch hatte sie aus dem Radio davon erfahren, im Auto, auf dem Weg zu ihrer Mutter, die jetzt ganz allein in Leer lebte. Erst der Sabotageakt an der Windkraftanlage in der Krummhörn, dann das Attentat auf Boelsen. Sie konnte sich keinen Reim darauf machen. Die vom Radio offenbar auch nicht. Kein Wort von den schematisierten Täter-Vermutungen, die sonst so leichthändig geäußert wurden. Politisch gibt das überhaupt keinen Sinn, hatte Sina überlegt. Ihre Neugier war stetig gewachsen und hatte sie schließlich hergetrieben. Wie wohl alle anderen auch. Dass sie außerdem ein bisschen gespannt auf Nanno war, wunderte sie selbst. Sie blickte sich um. Hier in Leer, an genau dieser Schule, hatte sie vor sieben Jahren Abitur gemacht, in dieser Halle hatte sie ihre Turnstunden absolviert. Alles hier war noch so wie früher, selbst die Flecken im ausgebesserten Putz neben und über der Heizung waren immer noch nicht übergestrichen. Sina lächelte. Und das linke Geräteraum-Tor schloss auch nicht richtig, genau wie früher. Wenn man sich mit der Schulter dranlehnte, wich es zurück, die untere Torkante schwang aus und schlug einem Knöchel und Waden grün und blau. Da, gerade war es wieder passiert. Sina sah den Mann auf einem Bein hüpfen und wandte sich schnell ab, weil sie ihr Grinsen selbst etwas unpassend fand.

Sie schlängelte sich durch das Gewühl, suchte nach bekannten Gesichtern, grüßte ehemalige Lehrer. Direkt vor ihr wurde erregt diskutiert, wollige Pulloverrücken bildeten eine Barriere. Eine schmale, ungeduldig tänzelnde Gestalt löste sich aus dem Kreis, der sich augenblicklich wieder schloss, drehte sich mit vor der Brust verschränkten Armen einmal um sich selbst, blickte wie abwesend über die Köpfe.

Sina strahlte, als sie die Hände ausstreckte: »He, Melli!«

Sie umarmten sich wie früher, als sie in der Oberstufe Tischnachbarinnen gewesen waren: leicht, ohne Druck, eher knochig als fleischig. Sina erinnerte sich noch gut daran, wie sie Melanie jahrelang hofiert, wie sie um ihre Gunst gebuhlt hatte, wie stolz sie gewesen war, als sie endlich neben ihr hatte sitzen dürfen. Freundlich, aber distanziert hatte Melanie auf ihre Herzlichkeit reagiert. Sina hatte diese Ungleichheit in ihrer damaligen Beziehung schnell erkannt, eigentlich von Anfang an. Böse aber war sie Melanie bis heute nicht, auch wenn es in den letzten Jahren praktisch keinen Kontakt mehr zwischen ihnen gegeben hatte. Gräfin Melli hatte sich anhimmeln lassen und die Vorzüge solcher Verehrung gern genossen, aber nie missbraucht. Auch eine Art von Fairness.

Verändert hatte sie sich kaum, sah mit sechsundzwanzig eher noch schöner aus als früher, beinahe unwirklich, fand Sina. Melanie überragte Sinas einsfünfundsechzig um eine gute Spanne, ihr weißblondes, langes Haar umrahmte ein schmales Gesicht, das immer noch völlig frei von Make-up war. Ihre betont rustikale Kleidung – grauweißer Wollpul­lover, hellblaue Jeans, schwarze Schnürschuhe – ließ sie aristokratischer denn je wirken. Sogar ihr Lächeln sieht huldvoll aus, dachte Sina. Mit ihrer dunkelbraunen Antiklederhose, ihrer Seidenbluse, der Fransenweste und der leichten Rottönung in ihren schulterlangen feinen, kastanienbraunen Haaren kam sie sich unpassend aufgezäumt vor. Warum nur klammert sich der Mensch an Idole, wenn deren Gegenwart doch nur die eigenen Selbstwertmängel ins Licht zerrt? Lust an der Qual? Und wenn schon. Damals hatte sie das nicht so empfunden, und heute stand sie darüber.

 

Für ihre Verhältnisse war Melanie richtig aufgekratzt, ihre sonst fast weißen Wangen waren leicht gerötet wie von einem Spaziergang im Winterwind. Sina hatte von ihren Problemen mit dem Laden gehört und von den Sorgen um die Kinder, die zwar angeblich hochbegabt, aber schwierig und häufig krank waren. Melli musste unter einem wahnsinnigen Druck stehen. Aber heute war von all dem nichts zu spüren.

»Bist du beruflich hier? Als Journalistin? Extra wegen dieser Sache?« Melanie schien Sinas Kopfschütteln zu übersehen. »Aus ganz Ostfriesland sind Leute gekommen. Ich bin ja mal gespannt, was jetzt passiert. Könnte ein Wendepunkt sein, was die Windkraftnutzung betrifft. Auf jeden Fall können die ja nicht so weiterwursteln wie bisher, sonst eskaliert das hier endgültig.«

»Du bist gegen Windkraft?« Sina war völlig perplex. »Vom Umweltstandpunkt her sind Sonne und Wind zur Energieerzeugung doch das einzig Wahre, dachte ich immer. Hast du das Lager gewechselt, oder was?«

»Überhaupt nicht.« Melanies Gesichtsausdruck wechselte vom Hoheitsvollen ins Missionarische. »Theoretisch stimmt das ja, was du sagst, aber was hier praktisch läuft, ist eine völlig andere Sache. Was uns als Nutzung der Windkraft verkauft wird, ist doch in Wirklichkeit eine Strategie, um sie zu diskreditieren.« Mit Sinas sichtbarem Unverständnis hatte sie eindeutig gerechnet. »Erinnerst du dich noch an Growian? Diese einflügelige Experimental-Anlage. In dieses Projekt wurden damals Millionen an Steuergeldern reingepumpt. Hat natürlich nie richtig funktioniert, logisch. Damit hat man die Forschung jahrelang aufgehalten, verstehst du? Absichtlich! Um zu beweisen, dass Windkraft nichts bringt, während überall die Atomkraftwerke hochgezogen wurden. Ein Flügel! Dabei gibt es Mehrflügler seit Jahrhunderten. Ist das nicht eindeutig?«

Sina hatte von Growian gehört. Dieser Zusammenhang war ihr neu, er klang nicht unlogisch, wenn auch etwas zu einfach. »Aber die modernen Anlagen haben doch drei Flügel, oder? Und sie funktionieren.«

»Sicher.« Melanie blieb geduldig, auf ihre altbekannte Art, die ein wenig verletzend wirkte, ohne dass sich dieser Eindruck zum Vorwurf hätte verdichten lassen. »Aber solange diese Dinger einzeln oder in kleinen Gruppen wahllos überall aufgestellt werden, sind sie für die allgemeine Stromversorgung ohne echte Bedeutung. Sie verschandeln nur die Landschaft und bedrohen die Tiere. Außerdem ist der Strom überteuert und muss von der gesamten Bevölkerung bezahlt werden. Da entsteht Unmut, eine unheimlich breite Ablehnung, verstehst du? Und die richtet sich natürlich gegen die Windkraft selbst. Das meine ich mit diskreditieren. Gerade hier in Ostfriesland ist das besonders drastisch. Wenn dieser Unfug nicht schnellstens abgestellt wird, dann ist die Windkraftnutzung hierzulande unten durch, und zwar auf Jahrzehnte hinaus.«

Einen Moment lang hatte Sina die Vision einer heiligen Melanie mit Brustpanzer, Krempenhelm und Breitschwert, mehr Karikatur als Idol. Konnte es sein, dass Melanie, einst eine Verfechterin der Gewaltfreiheit, die beiden Attentate be­fürwortete? Sina spürte, wie ihre Augenbrauen auf­einander zukrochen und dabei ihre Stirnhaut zu einer steilen Doppelfalte zusammenschoben.

»Dieser Anschlag auf Boelsen war absolut hinterhältig. Heimtückisch. Furchtbar. Dabei ist der doch nur einer, der die Situation ausnutzt. Kein wirklicher Verursacher.« Ganz offensichtlich war Melanie immer noch eine exzellente Beobachterin. Da hätte ich sie auch gleich fragen können, dachte Sina. Die Frage nach Melanies Einstellung zu Gewalt gegen Sachen aber sparte sie sich für einen späteren Zeitpunkt auf.

Das bislang ziellose Getümmel begann sich plötzlich auszurichten, so wie sich Eisenspäne formieren, wenn sich ein Magnet nähert. Alles schaute zum Eingang. Dort nahm das Gewühl erst zu, dann bildete sich eine Gasse, durch die jetzt Eilert Iwwerks samt Gefolge Richtung Podium schritt. Einige Schritte dahinter gingen Kornemann und Boelsen. Als Dreifach-Magnet betraten sie die Bühne. Langsam rückte die Menge vor, die Gespräche erstarben für einen Moment, setzten aber gedämpft wieder ein, als sich herausstellte, dass vorerst noch an der Mikrophonanlage gebastelt wurde.

Boelsen schien nicht ernsthaft verletzt zu sein; nur hinten an seinem Hals, unterhalb des Haaransatzes, waren Pflaster zu erahnen. »Der neben ihm ist Kornemann«, raunte Melanie. »Dem gehören wesentlich mehr Bowindra-Anteile als Boelsen selbst. Ich glaube, das wissen die wenigsten. Sonst …« Sie wurden angerempelt, Melanie sorgte mit einem Blick für Distanz. Der Satz blieb unvollendet.

»Boelsen hält angeblich nur fünf Prozent, dabei ist er der Firmengründer und der Fachmann«, fuhr Melanie fort. »Aber Kornemann ist eben der Mann mit dem Kapital. Boelsen hätte seinerzeit nicht einmal die Patentgebühren aus eigener Tasche zahlen können.«

»Kornemann – das ist doch dieser Tiefbau-Mensch? Der schon mit vierundzwanzig das große Geschäft geerbt hat?« Sina erinnerte sich dunkel an ein Zeitungs-Porträt. Überschrift: »Dynamik und Durchsetzungskraft«

Melanie nickte. »Und er hat’s noch gewaltig ausgebaut. Ein echtes Energiebündel, ziemlich gefürchtet wegen seiner Rücksichtslosigkeit. Inzwischen gehört ihm noch viel mehr. Kiesgruben sowieso, jede Menge Bauerwartungsland, Reedereianteile und wer weiß was sonst noch. Na, und die halbe Bowindra außerdem.«

Macht fünfundfünfzig Prozent, rechnete Sina automatisch: »Und der Rest?«

»Der gehört einer gewissen Hoka-Invest. Aber wer da nun dahinter steckt, das weiß ich auch nicht.« Immerhin war das, was sie wusste, eine ganze Menge, fand Sina.

Hunderte von Händen zuckten hoch zu Hunderten von Ohren, als eine letzte, besonders heftige Rückkopplung durch die Halle peitschte. Dann ging es endlich los. Der Diskussionsleiter, Sinas ehemaliger Physiklehrer, der sich vor lauter Aufregung vorzustellen vergaß, verkündete die erwartete Abweichung vom geplanten Ablauf: Information über die Vorfälle des Tages, Stand der Ermittlungen, danach offene Diskussion, »und dann sehen wir weiter.«

Kein Wort von Nanno, registrierte Sina. Sie hätte gern mal gehört, was der heute so dichtete und sang. Seit der Schulzeit hatte sie ihn völlig aus den Augen verloren, noch gründlicher als Melanie Mensing. Dabei hatte sie einmal mächtig für ihn geschwärmt. Aber dass Lieder und Gedichte unter diesen Umständen wohl nicht ganz ins Programm passen würden, sah sie natürlich ein.

Kornemann trat vor, griff sich das Mikrophon mit der Linken, ohne hinzusehen, und legte los, ohne Anrede und Begrüßung, aber zu Sinas Überraschung sehr sachlich. Seine Stimme klang tief, fest und befehlsgewohnt, unaufdringlich selbstsicher. Die Menge lauschte fast atemlos. »Laut vorläufigem Untersuchungsbericht der Polizei wurde die Tat zwischen Mitternacht und etwa fünf Uhr dreißig morgens begangen, beteiligt waren fünf bis zehn Personen, die mit mindestens zwei Pkw zum Tatort gefahren waren …«

Sina fühlte Melanies Arm an ihrem und konnte spüren, wie sie erst erstarrte und dann stärker als gewöhnlich zu beben begann. Ihr Gesicht war wieder bleich, stellte Sina mit einem Seitenblick fest. Aber das war es ja meistens. Ihrer Schönheit tat das keinen Abbruch, eher im Gegenteil.

Kornemann sprach jetzt von der vermutlichen Schadenshöhe, vom Stromproduktionsausfall und von der geschätzten Dauer bis zur Errichtung einer Ersatzanlage. Das Attentat selbst hatte er offenbar übersprungen.

Vor der Bühne wurde Unmut laut. »Wor hebbt se dat denn nu maakt?«, rief jemand. Aufmunternde Zurufe ertönten. Offenbar interessierte es eine Menge Leute, wie man solch einen Rotor herunterholen konnte.

»Details der Tat nenne ich wohlweislich nicht«, sagte Kornemann. »Ich teile ganz die Auffassung der Polizei, dass irgendwelche Sympathisanten nicht auch noch zur Nachahmung angeregt werden sollen.« Der Blick seiner dunklen Augen hatte den Zwischenrufer ausgemacht und gepackt. Lider und Gesichtszüge blieben unbewegt, lediglich die Brauen schienen sich ein wenig gesenkt zu haben. Die Rufe verstummten. Sina spürte Melanies Ellbogen. Sie hatte wieder die Arme verschränkt.

Kornemann trat zur Seite und gab das Mikro weiter an Boelsen. Beifall brandete auf. Fast alle klatschten, auch Melanie, stellte Sina fest. Dieser Boelsen, von dem bei aller zur Schau getragenen Überkorrektheit auch ein Rest jungenhafter Ausstrahlung ausging, wirkte tatsächlich nicht unsympathisch. Sina hatte in ihrer eigenen Zeitung schon mehrmals über ihn gelesen, hatte seine Vorstellung von ökonomisch orientierter Ökologie zwar nicht unbedingt überzeugend, aber doch glaubwürdig gefunden. Klar, dass jeder, der nicht ganz und gar im anderen Lager stand, von ihm angetan war. Und auch dieses andere Lager klatschte. Wenn der Anschlag auf Boelsen ein politisch motivierter war, dann entpuppte er sich spätestens hier als Bumerang, überlegte Sina.

Boelsen schilderte das Attentat knapp und undramatisch. »Der Schrotschuss traf das linke hintere Seitenfenster meines Wagens, meine Verletzungen rühren ausschließlich von den Glassplittern her.« Fehlgegangener Mordanschlag, gezielte Warnung oder verirrter Schuss eines Jägers – Boelsen ließ es offen, sparte sich jede Schuldzuweisung und kassierte damit weitere Pluspunkte auf der Gegenseite.

Diesen Kredit löste er sofort ein, indem er ein Plädoyer für die Windkraft anschloss: »Der heutige Tag hat wieder einmal gezeigt, wie viel Überzeugungsarbeit noch zu leisten ist. Wir werden uns nicht irremachen lassen, wir werden unseren Weg weitergehen, weil wir wissen, wohin er führt, und weil wir wissen, dass wir genau dorthin wollen.«

Niemand unterbrach ihn, niemand pfiff, der Schlussapplaus war fast so laut wie die Begrüßung. Clever, dachte Sina.

Acht Personen hatten inzwischen an den zusammengeschobenen Resopaltischen hinten auf dem knapp achtzig Zentimeter hohen Podium Platz genommen, sieben Männer und eine Frau. Niemand rührte sich, als Boelsen sich umschaute und die Hand mit dem Mikrophon anbietend zur Seite reckte. Kornemann fuhr herum, ungehalten von einem Augenblick zum anderen. Fordernd zuckte seine linke Hand hoch. Da gab sich Iwwerks einen Ruck.

Er hatte sich gestylt wie immer zu solchen Anlässen. Die Bartkrause hatte er sorgfältig nach vorn gekämmt, die Elbseglermütze aufbehalten; das dunkelblaue Fischerhemd mit den dünnen weißen Streifen spannte sich leicht über seinem Bauch. Zur schwarzen Manchesterhose trug er seine neuen, hinten geschlossenen Clogs, in denen er sich noch nicht ganz sicher fühlte. Daher fiel sein Gang noch seemännisch-rollender aus als gewöhnlich.

»Was hat der denn vor? Ein Shanty singen?«, entfuhr es Sina, als Iwwerks zum Mikro griff. Mehrere der Umstehenden drehten sich nach ihr um und lachten. Melanie lachte nicht.

Der Radau brach auf der rechten Flanke los, kaum dass Iwwerks den Mund geöffnet hatte. »Hol doch dien Muul, du Dööskopp!«, ertönte eine heisere, aber überraschend laute Männerstimme. Die weiteren Zurufe waren nicht mehr zu verstehen, sie flossen ineinander wie Bronzebäche, die zusammen eine Glocke erzeugten. Eine aus Gebrüll, die Iwwerks’ Worte vollständig zudeckte. Sina stellte sich auf die Zehenspitzen und sah geballte Fäuste, geschwungen von Männern, die ganz ähnlich, wenn auch nicht so perfekt ausstaffiert waren wie der verhinderte Redner.

»Die Guntsieter Fischer!« Melanie schrie ihr direkt ins Ohr. In der Halle wurde es immer lauter; einige stimmten in den Fischer-Chor ein, andere brüllten dagegen an. Die Spaltung, die Boelsen so geschickt übertüncht hatte, war schlagartig wieder da.

»Was haben die denn gegen den?«, schrie Sina zurück.

»Die ostfriesischen Fischer hatten alle zusammen gegen die Emsvertiefung geklagt. Dann hat die Werft, die als Einzige von der Vertiefung profitiert, den Guntsietern neue Kutter versprochen, und da haben die ihre Klage zurückgezogen.« Melanie stützte sich auf Sinas Schulter. Mehr und mehr geriet die Menge in Bewegung. Es knuffte und schubste von allen Seiten. »Iwwerks war stinksauer und hat mächtig auf die anderen geschimpft. Die haben geantwortet, er sei ja gar kein Fischer mehr, sie aber müssten schließlich vom Fischfang leben, also solle Iwwerks sich da raushalten. Und dann hat Iwwerks sie in einem Interview als Verräter bezeichnet. Vor ein paar Tagen erst.«

 

Klar, dachte Sina. Die Fischer haben nur auf die nächste Chance gewartet, um sich Iwwerks öffentlich vorzuknöpfen. Und haben voll ins Wesennest gestochen.

Das Getöse nahm immer noch zu. Irgendwo schrillte eine Trillerpfeife, gleich darauf stimmten andere ein. Offenbar waren nicht nur die Fischer mit festen Krawall-Absichten hergekommen. Durch einen Wald von gereckten Armen und fuchtelnden Fäusten sah Sina ihren Physiklehrer mit dem Mikrophon, hörte drei, vier beschwörende Worte, dann war der Ton weg. Das Podium wurde fluchtartig geräumt, die Leute rannten zum Hinterausgang. Kornemann, Boelsen und Iwwerks waren schon nirgends mehr zu sehen. Ein Teil der Menge drängte nach vorn, der andere nach links, zum Haupt­portal.

»Nichts wie raus«, schrie Sina. Jetzt begriff sie, was es bedeutete, das eigene Wort nicht verstehen zu können. Eine neue Erfahrung, dachte sie, während sie sich hinter Melanie her zum Ausgang kämpfte.

Etwas Hartes krachte gegen ihre Knie. Sie stoppte, wurde weitergeschoben, taumelte, kämpfte um ihr Gleichgewicht, klammerte sich an irgendwelchen Armen fest. Vor und unter ihr saß Nanno in seinem Stuhl. Sie schaute direkt in seine grauen Augen. Der Schmerz verging, als er lächelte. Was er sagte, konnte sie nicht hören. Er drehte sich nach vorn, seine Arme stießen auf die Räder hinab. In seinem Kielwasser passierte sie das Nadelöhr.

Draußen blieben sie erst hinter den Parkplätzen stehen. Sina spürte den Schweiß am ganzen Körper und fror plötzlich. Ihre Jacke hatte sie im Auto gelassen.

»Frostkötel«, spottete Nanno, als sie sich in ihre eigenen Arme zu wickeln versuchte. »Hast dich wirklich kaum verändert.«

Aber du, dachte sie. Ihre Zähne begannen zu klappern, und sie öffnete die Lippen, damit er es hörte.

Er lächelte zurück.