Ich hatte einen Schießbefehl

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Doch zurück zu mir. Im Sommer 1978 delegierte mich der Direktor an die Erweiterte Oberschule (EOS) der Nachbarkreisstadt. Ich war zwar ein ausgezeichneter Schüler, aber die Lehrer übertrieben die positive Benotung bei mir. Im Grunde genommen musste man nur genau das sagen, was die Pauker von uns hören wollten. Der Lehrer, der uns in die sozialistische Produktion einführte, verlangte alle Definitionen Wort für Wort, als käme es in der Praxis nur darauf an. Manchmal war es mir regelrecht peinlich, dass man mich mit Einsen überhäufte. Sogar in den Kopfnoten Betragen, Fleiß, Mitarbeit und Ordnung standen nur sehr gute Zensuren. Meine Lehrer entschieden damit, dass ich Abitur machen durfte. Die Anzahl der Abiturienten, die sich nach volkswirtschaftlichem Bedarf richtete, bestimmte der Staat. Mit Beginn der neunten Klasse sollte ich mich zwei Jahre lang an die höheren Anforderungen der Abiturstufe gewöhnen. Da man mich in der Penne nicht mehr wegen meiner Leibesfülle hänseln konnte, prangerten die Älteren meine Herkunft an. Ich kam nicht vom Lande, sondern man nannte mich den Bauern. Das war eines der schlimmsten Schimpfworte im Osten und folgte gleich hinter Assi, dem Kürzel für asoziale Elemente, die keiner geregelten Arbeit nachgingen und täglich zehn Mark für Verpflegung vom zuständigen Amt bekamen. Von diesem Geld konnte ein DDR-Bürger auf Grund staatlich subventionierter Preise für Grundnahrungsmittel satt werden. Wer wenig Alkohol vertrug, wurde sogar besoffen davon. Die armen Menschen tauchten in keiner Arbeitslosenstatistik auf, weil es die im Sozialismus nicht gab.

Der neue Schulleiter hätte es gern gesehen, wenn alle Pennäler in den gleichen Uniformen herumgelaufen wären. Morgens stand er auf der Treppe vor dem Eingang und musterte jeden Schüler von oben bis unten. Lange Haare und Ohrringe bei den Jungen mahnte er an, spitze Kanülen verschwanden sofort vom Kragen. Die Spritzenaufsätze wurden getragen, um zu zeigen, dass man sich den Sozialismus nicht einimpfen lassen wollte. Herr Doktor hatte Spaß, Pins der Rolling Stones einzusammeln. Wenn wir Glück hatten, durften die beschlagnahmten Abzeichen am Ende des Schuljahres im Sekretariat wieder abgeholt werden. Bei einem Pfarrerssohn aus meiner Klasse beanstandete der Direktor den Aufnäher „Schwerter zu Pflugscharen“ am Ärmel. Das Zitat aus der Bibel, das für Frieden und Abrüstung stand, wurde seit 1980 zum Symbol der Friedensbewegung in unserem Lande. Propagandaträchtig setzte sich die DDR international für den Weltfrieden ein, aber Frieden schaffen ohne Waffen wollte unser Staat nicht. Aus dem Grund zwang der Direktor meinen Mitschüler, den Aufnäher abzutrennen. Der Schulleiter quälte nicht nur Schüler, sondern auch die Mitarbeiter der Schule. Von den Reinigungsfachkräften verlangte er, ihn stets mit „Herr Doktor“ anzusprechen. Die klugen Putzfrauen revanchierten sich, indem sie den Titel mehrmals in einem Satz verwendeten. „Herr Doktor, wünschen Herr Doktor, dass wir die Aula putzen, Herr Doktor?“ Diese Provokation schien dem Direktor zu gefallen. Der einzige Mensch, der dem Oberpauker Paroli bot, war unser Hausmeister. Sobald der alte Egon das Lied „Flieg nicht so hoch, mein kleiner Freund!“ durch seine dritten Zähne pfiff, verschwand der Schulleiter mit bösem Blick im Lehrerzimmer.

In der EOS galt unter den Schülern eine spezielle Hackordnung. Wer die Rolling Stones nicht mochte, wurde als Weichei verschrien. Also beschäftigte ich mich intensiv mit dieser Musik, ohne die Texte richtig zu verstehen. Nächtelang überspielte ich mit einem befreundeten Schallplattenunterhalter die Lieder der rollenden Steine vom Tonband auf meine Kassetten. Ich trug das Abzeichen der Gruppe am Kragen und die herausgestreckte Zunge am Ärmel meiner Jeansjacke, denn mit meiner Vorliebe für die City-Rockband aus Ostberlin wäre ich weit weg vom Fenster gewesen.

Als Jüngling zählte man ebenfalls zu den Außenseitern. Deshalb bevorzugte ich ältere Mädchen, die Erfahrung mitbrachten und nicht von der Penne stammten, um späterem Getratsche vorzubeugen. Ich wollte nicht, dass die Mädels in der Schule erzählten, was gelaufen war und was nicht.

Nach Unterrichtsschluss lernte ich zufällig eine hübsche Verkäuferin kennen, die zu den freundlichen ihrer Zunft gehörte. „Haben wir heute leider nicht, bitte fragen sie morgen wieder nach!“, lautete eine ihrer versierten Alibiantworten. Anstelle von Alkohol kaufte ich täglich 200 Gramm Kokosflocken mit Schokoladenüberzug, wenn Kirsten am Süßwarenstand bediente. Ich schaute ihren spröden, zierlichen Händen gern beim Eintüten zu. Mit einer kleinen, silbern glänzenden Schippe transportierte sie leckere Süßigkeiten in eine spitze Papiertüte mit dem Aufdruck „Gut gekauft - gern gekauft“. Jeden Tag fielen mehr Pralinen daneben. Ich merkte der errötenden Verkäuferin an, dass ich sie mit meinem Schmunzeln zur Verzweiflung brachte. In ihrer Verlegenheit fragte sie stets, ob es denn ein wenig mehr sein dürfte. Natürlich wollte ich mehr von ihr als kalorienreiche Süßigkeiten, aber sollte ich deshalb gleich mit der Wahrheit herausrücken? Das gehört sich doch nicht. Nach genau zwei Wochen, zwei Kilogramm Kokosflocken und 14 Mark weniger in der Geldbörse, traute ich mich endlich, Kirsten einzuladen. Ich überraschte sie beim Sortieren in der Leergutannahme. Während mich Kirsten anstarrte, zerschellten einige Flaschen auf dem Steinfußboden. Das Scherbenaufsammeln beruhigte mich. Als leidenschaftlicher Kinogänger schlug ich für den Abend einen Besuch im Filmtheater vor, weil der schummrige Kinosaal eine hervorragende Kulisse zum Näherkommen bot. Sie schien sprachlos, willigte aber sofort ein. Meine Freude war riesig. Gleich nach Ladenschluss holte ich Kirsten ab. Dem Glaskasten am Eingang der „Uckermärkischen Lichtspiele“ konnten wir entnehmen, dass ein preisgekrönter sowjetischer Heimatfilm auf dem Programm stand. Die Vorstellung fiel aus, weil der Filmvorführer das Gerät für vier Leute nicht anwerfen wollte. Kamen weniger als fünf Besucher ins Kino, durfte die Veranstaltung abgesagt werden.

Ersatzweise knutschten wir auf einer ramponierten Parkbank, während eine Gruppe alkoholisierter Rentner nebenan darüber stritt, ob die Erde eine Kugel oder ein Diskus wäre. Da die Verkäuferin zwei Jahre älter war, bekam sie von meinen Erzeugern keine faire Chance. Ich schlich mich abends aus dem Haus und fuhr zu Kirsten, um die Nächte mit ihr zu verbringen. Wenn meine Eltern morgens von der Arbeit aus dem Stall kamen, saß ich müde am Frühstückstisch. Den fehlenden Schlaf holte ich im Unterricht nach, was auf Dauer nicht gut gehen konnte. Obwohl wir einander nicht treu waren, verlobten wir uns heimlich. Wahrscheinlich fühlten wir uns beringt erwachsener, dabei waren wir eigentlich noch Kinder. Irgendwann begannen Streitereien, bei denen wir ständig aneinander vorbeiredeten. Über die Monate trennten wir uns einige Male und rauften uns wieder zusammen. Unsere Beziehung endete im Fiasko. Wir warfen uns nicht nur schmutzige Wörter an den Kopf, sondern auch die für Ostverhältnisse teuren Verlobungsringe. Trotzdem blieben wir sprichwörtlich gute Freunde und grüßen uns noch heute. Um im Falle einer Entlobung nicht ohne Freundin dazustehen, hielt ich parallel Kontakt zu einem Mädchen aus dem Nachbarort. Jana verkörperte in meinen Augen den Kumpeltyp, mit dem man Pferde stehlen konnte. Sie hörte verständnisvoll zu, wenn ich meine Probleme schilderte und tröstete mich über die beschriebenen Misserfolge hinweg. In der Woche arbeitete Jana im Halbleiterwerk der Bezirksstadt, wo sie Mikrochips nach japanischem Vorbild fertigte. An den Wochenenden halfen wir ihren Eltern und dem Opa in der Landwirtschaft. Die Freizeit verbrachten wir entweder in der freien Natur oder in der Disko. Leider kamen wir uns körperlich kein bisschen näher. Außer kuscheln und küssen passierte nichts. Jana wies all meine Bemühungen energisch in die Schranken und pochte vehement auf das Recht der ersten Nacht. Das fand ich zum Kotzen, doch meine Freundin blieb eisern. Angeblich waren wir nie allein, was ich nicht kapierte, da ich die Gelegenheiten stets günstig abpasste. Eines Tages hieß es, dass ihre Mutter das Essen vorbereitete, in der Küche war aber niemand. Deshalb durchsuchte ich die Wohnung, um den wahren Grund für Janas Zurückhaltung zu finden. Wie erwartet blieb meine Suche erfolglos. Der einzige Mensch, der kochte, war ich, allerdings innerlich. Enttäuscht über diese Begebenheit habe ich mich einfach aus dem Staub gemacht. So verloren wir uns drei Wochen vor meiner Einberufung für immer aus den Augen. Derart beschäftigt, fiel es mir schwer, mich auf den Lehrstoff zu konzentrieren. Mein Zensurendurchschnitt sank von 1,0 in der achten Klasse auf 3,0 in der Abiturstufe. Diese Note galt als die Eins des kleinen Mannes, mit der ich mich leider zufrieden gab. Ich ähnelte einem Pferd, das nur so hoch sprang wie es unbedingt musste. Statt Anschluss an die Leistungsspitze in der Klasse zu suchen, sammelte ich fleißig Tadel für undiszipliniertes Verhalten und wäre um ein Haar von der Penne geflogen.

Den ersten Tadel gab es fürs Schulschwänzen, so formulierte es der Klassenlehrer später. Dabei war ich am Tag der vierstündigen Matheklausur krank, was ein Attest bestätigte. Die ganze Woche blieb ich zu Hause und hütete das Bett. Da ich am Sonntag Fußball spielen wollte, fuhr ich am Samstag zur Penne in der Annahme, dass die Klausur längst geschrieben wäre. Auf dem Schulhof traf ich einen Streber aus meiner Klasse, der mir mitteilte, dass die Klausur genau auf diesen Tag verlegt wurde. Das hatte mir gerade noch gefehlt. Sicherheitshalber machte ich mich wieder auf den Heimweg, denn die Mathematikarbeit wollte ich nicht verhauen. Mein Mitschüler verpetzte mich, sodass ich am nächsten Montag vor die Klasse treten durfte, um Farbe zu bekennen. Als ich meine kurzfristige Anwesenheit an dem besagten Samstag leugnete, erhob sich der Streber vom Platz und widerlegte meine Version der Geschichte. So stand Aussage gegen Aussage und es blieb dem Klassenlehrer nichts anderes übrig, als mich zu bestrafen. Den zweiten Tadel zog eine Nichtteilnahme am Sportunterricht, meinem Lieblingsfach, nach sich. Unser Lehrer hatte in der Vorwoche versprochen, mit uns Hallenfußball zu spielen. Als die Sportstunde anbrach, wollte er nichts mehr von seinem Versprechen wissen. Er jagte alle Schüler aus der Turnhalle nach draußen auf den Sportplatz, wo sie Ausdauerlauf trainierten. Nur der harte Kern der Klasse wehrte sich gegen diese Verfahrensweise. Gemeinsam mit drei anderen Jungs blieb ich in der Halle sitzen. Unsere Sturheit wurde zu einem regelrechten Politikum aufgebauscht, das sich angeblich am 1980 begonnenen Streik auf der Lenin-Werft in Danzig orientierte, aus dem später die freie Gewerkschaft Solidarnosc entstand. Der dritte Tadel war politisch noch brisanter als der zweite. Ausgangspunkt der Strafe bildete der 60. Geburtstag meines Vaters, wofür ich an diesem Freitag schulfrei bekam. Am folgenden Samstag hätte ich wieder zur Penne gemusst, doch ich lag verkatert im Bett und dachte überhaupt nicht ans Aufstehen. Meine Mitschüler hatten an diesem Samstag unterrichtsfrei, weil sie am Vortag in Berlin eine Delegation aus Laos verabschieden mussten, die vom 11. bis 16. April 1981 am

 

X. Parteitag der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) teilnahm. Natürlich hätte ich mit in die Hauptstadt fahren müssen, aber die aufgezwungene Stimmungsmache ging mir mächtig gegen den Strich. Freiwillig beteiligte sich niemand aus der Klasse am Personenkult, da dieser von ganz oben befohlen wurde und mit hohem Aufwand verbunden war. Im Kunstunterricht bastelten wir rote Nelken, weiße Friedenstauben und blaue Papierfähnchen. Mit diesen Winkelementen wedelte man in der Luft herum bis das Flugzeug abhob. Im Bus nach Berlin wurden Verpflegungsbeutel verteilt. Sie waren mit einem Kakaotrunk, zwei trockenen Brötchen, einer Wurstkonserve, einem Riegel Schmelzkäse und einem Apfel bestückt. Jeder Abiturient erhielt eine Spalierkarte mit genauer Platzangabe, um sich auf dem großen Rollfeld nicht zu verlaufen. Dabei konnte man sich bei dem Aufgebot an Sicherheitskräften überhaupt nicht verirren, wie mir meine Mitschüler berichteten. Wahrscheinlich befürchteten die Genossen, dass man bei dieser Gelegenheit ein Flugzeug in den Westen besteigen könnte.

Meine Mitschüler fuhren mit in die Hauptstadt, um am Samstag nicht zur Penne zu müssen. Keiner gab offen und ehrlich zu, was er über derartige Pflichtveranstaltungen dachte. Nur ich tanzte wieder aus der Reihe. „Ich fahre doch nicht nach Berlin, nur um dort den Haufen zu vergrößern“, prahlte ich in einem benachbarten Partykeller, wo wir uns nach Tanzveranstaltungen trafen und gemeinsam feierten. Die Tochter des Hauses war mit einem Stasi liiert, flüsterte man sich im Dorf. Diese Bezeichnung für Nachwuchskader des Ministeriums für Staatssicherheit ist üblich gewesen bei uns. Schon als Kind hielt ich ihn für ein unbeschriebenes Blatt, denn er war ruhig und zurückhaltend. Mit seinem unauffälligen Äußeren konnte der Stasi keinem Menschen Angst einflößen. Als ich die neunte Klasse der Penne besuchte, legte er dort gerade das Abitur ab und gab mir wertvolle Tipps über einzelne Lehrer und deren Klassenarbeiten. Den wahren Grund seines Kriminalistikstudiums, die Karriere im obersten Kontrollorgan des Staates, erwähnte der Stasi nicht. Der Freund der Tochter des Hauses reagierte verzögert auf meine Prahlerei, was wohl am Alkohol lag. Schwankend erhob er sich vom Stuhl und blickte mich vorwurfsvoll an. Der Stasi zog seinen Ausweis aus der Tasche, hielt mir diesen vor das Gesicht und fragte, ob ich den Satz wiederholen würde. Was folgte, war Totenstille. Niemand traute sich, etwas zu sagen. Ich hatte mit meinem unüberlegten Satz eine Linie überschritten und keiner wusste, wie damit umzugehen war. Alle schwiegen, versteckten sich, um die Angst vor den Folgen einer eigenen Meinungsäußerung zu ertragen. Ich sah dem Stasi in die Augen und spürte, wie mein Gesicht rot anlief. Während die Gastgeberin noch versuchte, ihren Freund zu besänftigen, stichelte dieser munter weiter. Anscheinend erwartete er eine Reaktion von mir. Die anderen Gäste schauten still auf den Fußboden, um den Blicken des Stasi auszuweichen. „Das wird mir jetzt zu heiß hier“, antwortete ich wütend und lief die paar Schritte nach Hause. Nachts konnte ich nicht schlafen, weil ich Angst davor hatte, dass man mich in der Penne verpfeifen würde. Dann wäre mein Abitur dahin und ohne Abi durfte man nicht studieren. Ich befürchtete Verhaftung, Jugendwerkhof oder Knast. Den ganzen Vormittag lag ich im Bett und grübelte. Mittags besuchte mich mein Kumpel Hardy, der als Augenzeuge alles mitbekommen hatte. „Du hast doch nur ausgesprochen, was du gedacht hast, Paule!“ Genau da lag mein Problem. Man durfte nie offen sagen, was man wirklich dachte. Schweigen wäre besser gewesen, das hatte ich für einen Moment vergessen. „In der DDR existieren zwei Wahrheiten“, predigte mein Vater stets. Die erste, die man im Herzen trug, kursierte in den eigenen vier Wänden und durfte nicht nach außen dringen. Die andere Wahrheit galt für Schule, Arbeitsstelle und Partei. Überall traf man diese Doppelzüngigkeit bei uns an. Etwas zu wissen und nicht darüber reden zu dürfen, die eigene Meinung zurückhalten und lieber schweigen oder nur das Geforderte sagen. Man hatte eine Rolle zu spielen und viele machten mit. Bereits als Jugendlicher war ich genauso verlogen wie Erwachsene. Entweder belogen wir uns gegenseitig oder man belog sich selbst und hielt damit das kaputte System in unserem Staat am Leben. Das wurmt mich noch heute. Die politische Wende in der DDR wäre früher gekommen, wenn mehr Menschen den Mut gehabt hätten, sich die Wahrheit ins Gesicht zu sagen. „Der Stasi wird dich nicht verpetzen“, meinte Hardy. Sein ehrliches, aber naives Mitgefühl konnte mich nicht aufheitern. Würde mich der Stasi anzinken, um Pluspunkte für seine Laufbahn zu sammeln? Ich war mir nicht sicher und rechnete mit dem Schlimmsten. Der folgende Montag sollte endgültig Klarheit bringen.

Meine Eltern waren morgens im Stall, als ich meine Garderobe auswählte. Ich kleidete mich seriös, wollte die erwarteten Anfeindungen umgehen und verzichtete auf Jeans, Abzeichen und Aufnäher. Stattdessen entschied ich mich für eine braune Anzughose aus Präsent 20, einem Stoff aus Chemiefasern, den man zum 20. Geburtstag unserer Republik kreiert hatte. Dazu trug ich ein helles Oberhemd und eine beigefarbene Cordjacke von Jumo, dem Ausstatter für Jugendmode in unserer Republik. Die braunen Halbschuhe polierte ich, bis ich mich darin spiegeln konnte. Mir fehlte nur der Schlips und ich wäre selbst als Pauker durchgegangen. Die neugierigen Blicke auf dem Weg zum Bahnhof, die meine ungewohnte Verkleidung anzog, verunsicherten mich noch mehr. Ich spürte, dass dieser Montag nicht mein Tag werden würde. Im Zug geriet ich prompt in eine der eher seltenen Kontrollen und stellte entsetzt fest, dass meine Wochenkarte bereits abgelaufen war. Wütend warf ich das alte Ticket auf den frisch geölten Fußboden des Abteils. Mein rowdyhaftes Verhalten veranlasste den Schaffner, die Bahnpolizei am Zielbahnhof zu verständigen. Auf dem letzten Bahnsteig trainierte ein freundlicher Ordnungshüter mit mir, wie man einen ungültigen Fahrausweis zielsicher in den Papierkorb wirft. Der Bahnpolizist entließ mich mit der Maßgabe, eine neue Wochenkarte zu kaufen. Nun musste ich noch an den asozialen Elementen vorbei, die an der Ecke vorm Intershop auf milde Gaben der Kundschaft lauerten. Abwechselnd hielt einer der Gelegenheitstrinker seine Bierflasche gegen das erwachende Sonnenlicht und prüfte, ob der Inhalt noch für einen Schluck ausreicht. Sein Kumpel wedelte mit einem lilafarbenen Forumscheck, um seinen Reichtum zu zeigen. Ich bog um die Ecke in die Heinrichstraße und erkannte von weitem unseren Direktor, der auf der obersten Treppenstufe thronte wie Lenin vorm Olympiastadion in Moskau. Alle Schwerter samt Pflugscharen passierten den Schulleiter, sogar die rollenden Steine durften dieses Mal rein. Herr Doktor ignorierte sämtliche Embleme, denn er wartete nur auf mich. Obwohl ich auffällig unauffällig gekleidet war, verwehrte er mir den Zutritt ins Schulgebäude. „Küch, folgen sie mir ins Lehrerzimmer!“, fuhr mich der Pauker energisch von der Seite an. Im Sekretariat redete ein Mann, den ich noch nie gesehen hatte, auf den Parteisekretär unserer Schule ein, der Geschichte und Staatsbürgerkunde lehrte. Mein Eintreffen beendete den lauten Monolog. Der Unbekannte trug eine Kombination aus abgewetztem, grauem Cordstoff, ein weißes Oberhemd und eine weinrote Krawatte. Mit seiner grünen Studentenkutte konnte er nur ein Mitarbeiter unserer Sicherheitsorgane sein. Ich musste mich an die Stirnseite des Lehrertisches setzen, die mir wie eine Anklagebank vorkam. Mir schwante Böses, als der Unbekannte dem Doktor ein Blatt Papier übergab. Es handelte sich um das Protokoll von Samstagnacht, eine Seite in DIN A4, mit Schreibmaschine getippt. Der Ordnung halber erhielt ich eine Kopie auf Durchschlagpapier. Nach Verlesen des Tatbestandes verlangte der Direktor eine Stellungnahme von mir. Zunächst schwieg ich, weil ich nicht wusste, ob mit dem Begriff Vorkommnis die Nichtteilnahme an der Berlinfahrt oder die verbale Rechtfertigung dafür gemeint war. Mein Schweigen werteten die Richter wie ein Schuldeingeständnis. Die Äußerungen konnte ich nicht leugnen, die Anklageschrift lag vor mir auf dem Tisch. Die Unterschrift vom Stasi aus unserem Dorf fehlte. Stattdessen las ich einen anderen Namen mit Dienstgrad unter dem Bericht.

Innerlich triumphierend begann der Direktor, die Strafe gemäß Schulordnung vom 29. November 1979 zu verlesen. Danach verbot mir der Unbekannte unter Androhung ernsthafter Konsequenzen, den wahren Tatbestand offen kundzutun. Mit meinem Verhalten hätte ich genug Schaden für Eltern, Schule und Staat angerichtet. Meine Verfehlung war keineswegs die Nichtteilnahme allein, sondern auch die Begründung. Angeblich hätte ich meinen Platz in der sozialistischen Gesellschaft noch nicht gefunden. Nach der Moralpredigt geleiteten mich Direktor und Parteisekretär zum Klassenraum. Meine Mitschüler, die nichts Konkretes wussten, schauten mich fragend an, während ich offiziell getadelt wurde. Mit diesem Strafmaß bin ich glimpflich davongekommen, man hätte mich auch von der Schule verweisen können. Beim harten Kern der Klasse erntete ich Anerkennung für mein wiederholtes Anecken. Die Streber wandten sich demonstrativ von mir ab, wollten die eigene Karriere nicht gefährden. Ich habe zu wenig über die Konsequenzen meines Verhaltens nachgedacht, hatte leichtfertig Abitur und Studium aufs Spiel gesetzt. Insofern waren die drei Tadel die berühmten Schüsse vor den Bug, die mich zum Zurückrudern zwangen. Man handelte ständig in Angst vor negativen Folgen für sich selbst und andere. Diese Furcht war so tief in unserer Gesellschaft verwurzelt, dass man sich dessen oft nicht mehr bewusst war.