Ich hatte einen Schießbefehl

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Im wehrpflichtigen Alter

Der Druck auf uns Jugendliche, sich für einen längeren Armeedienst zu verpflichten, nahm ab der neunten Schulklasse immer mehr zu. Wir wurden ständig agitiert, eine Offizierslaufbahn einzuschlagen oder wenigstens drei Jahre als Unteroffizier zu dienen. Einige Lehrer verbogen sich regelrecht, um Nachwuchs für die NVA zu gewinnen. Konnte ich mich bis zur zehnten Klasse erfolgreich vor Arbeitsgemeinschaften wie Flugmodellbau, Kraftsport und Schießen drücken, gab es in der Abiturstufe keine Ausreden mehr, eine Mitgliedschaft in der Gesellschaft für Sport und Technik (GST), die das Sprungbrett zur Armee bildete, zu verweigern.

Im elften Schuljahr absolvierten wir Jungen einen militärischen Lehrgang auf der Insel Rügen. Während der Zugfahrt ins Wehrlager fielen unsere graugrünen Uniformen und schwarzen Schnürschuhe auf, weil sie sich krass von der knappen Mode der Urlauber unterschieden. So standen wir beim Umsteigen auf den Bahnhöfen in Stralsund und Sagard isoliert da.

Die Ausbildung mit Holzgewehren in den Wäldern zwischen Breege und Juliusruh machte uns zu einer absoluten Lachnummer. Nach Dienstschluss übten wir Nahkampf in den Dünen am Tromper Wiek, tranken Bier und bändelten mit vernachlässigten Urlauberinnen an. Heute tummeln sich Camper auf dem Gelände des ehemaligen GST-Lagers in Breege, wo nur der verwahrloste Schießplatz an alte Zeiten erinnert. Zum Glück war unser Lehrer ein überaus verständnisvoller Vorgesetzter, der dem Pseudodrill nichts abgewinnen konnte und unsere Freizeitaktivitäten tolerierte. Da fünf Mitschüler ihr Hobby zum Beruf wählten, brauchte ich keine Verpflichtungserklärung für eine längere Dienstzeit zu unterschreiben. Zwei wollten unbedingt, zwei mussten von den Eltern aus und einer wurde mitgerissen. Die hohe Quote überraschte selbst den verantwortlichen Lehrer, so dass ich überhaupt nicht gefragt wurde. Ich sah die 18 Monate Grundwehrdienst als notwendiges Übel, denn ich verabscheue den Umgang mit Waffen aus Respekt vor deren Wirkung. Trotzdem musste ich wie die meisten männlichen Jugendlichen zur Fahne. So hieß es früher, wenn der Grundwehrdienst in der NVA bevorstand. Seit Einführung der allgemeinen Wehrpflicht in der DDR am 24. Januar 1962 waren anderthalb Jahre Pflicht. Alles darüber hinaus war freiwillig. Rekruten mussten Anfang Mai oder Anfang November einrücken. Bei den Grenztruppen wurde zusätzlich im Februar und August eingezogen. Ich wusste damals wohl, dass man den Dienst an der Waffe ablehnen durfte. Nach Verordnung des Nationalen Verteidigungsrates vom 7. September 1964 bot sich die Chance, den Militärdienst in Baukompanien abzuleisten.

Eine solche Verweigerung wäre für mich nicht in Frage gekommen, weil ich meinen Eltern keine Schwierigkeiten bereiten wollte. Zudem hatte ich ein abschreckendes Beispiel vor Augen, als ein Freund von mir die Uniform mit dem kleinen Spaten auf den Schulterstücken anzog. Trotz pazifistischer Einstellung wurde Detlef Teil der Arbeiter-und Bauernarmee. Der gelernte Betonfacharbeiter mauerte dicke Wände auf einer abgesperrten Baustelle in der Nähe von Berlin, wo ein Militärobjekt entstand. Das emsige Treiben beobachtete ich heimlich durch ein winziges Astloch im übermannshohen Bretterzaun, wenn ich Detlef am Wochenende mit dem Moped abholte. Die schwere körperliche Arbeit war mein Kumpel gewöhnt, aber der militärische Drill machte ihm zu schaffen. Aus grauen Lautsprechern schepperte Marschmusik, die das monotone Geschrei der Vorgesetzten übertönte. Trotzdem konnte ich das Gebrüll bis auf die Straße hören. Überall standen bewaffnete Aufpasser, die dafür sorgten, dass sämtliche Tätigkeiten im Laufschritt erledigt wurden. Die befohlene Eile führte zwangsläufig zu Pfusch am Bau, was Strafen nach sich zog. Detlef musste Überstunden leisten, so dass ich freitags oft vergeblich auf meinen Freund wartete. Er sprach nicht über den Dienst, weil ihm die Verweigerung nur Nachteile einbrachte. Niemand interessierte sich für die Gründe, warum Detlef keine Waffe in die Hand nehmen wollte. Er galt fortan im Dorf als Drückeberger, was ich unter keinen Umständen wollte. Berufliche Perspektiven für Spatensoldaten waren eingeschränkt und Studienplätze gab es nicht mehr für sie. Davor hatte ich Angst.

Mit dem obligatorischen Musterungsbescheid forderte man mich zur Überprüfung meiner Diensttauglichkeit auf. Ein Nichterscheinen beim Wehrkreiskommando hätte strafrechtliche Folgen gehabt.

Geprägt durch die Erziehung im Elternhaus machte ich mir selbst Mut, denn ich wollte nicht vor der Verantwortung davonlaufen. Das war ich mir persönlich und meinen Eltern schuldig. An die Verpflichtung dem Staat gegenüber dachte ich weniger. Wenn man genau das tat, was von einem verlangt wurde, hatte man seine Ruhe.

In meinem Bekanntenkreis fragte ich ehemalige Grundwehrdienstler nach ihren Erinnerungen. Leider konnte ich daraus keinen Nutzen ziehen, weil die Auskünfte zwiespältig waren. Einige Leute prahlten damit, bei der NVA erfahren zu haben, wer man wirklich war. Bei anderen gewann ich den Eindruck, dass sie die Armeezeit bewusst verdrängten, da sie abwertend über diesen Lebensabschnitt sprachen. Folglich beschlich mich ein Gefühl zwischen Angst und Neugier.

Die Untersuchung meiner körperlichen und geistigen Eignung für den Wehrdienst erfolgte am 21. April 1981 in unserer Kreisstadt. Ich war vorher beim Friseur und trug keine Matte mehr wie die Hippies im Musical Hair. In der Nacht vor dem Termin träumte ich vom Hochstapler Felix Krull aus dem Roman von Thomas Mann, der mit einem epileptischen Anfall seine Ausmusterung erreichte. Das lag mir fern. Schon beim Aufstehen am frühen Morgen begann das Muffensausen, das sich in dem Maße steigerte, je näher der Termin rückte. Mein Zug bekam am Umsteigebahnhof keine Einfahrt, sodass ich befürchtete, den Anschlusszug zu verpassen. Ich war Pünktlichkeit gewöhnt, was man von unseren öffentlichen Verkehrsmitteln nur bedingt behaupten konnte. Deshalb plante ich reichlich Zeit für die Anreise ein, um viel zu früh am Musterungsstützpunkt einzutreffen. Hinter einem Tross orangefarbener Rangierloks auf dem Nachbargleis sah ich den D-Zug von Stralsund zur Weiterfahrt nach Berlin-Lichtenberg stehen. Ich spurtete los und erreichte ihn auf den letzten Drücker. Hastig schlug der Schaffner die Tür von außen zu. Im selben Augenblick fuhr der Zug an. Das heftige Rucken schleuderte mich in den überfüllten Gang, wo man überhaupt nicht umfallen konnte. Wer nun hoffte, dass bei dem Gedränge keine Fahrausweise kontrolliert wurden, der hatte sich getäuscht. Rechtzeitig fiel mir ein, dass mein Musterungsbescheid gleichzeitig Fahrkarte 2. Klasse war. Zwei Stunden zu früh erreichte ich den Musterungsstützpunkt, der direkt hinter dem Bahnhof lag. Bei der Anmeldung musste ich nicht warten. Jeder Kandidat ist sofort abgefertigt worden, was mir ermöglichte, den Mittagsbus nach Hause zu schaffen. Ein weiterer Vorteil bestand darin, dass mich niemand kannte. Ich brauchte keine Zeugen, die mir später nachsagten, dass ich mich blöd angestellt hätte. Diese Anonymität ließ meine Unsicherheit langsam weichen und meine Angst, den Kittel-und Uniformträgern hilflos ausgeliefert zu sein, schien unbegründet. Die Übermacht hatte ich mir größer vorgestellt. Natürlich flößten mir Menschen in Uniformen Respekt ein, aber ich gewöhnte mich schnell an die durchdringenden Blicke. Die Prozedur selbst bestand aus vier Abschnitten, die akribisch im Gesundheitsbuch festgehalten wurden. Dieses G-Buch musste ein wichtiges Dokument sein, denn auf der Titelseite prangte das Wappen unseres Arbeiter- und Bauern-Staates. Teil A beinhaltete Namen, Adresse, Geburtsdatum und Schulbildung. Im Teil B erfolgte eine Aufnahme von Erkrankungen in unserer Familie. Ein freundlicher Weißkittel mit Hornbrille auf der untersten Nasenspitze fragte nach Unfällen, ambulanten und stationären Behandlungen. Als er das mächtige Gestell abnahm, glich er einem schlitzäugigen Chinesen. Er rieb sich ein Auge und kniff das andere zu, was Krähenfüße in den Winkeln entstehen ließ. Der Brillensteg hatte auf der Nase einen terrassenähnlichen Abdruck hinterlassen. Sein Zinken wirkte wie eine Skisprungschanze. Der Arzt hauchte gegen die Gläser, polierte sie blitzblank und riskierte einen flüchtigen Kontrollblick. Das benutzte Stofftaschentuch verschwand jedoch nicht wieder in seiner Hosentasche. Er zwirbelte eine Ecke zu einer fingerdicken Wurst und steckte sich die Spitze abwechselnd in beide Nasenlöcher. Dazu bückte er sich unter den Schreibtisch, wobei seine Stirn beinahe gegen die Tischkante gestoßen wäre. Ich verschwieg, dass mein Vater während des Afrikafeldzuges im Zweiten Weltkrieg mit Malaria im Lazarett lag. Besonderen berufsbedingten Einflüssen wie Lärm, radioaktiven Strahlen und giftigen Substanzen war ich als Schüler der elften Klasse nicht ausgesetzt. Die Frage nach Nikotin konnte ich verneinen, der Gestank ekelte mich an. Erste heimliche Versuche, Filterzigaretten zu rauchen, lagen hinter mir. Schokolade schmeckte mir besser. Beim Thema Alkohol nickte ich zwar, aber der Doktor fand keine Anzeichen einer Abhängigkeit. Bettnässer war ich schon lange nicht mehr. Die Schwimmfertigkeit lag mit erreichter dritter Schwimmstufe vor. Bei sportlicher Betätigung trug der Arzt ein, dass ich organisiert Fußball spielte.

Teil C umfasste die körperliche Untersuchung durch den Musterungsarzt. Nur in Unterhosen betrat ich barfuß einen Raum, in dem Einzelabfertigung herrschte. Bei einer Körpergröße von 185 Zentimetern wog ich 82,5 Kilogramm. Als mir der Doktor einen trockenen Holzspatel in den Rachen schob, musste ich würgen. Die Blutentnahme wurde von der Krankenschwester vorgenommen, die Protokoll führte. Der Musterungsarzt prüfte Ohren, Augen, Nase, Mundhöhle, Hals, Wirbelsäule, Lunge, Herz, Milz, Nieren und die Haut. Mein leichter Silberblick störte ihn nicht. Den dezenten Griff an die Männlichkeit begleitete ein „Husten sie mal!“, was die Schwester animierte, genauer hinzuschauen.

 

Auf Grund der Befunde sollte im Teil D eine geeignete Waffengattung für mich festgelegt werden. Die Entscheidung der Musterungskommission bestand aus zwei Worten, motorisierter Schütze. Das hieß Angehöriger der Landstreitkräfte der NVA, kurz Mucker. „Ich, warum ausgerechnet ich?“, bohrte sich eine Frage in mein Hirn, die gewiss tausende Rekruten vor mir beschäftigt hatte. War das Zufall oder Schicksal? Keine andere Waffengattung hätte mich mehr treffen können, denn motorisierte Schützen galten im Krieg bestenfalls als Kanonenfutter. Enttäuscht von dieser Einstufung hätte ich fast die Frage nach der Dauer der Dienstzeit überhört. Länger als 18 Monate zu dienen, stand für mich nicht zur Debatte. Ich erhielt den grauen Wehrdienstausweis und eine persönliche Erkennungsmarke, auf der meine Personenkennzahl und die Staatsangehörigkeit DDR eingeprägt waren. Die sogenannte Hundemarke sollte im Ernstfall um den Hals getragen werden. Von meinem Vater wusste ich, dass er einmal das ovale Aluminiumschild eines Kameraden in der Mitte auseinanderbrach, als der Soldat im Zweiten Weltkrieg verstarb. Er nahm den unteren Teil mit und gab ihn beim Vorgesetzten ab. Der obere Teil verblieb zur Identifizierung bei der Leiche. In dem Zusammenhang erzählte mein Vater auch von ehemaligen Kameraden, die vor ihrer Erschießung im Kriegsgefangenenlager die Hundemarken zusammenrollten und verschluckten, um später erkannt zu werden. An ein solches Szenario wagte ich nicht zu denken.

Trotz düsterer Aussichten fiel mir ein Stein vom Herzen, weil ich die Musterung überstanden hatte. Dafür belohnte ich mich mit Bier in der Wildgaststätte „Weidmannsheil“. Kurz nach 11.00 Uhr war ich der erste Gast, der den kalten Rauch vom Vorabend einatmen musste. Das vergilbte Schild „Bitte warten, Sie werden platziert!“ am Hirschgeweih überm Eingang ignorierte ich bewusst. Ich setzte mich an den verwaisten Stammtisch vorm Tresen und orderte hastig ein Bier, weil mir nur eine halbe Stunde bis zur Abfahrt des Busses blieb. Das erste Glas leerte ich in einem Zug und bestellte sofort ein zweites Bier nach. Als ich Soljanka verlangte, riet mir die kesse Kellnerin ab, weil die Suppe vom Vortag angeblich aus dem Topf stank. Dafür bekam ich einen doppelten Kräuterlikör auf Rechnung des Hauses, mit dem der Objektleiter einen Eintrag ins Gästebuch, dem Beschwerdebuch in Kneipen, verhindern wollte. Entgegen der Annahme des Wirtes war ich nicht der Typ, der sich beklagte. Wenn mir etwas nicht schmeckte, habe ich es stehengelassen, meine Rechnung bezahlt und das Lokal künftig gemieden.


Hundemarke des Autors


Wehrdienstausweis des Autors

Ein Jahr später, am 10. September 1982, fand meine Einberufungsüberprüfung statt, was dafür sprach, dass ich bald zur Armee musste. Jede Veränderung gegenüber den früheren Musterungsbefunden trug ein Militärarzt penibel ins Gesundheitsbuch ein. Übereinstimmungen hakte er gewissenhaft ab, ohne sich dabei aus der Ruhe bringen zu lassen. Die trügerische Routine unterbrach ein Offizier mit einer Frage, die so viel Sprengstoff in sich barg, dass ich ihre Bedeutung nicht gleich erfassen konnte. „Genosse Küch, würden sie bei einem Angriff auf ihre Person von der Schusswaffe Gebrauch machen?“, bohrte der Uniformierte. In diesem Moment, in dem man mich mit einer scheinbar simplen Frage konfrontierte, deren Tragweite ich nicht übersah, fühlte ich mich total überfordert. Sollte ich ja sagen, um mein Studium nicht zu gefährden? Durfte ich überhaupt nein sagen und wenn ja, welche Konsequenzen würde das für mich haben? Selbstverständlich hätte ich mich verteidigt. Jeder Mensch verteidigt sich, wenn er angegriffen wird und mit einer Waffe ist das einfacher als mit bloßen Händen, sagte mir meine innere Stimme. Deshalb antwortete ich mit dem Wort aus zwei Buchstaben. Ich hielt mein Ja in dieser Situation für normal und merkte, dass alle Anwesenden mit der Antwort gerechnet hatten. Die Mitglieder der Einberufungskommission, die nicht an meiner grundsoliden sozialistischen Einstellung zweifelten, werteten meine Zustimmung als Bereitschaft und steckten mich an die innerdeutsche Grenze.

Grenztruppen der Deutschen Demokratischen Republik hörte sich plötzlich so bedeutend an, viel wichtiger als motorisierter Schütze oder Mucker. Man hätte fast annehmen können, es würde sich um eine Auszeichnung handeln, denn ich war ein Kind zweier Genossenschaftsbauern, die in der Hierarchie der Klassen und Schichten im Lande hinter den Angehörigen der Arbeiterklasse lagen. Irrtümlich dachte ich, dass nur Söhne von Betriebsleitern, Kombinatsdirektoren oder Parteisekretären an die Grenze kamen. Bei den Grenztruppen herrschte eine bunte Mischung, was die Herkunft der Rekruten betraf. Damals habe ich dem Grenzdienst gleichgültig gegenübergestanden, weil ich wenig darüber wusste. Ich kannte die olivgrünen Uniformen, die mit dem Muster aus einem Strich und dann wieder keinem Strich abwechselnd verziert waren. Von dieser Anordnung stammte der Begriff Einstrich-Keinstrich, das Kurzwort für unsere Uniformen.

Zur Ausbildung sollte ich ab November 1982 ins Grenzausbildungsregiment 11 nach Eisenach einrücken. Mit dieser Stadt verband ich die Wartburg und den gleichnamigen Pkw, das Aushängeschild der einheimischen Automobilindustrie. Dabei zählte Eisenach neben Weimar zu den deutschen Kulturhochburgen. Martin Luther versteckte sich hier auf der Wartburg, übersetzte als Junker Jörg das Neue Testament aus dem Griechischen ins Deutsche und schuf somit die Grundlage der deutschen Schriftsprache. Johann Sebastian Bach wurde am Frauenplan 21 geboren, Walter von der Vogelweide und Goethe waren in der Stadt zu Gast und der Dichter Fritz Reuter verbrachte hier seine letzten Jahre. Auf Grund ihrer Bedeutung in der deutschen Geschichte präsentierte sich Eisenach in einem für DDR-Verhältnisse erstaunlich gepflegten Zustand. Unsere Staatsführung verwendete erhebliche finanzielle Mittel, dass nicht nur die Wartburg für Touristen vorzeigbar war. Die Besucher aus dem Westen konnten bedenkenlos Kirchen, Museen und Fachwerkhäuser der Stadt besichtigen.

Warum wird man aus dem Bezirk Frankfurt an der Oder in den Bezirk Erfurt befohlen? Einfach deshalb, weil unser Staat kriegsähnliche Verhältnisse simulierte und junge Leute so weit wie möglich von zu Hause wegschickte. Aus dem Osten des Landes verfrachtete man sie an die Westgrenze und umgekehrt. Jungs aus dem Norden mussten im Süden dienen und anders herum.

Die Aussicht, dass mir zwei Winter an der Grenze bevorstanden und nicht zwei Sommer, war vorteilhaft, da man sich in der warmen Jahreszeit angenehmer vergnügen konnte als in der kalten. Das galt vor allem, wenn eine Freundin, Verlobte oder Ehefrau daheim existierte. Der Grundwehrdienst bildete einen echten Prüfstein für die Liebe. Genau an diesem Punkt begann mein Problem. Sollte ich so kurz vor der Armeezeit das Risiko einer neuen Beziehung eingehen?

Aller Abschied fällt schwer

Auf dem Weg zur Penne kam mir täglich eine junge Frau mit einem Moped entgegen. Man konnte die Uhr nach ihr stellen, denn pünktlich um 7.00 Uhr brauste sie an mir vorbei und grüßte jedes Mal freundlich. Wie sich Corinna mit ihrer orangefarbenen Schwalbe in die Kurven legte, war sehenswert.

Sie arbeitete als Sekretärin in der LPG, wo auch meine Eltern unseren Lebensunterhalt verdienten. Corinna gefiel mir mit ihrer mittelblonden Mähne und dem schelmischen Lächeln auf Anhieb. Sie hatte graugrüne Augen, einen begehrenden und zugleich begehrenswerten Blick sowie Kurven satt. Ihre Weiblichkeit verlieh jedem Kleidungsstück etwas Besonderes, das nicht nur meine Sinne, sondern auch mein Herz berührte. Wenn ich Corinna sah, ging es mir gut.

Um an Informationen über sie zu kommen, bemühte ich ihren jüngeren Bruder, der die Berufsschule in der Nachbarkreisstadt besuchte und ebenfalls mit dem Zug fuhr. Doch Ralf verstand nicht, dass ich Gefallen an seiner Schwester gefunden hatte. Er war so verschlossen, dass ich nichts aus ihm herausbekam. Also musste ich mich selber kümmern. Sehnsüchtig fieberte ich dem wöchentlichen Training der Damen-Gymnastikgruppe unseres Dorfes entgegen und beobachtete Corinna, die sich elegant über den Mattenboden bewegte. Während der Festumzüge am 1. Mai und 7. Oktober stand ich am Straßenrand, um Corinna zu sehen, die im Gleichschritt des Deutschen Turn- und Sportbundes (DTSB) der DDR marschierte. Die pure Lebensfreude, die von ihr ausging, wirkte ansteckend. Wenn ich Corinna mit meinen bisherigen Eroberungen vergleiche, müsste ich die jungen Frauen kränken. Um nicht missverstanden zu werden: Alle Mädels waren auf ihre Art nett, liebenswert und ich bereue keine der Beziehungen. Jedoch steckte der Damennachwuchs wie ich in der pubertären Erkundungsphase. Corinna wirkte mit ihrer Lebenserfahrung wesentlich reifer. Ich machte mir wenig Hoffnung, da sie fünf Jahre älter war und zwischenzeitlich auch verheiratet. Mit diesen Tatsachen wollte ich mich nicht abfinden. Auf der Suche nach einer passenden Gelegenheit, meinen Schwarm wiederzusehen, half mir der Zufall.

Mein lahmes Moped, das ich mir vom Jugendweihegeld kaufte, hatte ich mit Wertausgleich gegen ein Motorrad vom Typ MZ TS 150 eingetauscht, das nicht anspringen wollte. Trotz neuer Zündkerze gab das Motorrad keinen Laut von sich. Wütend warf ich das Werkzeug durch die Garage, bis diese einem Schlachtfeld glich. Ich gebe zu, dass ich von Technik keine Ahnung hatte. Auch mein Sinn fürs Praktische ließ zu wünschen übrig, aber ich erkannte, dass ich fachmännische Hilfe brauchte. Da nur ausgewählte Haushalte in unserem Dorf über einen Telefonanschluss verfügten, radelte ich zum LPG-Büro. Von dort aus wollte ich eine Werkstatt anrufen, um einen Reparaturtermin zu vereinbaren.

Als ich schüchtern den Raum betrat, verflog der ganze Ärger mit dem Motorrad. Meine Traumfrau, die auf eine Optima-Schreibmaschine einhämmerte, grüßte freundlich, ohne das Tippen zu unterbrechen. Hinter ihrem rechten Ohr klemmte ein angespitzter Bleistift, was mir Respekt einflößte. In dem Moment vergaß ich alle Komplimente, die ich mir mühsam ausgedacht hatte. Ich war so nervös, dass ich erst nach einigen Augenblicken den Mut fand, sie anzusprechen. Mit hochrotem Kopf schilderte ich das technische Problem und bat die Sekretärin um Unterstützung. Corinna unterbrach ihre Arbeit und musterte mich von oben bis unten. Wenn ich das geahnt hätte, wäre mein Blaumann in der Garage geblieben. Wer bei uns im Dorf nicht in Arbeitsklamotten oder im Trainingsanzug umherlief, der hatte entweder Geburtstag oder es war Feiertag. Corinna verschränkte beide Arme, sah mitleidig zu mir rüber und bemerkte, „dass der Teufel so manches Mal direkt im Detail stecken würde.“ Ich hielt die treffliche Fehlerdiagnose der Tippse für blanken Wahnsinn und sah sie mit einer Mischung aus Erstaunen und Zuneigung an. Corinna blätterte im Telefonbuch, wählte die Nummer der Werkstatt und reichte mir den Hörer. Aufgeregt griff ich daneben und spürte ihre warme, weiche Hand, die ich nicht loslassen wollte. Mein Telefonat geriet völlig zur Nebensache, als sie sich lässig zurücklehnte und die Arme hinterm Kopf verschränkte. Verlegen schielte ich auf ihr pralles Dekolleté, das die Rüschenbluse in Altrosa ausfüllte. Mir wurde schlagartig klar, dass Corinna mehr verdient hatte als meine heimliche Bewunderung.

Diese Frau hätte man mit Zärtlichkeiten überschütten müssen in jeder Sekunde des Tages und warum sollte ich das nicht tun. Wenn der LPG-Vorsitzende nicht ins Zimmer geplatzt wäre, hätte ich wahrscheinlich die Beherrschung verloren. Stattdessen bedankte ich mich höflich und verließ das Büro in der Hoffnung, dass ich der freundlichen Sekretärin in Erinnerung bleiben würde.


Der Autor mit seiner MZ TS 150

Ein anderes Mal traf ich Corinna in unserem Dorfkonsum, wo sie in der Mittagspause regelmäßig einkaufte. Sie trug ein braunes Sommerkleid, das vorne durchgehend zu knöpfen war. Die oben und unten offene Knopfleiste gestattete mir tiefe Einblicke. Ich hätte beinahe die Konsummarken vergessen, die meine Mutter sammelte. Corinna stand vorm Feinkostregal, sah einmal nach links, einmal nach rechts und wieder nach links. Scheinbar unbeobachtet, griff sie gezielt nach dem Mostrich aus Bautzen. Es blieb jedoch nicht bei einem Becher. Sie hortete emsig, denn ich zählte 36 Stück in ihrem Einkaufskorb. Wofür brauchte man nur so viel Senf? Während ich noch überlegte, fand der Hamsterkauf bereits erste Nachahmer. Alle Kundinnen, die Corinna beobachtet hatten, griffen eilig zum Mostrich. Es entbrannte ein heißer Kampf um die verbliebenen Becher im Regal. Die Leute tuschelten, dass demnächst ein Senfmangel im Handel bevorstände. Ich staunte über das auffällige Kaufverhalten, das meine Traumfrau mit ihrer Hamsteraktion auslöste. Während sie die Ware an der Kasse bezahlte, ging ich zurück und packte sicherheitshalber zwei Becher Senf in meinen Einkaufskorb. Man konnte ja nie wissen, wann es wieder Mostrich gab. Ich hätte mehr genommen, aber das Feinkostregal war leergefegt.

 

Genau 14 Tage vor meiner Einberufung sah ich Corinna bei einer Disko, wo sie in einem grünen Strickpulli und hautengen Bluejeans den Saal rockte. Dieser Anblick bestätigte meinen Entschluss, endlich anzugreifen. Aber das Auseinandertanzen lag mir nicht. Die Frau auf diesem Wege zu erobern, fiel also aus. Ich tanzte lieber zusammen oder rockte bei „Hiroshima“ von Wishful Thinking kniend auf dem Fußboden. Dabei konnte man keinem auf die Schuhe treten. Einen Kompromiss bildete die langsame Runde, die häufig als seichtes Vorspiel am Ende der Veranstaltung gespielt wurde. Im Dunkeln hätte niemand einen Fehltritt bemerkt. Wenn ich schon nicht alt genug war, musste ich wenigstens für mein Alter perfekt wirken. Ich bestellte mir beim Diskjockey mein Lieblingslied, „Am Fenster“ von City, das er sowieso zum Abschluss spielen wollte. Als die ersten Geigenklänge aus den Lautsprecherboxen auf der Bühne zu hören waren, forderte ich Corinna zum Tanzen auf. Sie lächelte verschmitzt und folgte mir aufs Parkett. Die neugierigen Blicke ihrer staunenden Freundinnen ignorierte ich. Beim Tanzen bewegten wir uns kaum von der Stelle. Während ich ihre Nähe genoss, plapperte Corinna munter drauflos wie das Frauen so an sich haben. Da ich nur die Hälfte der Nettigkeiten verstand, schmiegte ich mich noch enger an sie heran. Für diesen Augenblick hatte ich den ganzen Aufwand betrieben und wurde nicht enttäuscht. Irgendwann küsste ich Corinna flüchtig auf den Mund. Sie erwiderte meinen Kuss und ich legte nach. Das klebrige, rote Zeug auf ihren weichen Lippen reichte für zwei. Unsere kleinen, heimlichen Zärtlichkeiten bestärkten meinen Wunsch, dass der gemeinsame Abend kein Ende nehmen sollte. Nach der Disko brachte ich Corinna bis vor die Haustür und fragte zuerst nach dem Senf, worauf eine simple Erklärung für den Hamsterkauf folgte. Corinnas Mutter, die Verkaufsstellenleiterin des Konsums in der Nachbargemeinde, hatte einfach vergessen, Senf zu bestellen. Die kluge Geschäftsfrau beauftragte ihre Tochter, Mostrich im Nachbardorf zu kaufen, um einem Mangel im eigenen Laden vorzubeugen. Der Senf, der mir nur als Vorwand diente, spielte in meinen Gedanken längst keine Rolle mehr. Ich küsste Corinna zärtlich und streichelte ihr sanft über das Haar. Natürlich begehrte ich diese Frau, die energisch versuchte, mich abzuwimmeln. Warum bemühte sich Corinna, mir zu widerstehen? War ich tatsächlich zu jung für sie? Sie blieb hartnäckig und rückte den Haustürschlüssel nicht heraus. Allein die Kälte dieser Oktobernacht wäre ein guter Grund gewesen, mich aus reiner Nächstenliebe mit nach oben zu nehmen. Kurz vorm Morgengrauen gab sie endlich nach und zog mich die Treppe hoch in ihre Einraumwohnung unterm Dach des Mehrfamilienhauses. Verrückt nach Liebe landeten wir auf der gemütlichen Klappcouch, wo ich eine so bedingungslose Hingabe und Leidenschaft spürte, wie ich sie bisher nicht kannte. Ich schloss Corinna in die Arme und drückte ihren weichen, warmen Körper zärtlich gegen meinen. Sie wehrte sich nicht und wir liebten uns in tiefer gegenseitiger Hingabe. Noch Tage später atmete ich ihren unwiderstehlichen Duft an meinem Körper. Die Frau ging mir förmlich unter die Haut. Von Beginn an stand für mich fest, dass Corinna eine Nummer zu groß für mich war. Liebevoll erzog sie ihre kleine Tochter Meike. Pflichtbewusst arbeitete sie als Sekretärin im LPG-Büro. Während der Urlaubszeit half sie auf dem Feld oder im Stall. In ihrer praktisch eingerichteten Mansarde herrschten Ordnung und Sauberkeit. Corinna konnte waschen, kochen und backen. Sie mochte Rockmusik aus England, romantische Liebesfilme und verschiedene Literaturklassiker. Mir imponierte, dass sie die Bücher in ihrem Regal tatsächlich alle gelesen hatte. Was sich Corinna in den Kopf setzte, zog sie konsequent durch und vergeudete dabei keinen Augenblick. Damit legte sie hohe Maßstäbe an sich selbst. Von dieser Frau konnte ich mir eine ordentliche Scheibe abschneiden, denn sie wusste, worauf es im Leben ankam. Obwohl ich mir kaum Hoffnung auf eine feste Beziehung machen durfte, schwor ich mir damals, die oder keine.

Nach meinem Abschiedsspiel vor dem Grundwehrdienst gab es nicht nur Siegerbier in der Umkleidekabine. Mein Torwartkollege Norbert brachte selbstgemachten Pflaumenschnaps mit. Der Likör schmeckte lecker und verursachte anfangs kein Kopfweh, doch nach einer gewissen Zeit drehte sich alles vor meinen Augen.


Mannschaftsfoto vorm Abschiedsspiel am 30.10.1982

Zwei Mitspieler brachten mich nach Hause, wo ich meinen Rausch ausschlief. Als mich Norbert am Abend zur Abschiedsparty abholte, hätte ich lieber weiter geschlafen, aber meine Freunde erwarteten mich in der Bahnhofsgaststätte. Auf dem Weg dorthin bekam ich mächtig Schlagseite. Allein hätte ich die Strecke sicher nicht geschafft. Vorm Dorfkonsum begegnete uns eine Nachbarin mit ihrem Hund Scharik. Der Name entstammte dem treuen Gefährten von Janek aus der polnischen Fernsehserie „Vier Panzersoldaten und ein Hund“. Ich muss mächtig getorkelt sein, weil mich der Schäferhund in diesem Zustand nicht erkannte. Auf gleicher Höhe angekommen, sprang Scharik an mir hoch und biss mir in den linken Unterarm. Vor Schreck war ich sofort wieder nüchtern. Glücklicher Weise trug ich meine Jeansjacke unterm Anorak, so dass Fleisch und Knochen wenig abbekamen.

Trotz des Missgeschickes wurde es ein geselliger Abend. Die Wirtsleute Emmi und Heiner hatten den Billardtisch zu einer festlichen Tafel umgestaltet. Heiner schützte den grünen Filz mit einer exakt angepassten Holzplatte, Emmi deckte ein weißes Tafeltuch darüber. Ich mochte das freundliche Ehepaar mit den kleinen Macken. Emmi sah heimlich Westfernsehen. Wenn Heiner sie dabei überraschte, schaltete er sofort auf einen Ostsender um. Als aktives Mitglied der Kampfgruppe des Ortes befürchtete er, dass sich Emmi im Dorf verplappern könnte. Dabei guckten viele Einwohner täglich ARD und ZDF, aber nur wenige sprachen darüber. Den Abschied feierte ich gemeinsam mit Jörg, der wie ich zur Ausbildung nach Eisenach musste. Mein Mitstreiter war ein Jahr älter als ich und wohnte direkt neben der Gaststätte. Wie unser Land im Großen bildeten wir eine geschlossene Gesellschaft im Kleinen an diesem Abend, was ein Schild am separaten Eingang zum Billardraum dokumentierte. Im hinteren Teil der Gaststätte lief der normale Kneipenbetrieb weiter. Emmi und Heiner hatten viel Arbeit. Zur Einstimmung auf den Grundwehrdienst übten wir zu zweit marschieren. Anstelle einer Waffe schulterte jeder einen Billardqueue. Der Gleichschritt stellte für Jörg kein Problem dar, nur ich verlor das Gleichgewicht und rammte den Tresen. Päckchenbauen beendete unser vormilitärisches Treiben. In Anlehnung an das Fertigmachen zur Nachtruhe bei der Armee wurden sämtliche Klamotten nach Größe geordnet auf einem Hocker zusammengelegt. Wir übten mit der Kampfgruppenuniform und der langen Baumwollunterwäsche vom Gastwirt. Leider verstand Jörg die Aufgabe falsch, denn er zog sich vor den Anwesenden splitternackt aus, was einigen Mitschülerinnen die Schamesröte ins Gesicht trieb. Wie ein schwankender Leuchtturm versuchte er, die Unterwäsche überzustreifen. Da er mit beiden Beinen in ein und dasselbe Hosenbein stieg, kam mein Freund ins Schwanken. Als er sich am Tisch abstützte, verlor er das Gleichgewicht und landete mit den Händen auf den Tellern seiner Nachbarinnen. Zwei Zigeunersteaks und ein Teil der Sättigungsbeilage landeten auf der Tischdecke. Fettflecken zierten das weiße Tafeltuch und die lange Unterwäsche von Heiner. Während der Wirt sich den Ärger nicht anmerken ließ, starrten die Mädchen ihren Mitschüler Jörg entsetzt an. Der Rest der Feier fehlt in meinem Gedächtnis.