Hannes

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Kurz vor Mittag betrat ich eine alte, gediegene Buchhandlung, in der ich seit Langem nicht gewesen war, hatte dabei nicht die geringste Absicht, Bücher zu kaufen. Eine Weile stand ich vor dem Tisch mit den Neuer­scheinungen. Es wimmelte von Autoren und Autorinnen, Etablierten und Newcomers, Shoutingstars, die eben von potenten Verlagshäusern lanciert wurden. Poetenschwemme, eine nach wie vor ins Kraut schiessende Belletristik. Nichts gegen Belletristik, sofern sie etwas taugt, aber das meiste, man weiss es, kommt und vergeht. Ich dachte an meine eigene Schriftstellerei, und wie oft in Buchhandlungen überkam mich ein Gefühl der Ohnmacht.

Um diese Zeit herrschte in den Räumen eine gewisse Stille. Ich blätterte in einer Anthologie, als sich jemand näherte und neben mir stand. Obwohl ich sie gleich erkannte, überkam mich ein Gefühl des Irrealen. Ihr Gesicht vor mir, ein seidenes Halstuch, auf dem Kopf ein rotes Béret. Ich weiss nicht mehr, worüber wir redeten, erinnere mich nur, dass sie sehr erstaunt war, als ich sie fragte, warum sie mich, wie es Paolo erzählte, merkwürdig finde.

«Ich?», sagte sie. «Aber das stimmt doch nicht! Warum erzählt er so etwas? Ja, wir haben über Sie geredet, aber ich sagte ganz etwas anderes. Glauben Sie mir? Übrigens waren Sie an jenem Abend sehr still. Sind Sie immer so?»

Während wir gemeinsam hinausgingen, fragte sie, ob ich ihr einmal etwas vorspielen werde, irgendetwas, Klassik oder Jazz, vielleicht auch ein einfaches Volkslied. «Versprechen Sie es mir?» Die Art, wie sie mir dabei ins Gesicht schaute. Sie verabschiedete sich sehr rasch, mit Gruss an meine Familie. Ich sah sie die Strasse hinuntergehen, in der Menge verschwinden, irgendwo ihr rotes Béret. Beim Abschiednehmen hatte ich zuerst gemeint, ihre Handfläche, das heisst ihre Haut zu berühren, dann aber gemerkt, dass sie sehr feine Handschuhe aus weichem Wildleder trug.

Laut Telefonbuch wusste ich, wo sie ihre Physiotherapie-Praxis hatte. Eines Tages wartete ich fast eine Stunde, bis sie gegen sechs Uhr aus dem Gebäude trat. Ich wollte sie nur sehen, sonst nichts. Sie kam eine Steintreppe herunter, überquerte die verkehrsreiche Strasse, fast ohne sich umzublicken. Auf dem Parkplatz gegenüber blieb sie stehen, suchte etwas in ihrer Handtasche, ihre Silhouette im Gegenlicht, das bewegte Haar. Endlich hatte sie es gefunden, stieg in ein dort geparktes Auto und fuhr davon.

***

Du sollst nicht schwören, ich weiss. Und doch hatte ich, nach zwei unglücklichen Liebschaften, hoch und heilig geschworen: Nie wieder Frauen!

Bei Jovita H., die mich vielleicht geliebt hätte, war es nur eine Blick-Bekanntschaft gewesen, ein Lied ohne Worte, weil ich, damals noch Gymnasiast, nicht den Mut hatte, sie einmal anzureden, ganz schlicht und einfach, von Schüler zu Schülerin. Sie war von mittlerer Grösse und anmutiger Schlankheit. Ich sehe noch ihre Gestalt, sehe den Schulplatz, wo wir in den Pausen unter Kastanienbäumen auf und ab spazierten, scharenweise, sodass man immer wieder ein bisschen ausweichen musste. Ich suchte sie mit den Augen, entdeckte irgendwo ihren braunen Mantel. Ich erinnere mich, wie sie im Vorbeigehen einmal den Kopf wandte und mir ins Gesicht schaute. Oder wie sie, mit Freundinnen die Treppen hinaufsteigend, nahe an mir vorbeikam und mich flüchtig grüsste. Oder eines Abends im Theaterfoyer, wie sie am Saaleingang im Programmheft blätterte, einmal flüchtig her­überschaute, als warte sie, dass ich sie anrede. Doch da erschien eine Frau, vielleicht ihre Mutter, mit der sie, kurz zurückblickend, in den Saal ging. Ich war immer zu langsam, zu scheu, zu zaghaft. Ich hätte nicht Angst gehabt, in den Krieg zu gehen, doch hier war der Feind in mir selbst.

Während der Sommerferien wünschte ich den Schulbeginn herbei, um sie wiederzusehen, entschlossen, endlich einmal meine Befangenheit zu überwinden. Doch Ende August, als man wieder auf dem Schulplatz spazierte, suchte ich sie vergebens. Ich kannte einen ihrer Klassenkameraden, erkundigte mich wie nebenbei nach Jovita H. – Jovita? Die sei doch gemütskrank, sagte er, als wäre das allgemein bekannt. Sie habe wieder einmal einen Schub und müsse eine Zeit lang aussetzen; das sei bei Depressiven eben so, da könne man nichts machen.

Ich sah sie nie wieder. Sie befand sich in einer Berner Klinik, machte in zuverlässiger Begleitung ihren täglichen Spaziergang. Wiederholt wünschte sie, die hohe Kirchenfeldbrücke zu sehen, weil diese, wie sie sagte, von einem ihrer Vorfahren gebaut worden sei. Man ging nicht darauf ein, Brücken standen nicht auf dem Programm, schon gar nicht die Kirchenfeldbrücke. Doch da sie immer wieder damit kam und sich ihr Zustand deutlich gebessert hatte, erfüllte man ihr den Wunsch. Zwei Pflegerinnen begleiteten sie hin. Irgendwo in der Mitte blieben sie stehen. Jovita schaute in die Tiefe, schien dabei von ei­nem Glücksgefühl ergriffen. «Wie wunderbar», sagte sie, «so hoch oben, als schaute man vom Himmel auf die Erde hinab.» Plötzlich versuchte sie zu fliehen, die Schwestern hielten sie fest, doch sie drehte sich leicht herum, schlüpfte spielend aus ihrem Mantel und warf sich übers Geländer.

Natürlich hatte ich die Szene nicht miterlebt, es wurde mir nur davon erzählt. In Gedanken war ich dort, sah einen nebligen Dezembermorgen, die leicht geschwun­gene Brücke, das Geländer, die Silhouetten dreier Frauen. Dann diese Sekundenszene, die fallende Gestalt – ein flüchtiger Flash vor dem grauen Winterhimmel.

Verliebt war ich eigentlich immer, Eros, der Übermäch­tige, begleitete mich wie ein anhänglicher Dämon. In ei­nem bestimmten Alter hatte ich meine Scheu etwas überwunden, nur wusste ich, dass ich nicht unwiderstehlich war. Auch für Gertrud nicht, die ich, (ich war damals acht­undzwanzig), an der Uni kennenlernte. Tochter aus gutem Hause, ihr Vater, ein Deutscher, Finanzbeamter in höherer Stellung. Sie studierte Theologie, daneben deutsche und französische Literatur. Wir besuchten zusammen eine Vorlesung über Heinrich von Kleist. Ich machte meine Notizen, neben mir die sympathische Person, ihre feingliedrigen Hände und ihre flüssige Schrift. Sie schrieb ununterbrochen. Einmal, da ihr irgendein Detail (Kleists gelegentliches Stottern) entgangen war, fragte sie mich, ob ich das notiert hätte? Ich schob ihr mein Heft hinüber, sie schrieb ab, ich wartete geduldig, während sich der Hörsaal langsam leerte.

Später sassen wir zusammen in der Uni-Bar, tranken Kaffee und unterhielten uns über Kleist und seinen Selbstmord. Mich beschäftigte die Frage: Woher die Todesbesessenheit dieses Deutschen? Wieso suchte er jemand, der bereit wäre, mit ihm zu sterben, und warum eine Frau? Gertrud meinte, das seien eben seine inneren Spannungen gewesen, seine Zerrissenheit, das Leiden an sich selbst und am Leben überhaupt; vielleicht auch der Wunsch nach Rache an seinem Leben, mit welchem, wie er meinte, etwas nicht stimmte; dazu seine Einsamkeit und die Sehnsucht nach Liebeserfüllung wenigstens im Tode.

Todesgedanken waren auch mir nicht fremd, doch gerade im Augenblick wünschte ich ganz und gar nicht zu sterben. Ich hatte mich noch nie mit jemandem so gut un­terhalten. Kaum trafen wir uns, ergab sich das Gespräch wie von selbst. Wie mein Freund Leo gehörte auch sie zu den seltenen Menschen, die auch Fragen stellen; und weil sie so wunderbar zuhören konnte, strömten mir die Worte zu. Sie sah gut aus, war immer korrekt, das heisst schlicht und geschmackvoll gekleidet, hatte vielleicht etwas leicht Puritanisches. Ihr Haar immer straff nach hinten gekämmt.

Ich begann, mich für Theologie zu interessieren, besuchte mit ihr ein Kolleg über Jeremias, tags darauf eine Doppelstunde Heinrich von Kleist. Ich betrat beizeiten den Hörsaal, besetzte jeweils einen Platz neben mir, sah dann, wenn sie mit andern hereinkam, wie sie mich mit den Augen suchte und je nachdem leicht mit der Hand winkte. Manchmal wanderte ich durch das Gebäude, in der Hoffnung, irgendwo zufällig auf sie zu treffen. Einmal lud ich sie zu mir nach Hause ein, spielte ihr auf ihren Wunsch etwas vor. Dass sie nachher, kaum dass wir eine Tasse Tee getrunken hatten, gleich aufstand und sich verabschiedete, fand ich bei ihr nicht ungewöhn­lich.

Obwohl wir uns zweimal wöchentlich sahen, korrespondierten wir miteinander. Ich schrieb ihr jeweils am Donnerstagabend, sie erhielt meine Post am Samstagmor­gen, ich die ihrige am Montag. Als ich ihr einmal mein Leiden an meiner nicht gerade vollkommenen Körper­lichkeit beichtete, antwortete sie mit einem sehr schönen Brief, versicherte mir, meine angebliche Unzulänglichkeit sei reine Einbildung, und im Übrigen, das müsse ich ihr glauben, spiele das für sie nicht die geringste Rolle. Im Gegenteil, das mache mich nur menschlicher – das erinnere sie (jetzt dürfe sie es sagen) an den alttestamentlichen Jakob, der eine Nacht lang mit dem unbekannten Mann kämpfte, wobei ihm dieser Unbekannte das Hüftgelenk verrenkte, sodass er fortan hinkte. Aber er hatte Gott von Angesicht zu Angesicht gesehen!

Ich fand das grossartig: eine Niederlage als Gnadenakt! Es war der schönste Brief, den ich je erhalten hatte, und genau besehen ein verschlüsselter Liebesbrief. Sie schenkte mir ein neues Lebensgefühl, ich kam durch sie zu mir selbst. Ich dachte an Jakob, an seinen nächtlichen Kampf mit dem Allmächtigen, der ihm mühelos die Hüfte ausrenkte. Ich dachte ständig an Gertrud, ich sehnte mich nach der nächsten Begegnung. Und zugleich (dies der ewige Schatten) hatte ich Angst, sie zu verlieren.

Es kam der Tag, an dem sie mich zum Mittagessen einlud, ich denke, vor allem um mich ihrer Familie vorzustellen. Offen gestanden hatte ich ein ungutes Gefühl, wobei ich nicht weiss, ob ich das Kommende vorausahnte oder ob mein negatives Gefühl das Unheil herbeiführte. Der Vater, das wusste ich, war irgendein grosses Tier in der Finanzwelt, ein bebrilltes Schwergewicht, korpulent, gut gekleidet und unnahbar. Ich kam da in ein fremdes Klima, ich spürte, dass ich nicht gefiel, weder ihm noch den drei Geschwistern von Gertrud – das heisst zwei Schwestern und einem blasierten Bruder. Wir waren zu Hause auch nicht die Letzten, doch hier duftete es gera­dezu penetrant nach Vornehmheit, alles so stinknobel, dass es mir die Kehle zuschnürte. Ich hätte nie gedacht, dass es in der demokratischen Schweiz so etwas geben könne. Während des Essens wurde fast nicht geredet, je­denfalls nicht mit mir. Ich fühlte mich als Fremdkörper, der hier nichts zu suchen hatte; im Gegensatz zum Hausherrn und dem jungen Schnösel eher salopp gekleidet, ohne Krawatte, mit abgewetzter Manchesterjacke und offenem Kragen.

 

Ich ass mit verhaltener Wut, hatte dabei auf einmal Angst, dass ich mein Weinglas umwerfen könnte. Ich dachte an Paolo, für den dieses Milieu kein Problem gewe­sen wäre; der hätte gleich losgelegt und die Tafelrunde ­beherrscht, hätte dem Hausherrn womöglich einen Vortrag über Geld und Finanzwesen gehalten. Für mich war es die kälteste Mahlzeit meines Lebens. Einmal sah ich, wie die Schwestern und der Bruder miteinander flüsterten und dann ein Lachen unterdrückten, was ich – vielleicht zu Unrecht – auf mich bezog. Der Vater, humorlos, nahm mich nicht zur Kenntnis, kein Blick, geschweige denn eine Frage. Die Mutter schien menschlicher, hatte hellblaue Augen und ein zartes Madonnengesicht, aber das war auch alles. Sie wirkte wie eine verheiratete Sklavin. Gertrud reichte mir die Platten, nur war mir der Appetit vergangen und mit ihm mein Schluckvermögen. Vermutlich war ich kreidebleich, wobei sich mein Gesichtsausdruck auf sie übertrug, ich sah ihre beklommene Miene. Und dann passierte es tatsächlich, dass ich mein Glas umwarf. Es schien mir dabei, als täte es meine Hand ganz von sich aus und wie spielerisch. Das Glas war allerdings schon fast leer, doch es genügte, um das weisse Tischtuch zu beflecken. Ich sagte: «Oh, Pardon!», während das Dienstmädchen in die Küche eilte, mit Salz ­zurückkam und es auf den roten Klecks streute. Gertrud flüsterte, das sei nicht so schlimm. Mir schwindelte, und ich war nahe daran, auch das Mineralwasser auszuleeren, absichtlich. Doch es drängte mich, hier so schnell wie möglich zu verschwinden. Als der Kaffee serviert wurde, stand ich auf und erklärte, ich müsse jetzt leider gehen; ich dankte für die Mahlzeit und entfernte mich, ohne Händedruck. Gertrud folgte mir die Treppe hinunter. «Gehst du schon?» Unten standen wir ein paar Sekunden wortlos in der Tür. Vermutlich wussten wir beide, dass es aus war.

Ich sah sie nur mehr von weitem, einmal auf der Strasse, einmal an einem Nebeneingang der Universität. Eines Abends spät läutete das Telefon, doch als ich abnahm, vernahm ich nur ein Schweigen. Zwei Tage später kam ein Brief. Ich las:

«Ich habe lange auf Dich gewartet. Ich sehnte mich nach Dir und hatte zugleich Angst. Es bricht mir das Herz, wenn ich Dir jetzt sage, dass wir Abschied nehmen müssen. Leider sind meine Angehörigen der Meinung, dass Du nicht in unsere Familie passt. Ich bin zu Tode betrübt, nur haben wir einen starken Familiensinn, und Du wirst verstehen, dass ich mit den Meinen nicht brechen möchte.» Und am Schluss: «Ich weine und bete, möchte zugleich auch Dir ans Herz legen, im Gebet Trost und Kraft zu suchen. Gott sieht uns» usw.

Vielleicht sah uns Gott, aber wir sahen uns nicht mehr. Der Schmerz sass wie ein rostiges Messer, ein Schmerz mit Kleist-Gedanken, zugleich Nahrung für die Zweifel an mir selbst. Man hätte sterben mögen, und zugleich klammerte man sich an dieses verdammte Leben.

Eine spätere Bekanntschaft mit einem reizend nieder­trächtigen Bettweibchen war auch nicht dazu geeignet, mich vertrauensvoller zu stimmen. Ich sagte mir: «Schluss! Mögen andere mit diesen Zauberwesen selig werden, ich gehöre offenbar nicht dazu.»

Deshalb jetzt meine Angst vor Franziska. Zumal bei ihr etwas Unberechenbares hinzukam.

***

Speisereste werfe ich nie in den Abfallkübel, sondern in den Garten, auf die Zwergföhre unter dem Balkon, in deren Gezweig dann Spatzen und Meisen pickend umherhüpfen, hie und da auch ein Rotkehlchen als Einzelgänger. An kalten Tagen sind plötzlich Dohlen da und stürzen sich auf den Baum, dass er ganz schwarz wird. Ich stehe dann am Fenster und schaue zu. Manchmal hockt ein Rabe auf dem Dachfirst gegenüber und wartet, dass ich etwas aufs Balkongeländer lege. Solange ich draussen bleibe, kommt er nicht, schaut auch nicht herüber – das heisst, bei Vögeln weiss man nie genau, wo sie hinschauen; erst wenn ich verschwinde, gleitet er herunter und holt den Brocken.

Vögel sind mir lieber als Paparazzi.

Während ich abends die Zeitung las, erschien Sonja, stützte sich auf meine Schulter und flüsterte mir ins Ohr – so wie man Kindern eine frohe Überraschung verkündet: Franziska und ihre Eltern seien oben; sie würden bei uns essen und dann bis zur Mondfinsternis bleiben. – «Kommst du?» Ich sagte, ich müsse nur noch etwas fertig lesen, worauf sie sich entfernte. Ich legte die Zeitung weg, Blick zum Fenster hinaus. Ich wusste, dass die Eltern ein paar Leute im Hinblick wegen dieser Mondfinsternis eingeladen hatten, aber nicht, dass auch die Schnölls dabei waren.

Gerade als ich verschwinden wollte, kam Sonja wieder. «Wohin gehst du?» Ich antwortete, ich hätte keinen Hunger und vor allem keine Lust, jetzt mit Gästen zu schwatzen.

«Aber dann wenigstens heraufkommen und die Leute begrüssen.»

Sie fasste meinen Arm: «Bitte, sei so gut.» – «Nein, ich mag nicht.» Sie wurde energisch: «Hannes, du kommst jetzt mit mir, verstanden!»

Ich stieg mit ihr ein paar Stufen hinauf, blieb dann stehen und schrie sie an: «Nein, verdammt noch mal! Ich sage Nein, verstehst du?» Sie starrte mich an, versetzte mir einen Schlag. Ich liess sie stehen und machte mich davon.

Am Bahnhof betrat ich das Buffet, zweite Klasse, bestellte ein Bier und einen St. Galler Schübling mit Rösti. Ich mochte das Lokal, auch die Leute um mich herum – Hiesige und Fremde, Serviererinnen, Kellner, Asylanten, ein paar Bähnler. Ich kannte sie nicht, aber es überkam mich ein Grundgefühl der Nächstenliebe, als gehörten wir, Glückliche und Geschlagene, alle zueinander.

Man hatte mir eine ordentliche Portion gebracht. Ich liess mir Zeit, trank zuletzt noch einen Kirsch und einen Espresso. Später zahlte ich, verliess das Lokal, wanderte bis ans Ende eines Bahnsteiges, schaute zu, wie Arbeiter bei Lampenschein Gleisschwellen auswechselten. Irgendwo, bei Funken und blauer Flamme, wurde geschweisst. Eine Weile unterhielt ich mich mit einem Rangierer, auch er mit Helm und orangefarbener Jacke. Ich fragte ihn, ob das nicht gefährlich sei, dieses Auf- und Abspringen bei fahrendem Zug. Er antwortete, man müsse eben aufpassen, aber schliesslich sei das ganze Leben gefährlich. Eben nahte eine Rangierlok mit zwei Wagen, er passte, sprang auf, winkte kurz mit der Hand, dann war er weg.

Eigentlich wollte ich heimgehen, freute mich bereits auf einen alten Film mit Jean Gabin, dem ich offenbar ähnelte, doch der Dämon führte mich sachte zum Elternhaus. Nach kurzem Zögern ging ich hinein, stieg die Treppe hinauf. Im Salon fand ich die geladenen Gäste – Möcklin und Frau, Fräulein Lina Rauch, Ernesto Plözzer, Philipp, Isidor Turell, Dr. Rehberg, ferner Jürg Henlin, den ich nicht besonders mochte – ein zwielichtiger Spötter mit randloser Brille, Werbefachmann beim Fernsehen. Dann eben Franziska Schnöll, ihre Eltern und ihre blonde Patin. Frau Schnöll begrüsste mich überschwänglich: «Wie schön, Sie endlich kennenzulernen; wir haben schon so oft von Ihnen gehört, und da möchte man doch einmal erfahren, was das für ein Mensch ist und wie er aussieht.»

Ich setzte mich zu Sonja. Paolo wollte mir Wein einschenken, ich hielt das Glas hin, worauf er mich zurechtwies: «Stelle es bitte auf den Tisch, man schenkt nicht ein mit dem Glas in der Luft.» Hierauf Sonja: «Nicht mit dem Glas in der Luft – was heisst das? Musst du die Leute massregeln, kaum dass sie hier sind?» Ich nahm ihm die Flasche aus der Hand und schenkte mir selber ein.

Franziska näherte sich, aber ohne Eile, stiess kurz mit mir an und entfernte sich wieder. Ich unterhielt mich mit ihren Eltern, genau gesagt mit ihrer Mutter. Sie erzählte von ihrem verwaisten Bechstein-Flügel, von ihrem Ferienhaus im Tessin, das mir zu jeder Zeit offen stünde, falls ich einmal ungestört arbeiten möchte. Sie hatten es vor Jahren erworben, um das Geld, das ihnen buchstäblich zum Fenster hereinflog, sinnvoll zu investieren. Ihr Mann, erzählte sie, hatte am Zürichsee das Grundstück des Grossvaters verkauft und dafür eine Traumsumme kassiert. Sie hätte nie gedacht, dass man so schnell reich werden könne. Und hierauf gleich noch ein zweites Glück, da ein gefeuerter Tessiner Regierungsrat Geld brauchte und ihnen sein Ferienhaus am Lago Maggiore verkaufte … Sie plauderte drauflos, während ihr Mann vergeblich abzulenken versuchte.

Lille befand sich mit ein paar Gästen im Nebenzimmer. Franziska, das Glas in der Hand, wanderte umher, redete bald mit diesem, bald mit jenem, aber immer nur kurz und unverbindlich. Einmal setzte sie sich an den Flügel, klappte den Deckel auf und schlug leise ein paar Töne an.

Ihre Patin, pensionierte Krankenschwester, eine füllige, noch gut erhaltene Dame mit blond gefärbtem Haar, hatte sich zu mir gesetzt und erklärte mir, warum sie ledig geblieben sei. Natürlich fühle sich eine ledige Frau oft einsam, vor allem sonntags, aber dafür gebe es doch viel Schönes. Sie sei immer glücklich gewesen, neben dem ­Beruf auch Zeit für Bildung und Kultur zu haben. Kultur sei für sie das Wichtigste, vor allem klassische Musik und Literatur. Sie las Frisch und Dürrenmatt.

Vater unterhielt sich mit Fräulein Rauch, seiner Geschäftsleiterin. Irgendwo wurde gestritten; Plözzer und Rehberg schienen nicht gleicher Meinung zu sein. Wegen der blonden Dame schnappte ich nur vereinzelte Worte auf: – Sie als Kapitalist, mit Ihren Häusern, wie wollen sie das wissen … Meine Häuser haben damit nichts zu tun. Ich weiss, wovon ich rede … Da bräuchte es schon etwas mehr Sachkenntnis … Die habe ich, Herr Rehberg, doch Sie argumentieren nur mit gängigen Slogans … Jeder schien ­bemüht, den andern so schnell wie möglich kleinzukriegen, bis Plözzer mit der Hand abwinkte, aufstand und sich zum Buffet begab.

Für Philipp, den Exschwager, war es klar, dass heute die Fähigen immer mehr den Unqualifizierten weichen mussten. «Aufstand der Massen», sagte er. «Was ist das für ein Land, das zum Kasino von skrupellosen Bankern geworden ist, von Abzockern, die ihre Arbeitstiere ent­lassen und selber Millionen kassieren.» Er fluchte über popu­listische Politiker, über Scheinprozesse und Kuschel­justiz, über kraftlose Richter, die Angst hatten, einem Krimi­nellen wehzutun. «Ihre lächerlichen bedingten Strafen, Leute, die halb zufällig in ein Richteramt hineinrutschen und dann dort sassen; wo die Tüchtigen fehlen, muss man Mittelmässige nehmen, und so soll man sich nicht wundern, dass unser Land immer mittelmässiger wird.»

Ich wurde von Isidor Turell abgelenkt, der mir sein neues Gedichtbändchen geschickt hatte und nun um eine Rezension bat; er sagte, ich verstünde ihn besser als irgendjemand. Ich nickte nebenbei, obwohl mich Lyrik im Moment weniger interessierte als Philipps Klagen. Wenn jemand gut flucht, ist das poetischer als gut gemeinte Verse. Jetzt redete er vom Vitalitätsverlust und der rapid abnehmenden Zeugungsfähigkeit unserer westlichen Rasse.

Paolo hatte sich genähert: «Ja, ja, mein Lieber, nur ist das schon längst keine Rasse mehr. All diese Bürger, die sich immer mehr zum Verwechseln gleichen, die weder leben noch leiden und die auch nicht mehr lieben; die könnten auch niemanden aus Leidenschaft umbringen, wie Othello seine Desdemona oder Woyzeck seine Marie. Stattdessen gibt es heute nur noch Konsumenten, Spekulanten, Manager und Showmaster …»

Henlin fragte ihn: «Und zu welchen gehörst du?»

Franziskas Mutter hatte zugehört: «Verzeihung, Paolo, aber Gattenmorde gibt es noch immer. Zum Beispiel letzthin im Tessin, unweit von uns, da wurde eine bildschöne Frau von ihrem Mann tyrannisiert, bis sie es nicht mehr aushielt. Sie wohnten bei ihrem Onkel, und als der eines Nachts Lärm hörte und nachschaute, was es gab, fand er in der Küche die Frau damit beschäftigt, ein blu­tiges Messer zu waschen. Auf seine Frage, was los sei, erklärte sie ihm ganz ruhig, sie habe ihn soeben im Schlafzimmer umgebracht, jetzt könne sie endlich wieder atmen. Der Onkel ging hinauf und fand den Mann blutüberströmt im Bett …»

Paolo schenkte ein. «Grässlich, grässlich», sagte er. «Trinken wir, Freunde, trösten wir uns mit diesem Zaubersaft, stossen wir miteinander an und schauen wir uns offen in die Augen. Ich bin froh, dass ihr alle da seid – un­ser sarkastischer Henlin, unser wackerer Möcklin mit ­seinem Riesenschädel, unser landesweit anerkannter Lyriker, unser Prediger Grüning, unsere süsse Krankenschwester … Und zum Glück, Freunde, ist Franziska noch da. Ohne Franziska würde ich auswandern. Gaudeamus igitur – in vino veritas, ergo bibamus.»

 

Lille bat Vater, sein Erlebnis mit der japanischen Geigerin zu erzählen. Sie selber zeigte ein paar Aufnahmen der Kirche von Ronchamps. Jemand erzählte von Le Corbu­sier.

So ging der Abend hin.

Um halb zwölf erwartete man die Mondfinsternis. Paolo erklärte Frau Schnöll, wie eine Mondfinsternis zustande kommt. Während sich die Gesellschaft in den Garten begab, berührte Rehberg meinen Arm: «Wie geht es, mein Lieber? Sie sind heute sehr still. – Wie gefällt Ihnen das Fräulein?»

Es hatte am Abend ein bisschen geregnet, nun war der Himmel wolkenlos, der Mond silberhell. Lille summte «Der Mond ist aufgegangen», Vater wusste, wie weit er von uns entfernt ist und wie lange sein Licht braucht, um die Erde zu erreichen: «Jetzt müsst ihr dann aufpassen, es ist genau neunundzwanzig vor zwölf, incipit comoedia.» Tatsächlich zeigte sich gleich darauf am linken Rand des Gestirns eine dunkle Scharte. Sonja rief: «Papa, du bist fabelhaft!» – «Das ist alles Astronomie», sagte er, «ich habe nur meine Uhr genau gestellt.»

Der Fleck drang unmerklich in die helle Scheibe vor. «Wie schön», sagte Lille, «die runde Form unserer lieben Erde.» Frau Schnöll verstand nicht: «Wieso unserer Erde?» – «Natürlich ist das die Erde», sagte Franziska, «Paolo hat es uns ja erklärt.» – «Aber du behauptest doch nicht, ich sei jetzt auf dem Mond!» – «Nein, du bist höchstens dahinter.» Jemand fragte sich, welcher Kontinent seinen Schatten dort hinaufwarf. Paolo erklärte, das müsse Neuseeland sein. Sonja: «Wie du das weisst!» Rehberg halblaut zu mir: «Er weiss tatsächlich alles.»

Nach und nach merkte man, wie das Mondlicht um uns blasser wurde. Vater hatte das Scherenfernrohr aufge­stellt, alle guckten der Reihe nach hinein, zuerst die Gäste – Fräulein Rauch, Franziska und ihre Eltern, Plözzer, dann die Dame, die Frisch und Dürrenmatt las. Zuletzt die Eltern, Sonja und ich.

Es war seltsam: das vertraute Gestirn schien in diesem Fernglas wie verändert, teils dunkel, teils in einem matten Rotgelb, dazu gross und ganz nahe – schön und unheimlich, als befände man sich mit ihm draussen in einem heimatlosen Weltall. Franziska näherte sich, fragte, ob sie noch einmal schauen dürfe. Ich gab ihr den Platz frei, sie guckte hinein, sagte: «Ich finde es fantastisch. Sie auch?»

Eine Weile plauderte ich mit Isidor Turell, fragte ihn, wie er als Dichter so etwas erlebe. Er zuckte die Achseln: «Ach, weisst du, erleben … Manchmal erlebe ich überhaupt nichts mehr. Mit zunehmendem Alter muss ich alles formulieren, um etwas zu empfinden. Das ist nicht wie bei dir, du spürst das Leben noch hautnah.»

Unterdessen war der Mond schon fast zugedeckt, nur am rechten Rand blieb noch eine helle Sichel. Ich hatte Lust auf Kaffee. Während ich auf das Haus zuging, rief mir Paolo nach: «Eh, Gaspard de la nuit, haust du wieder ab? Oder spielst du die Mondscheinsonate?»

Drinnen hatte man die Lichter bis auf eines gelöscht. Ich sass im Halbdunkel, rauchte eine Zigarette und trank kalten Kaffee. Ich dachte an die Möglichkeit, dass sie kommen könnte, wusste dabei nicht, ob ich es wünschte oder nicht. Auch in mir war Mondfinsternis, reizvoll und ein bisschen beklemmend. Nach einer Weile erschien sie tatsächlich, ihr Schatten am Fenster vorbei, ihre Silhouette in der Tür. Sie kam näher, fragte mich, ob mir etwas fehle?

«Wieso? Was sollte mir fehlen?»

Sie setzte sich, und als ich die Stehlampe hinter mir anzünden wollte, bat sie: «Nein, bitte, lassen Sie es, so ist es schöner. Ich hätte einen Wunsch – würden Sie mir etwas vorspielen? Aber Sie müssen es tun, solange wir allein sind. Bitte, Hannes, wenigstens etwas Kleines.»

Ich setzte mich an den Flügel, begann mit zwei verhal­tenen Arpeggien. In meiner Vorstellung sehe ich mich am Instrument sitzen, scheinbar gesammelt, hinwegschauend, auf Eingebungen lauschend – Beethoven redivivus. Ich modulierte ein paar Akkorde und Tonartenwechsel, alles pianissimo, liess hierauf im Diskant eine Melodie entstehen, das bekannte Frühlingslied, dazu im Bass dahinschreitende Begleitakkorde. All dies halb improvisiert und zu Hause ein bisschen eingeübt. Sie begann mitzusummen – der Mai ist gekommen, hm hmm hm hm – da bleibe, wer Lust hat, hm … hmm – Die Wolken sie wandern … «Wie eigenartig», sagte sie, «bekannt und doch völlig neu. Hannes, da steigt unsere ganze Jugend herauf. So schön, dass man weinen könnte.»

Über den Flügel hinweg sah ich Sonja durch die Tür hereinschauen und wieder verschwinden. Ich variierte das Thema, improvisierte einen Übergang vom Monat Mai zu Debussys Clair de lune. Franziska setzte sich nahe an den Flügel, einen Arm aufstützend, wobei ihr Haar die untersten Tasten berührte.

Doch allmählich merkte man, wie es draussen heller wurde, der Mond mochte wieder zum Vorschein kommen, das liess sich nicht verhindern.

Ich hielt inne: «Ein altes, aber noch immer ein gutes Instrument; ich mag diesen abgelebten Klang; auch den Namen Bösendorfer. Ein poetischer Name, finden Sie nicht?»

Statt darauf zu antworten, flüsterte sie: «Sie sind ein merkwürdiger Mensch. Ich möchte einmal gern in Sie ­hineinschauen können.»

Die Fenster schimmerten wieder heller, man hörte Stimmen, etwas Gelächter. Sie kamen zurück.

Ich erinnere mich, wie ich am nächsten Morgen einen Blumenladen betrat, drei Rosen kaufte und Franziskas Adresse angab, wie ich zahlte und davonging, dann bald wieder zurückkam und die Bestellung rückgängig machte. Auch daran, wie sie mich noch am gleichen Tag anrief, um mir für den Abend zu danken. Musik sei ihr noch nie so tief ins Herz gedrungen, sagte sie, alles habe noch im Schlaf nachgetönt. Sie entschuldigte sich für ihre Frechheit, mich einfach so anzurufen. «Können Sie mir das verzeihen?» Ihre Stimme wie ein dunkles Raunen.

Oder wie sie an einem regnerischen Tag, als ich das Büro verliess, unweit des Hauses auf mich wartete. Ihr rostfarbener Regenmantel, ihr Schirm, das rote Béret. Ich lud sie zum Mittagessen ein. Wir betraten ein nahe gelegenes Speiserestaurant, doch drinnen zögerte sie, schaute auf ihre Uhr: «Ich glaube, die Zeit reicht nicht – in einer halben Stunde muss ich in der Praxis sein. Eigentlich wollte ich Sie nur sehen. Verstehen Sie?» Sie zog mich sachte in die Garderobenische, drückte ihr Gesicht an meine Schulter, worauf sie sich umwandte und verschwand.

Eine geraume Zeit lang sah ich sie nicht mehr. Ich fragte mich, ob sie verreist war oder unterdessen jemand anderen getroffen habe. Unsere Begegnung mit Mondfinsternis und Frühlingslied nichts als ein Intermezzo? Vielleicht sogar besser so, dachte ich, vielleicht besser, dass ich sie nicht mehr sehe. Zugleich spürte ich den Stachel.

An irgendeiner Jubiläumsfeier meiner Schule traf ich die einstigen Klassenkameraden, unter anderem auch Leo, dazu ein paar altersgraue, verwitterte Lehrer. Das Gebäude wimmelte von Leuten, die Unterrichtszimmer waren festlich geschmückt, in der Eingangshalle konnte man essen und trinken, in der Aula wurde getanzt.

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