Märchen aus meinem Luftschutzkeller

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„Arschgeige. Nicht mal am Samstag lässt einen die blöde Kuh in Ruhe. Wenn du wüsstest, wie die Alte uns auf den Sack geht. Die hat hier schon Generationen von Polizisten verschlissen.“

„Krasse Omi“, sagte Serhij mitfühlend.

Er raffte sich auf und erhob sich mühsam, um sich auf den Weg zu machen, zuerst zur Haltestelle und dann nach Hause. Aber die kräftige Polizistenhand hielt ihn zurück.

„Moment mal, Kumpel, ’n Fünfer wär eigentlich ganz angebracht.“

„Wofür das denn, verdammt?“, fragte Serhij verwundert.

„Na hör mal, schließlich haben wir wegen dir Benzin verfahren, dir Wasser gekauft, einen Verband gemacht und deine Kotze weggewischt.“

„Ja, stimmt schon …“

„Na, siehst du. Ich will doch gar nicht viel. Eine kleine Entschädigung. Alles ganz fair.“

„Wie bei den Wikingern, ich weiß schon“, sagte Serhij und lächelte schief, weil er dieses seltene Wort heute zum zweiten Mal hörte. Er warf einen zerknitterten Fünfer auf die Bank und torkelte zur Haltestelle.

Wohnung 13
Revolte

„Wie denn?“

„Sieh’s dir selbst an.“ Der ältere der beiden Männer zog ein Schubfach auf und warf einen Stapel Dokumente auf den Schreibtisch.

„Was ist das?“ Über den Tisch gebeugt, schob Raschid die Papiere zusammen und richtete sie an der Tischkante zu einem akkuraten Stapel. Ordnung war ihm wichtig.

Machmed zündete sich eine Zigarette an und rannte in die Küche, um den kurz zuvor aufgebrühten Tee zu holen. Er schickte den Rauch mit einem so glücklichen und geheimnisvollen Blick in Richtung Decke, dass Raschid ihn kopfschüttelnd anschaute und sich dann wieder den Papieren widmete. Irgendwann reichte es ihm und er schob die Unterlagen wieder seinem Kumpel zu.

„Schluss mit dem Zirkus. Ich kapier bloß, dass es irgendein juristisches Dokument ist. Mein Ukrainisch ist ziemlich mau, wie du weißt. Was ist das?“

„Das, mein Lieber, ist unser Ticket in eine glückliche Zukunft.“

„Hör auf mit dem Gelaber!“

„Guck doch mal richtig hin!“

Machmed griff noch einmal in das Schubfach und holte einen broschierten Stadtplan heraus. Er blätterte, fand die Seite mit dem richtigen Stadtteil und legte sie aufgeklappt auf den Tisch. Zwei Wuschelköpfe beugten sich über die Karte.

„Letzte Woche habe ich mich mit Zhorik getroffen. Kannst du dich an den noch erinnern?“

„Ist das der Hirsch von den Märkten? Klar erinnere ich mich an den.“

„Genau der. Der vor ein paar Jahren die ganzen Märkte in Makijiwka aufgekauft hat. Scheiß Monopolist.“

„Und weiter?“

„Na, der sitzt doch seit letztem Herbst für die Regierungspartei im Stadtrat. Im Frühjahr wollte er unsere Leute irgendwie übern Tisch ziehen, die waren kurz davor, ihn abzustechen. Und ich hab ihn rausgehauen.“

„Stimmt, da war was.“

„Also, mit dem habe ich mich letzte Woche getroffen und ihm gesagt, dass ich auf seinem Markt einen großen Laden bauen will. Und dass ich Baugrund brauche.“

„Auf der Puschka?“

„Exakt. Die liegt für uns günstig. Super Platz.“

„Und er? Er hat doch nicht etwa verkauft?“

„Erst hat er ein bisschen rumgezickt, von wegen da gäb’s ein juristisches Problem, ich als Machmed Sultanow könne keinen ukrainischen Grund und Boden erwerben. Dann hab ich ihm klargemacht, wie viele wir hier in der Stadt sind und dass wir ihm ordentlich die Hölle heiß machen können. Und dass er mir sein Leben verdankt, weil ich, Machmed Sultanow, angeordnet habe, dass er in Ruhe gelassen wird. Der ist ja jetzt richtig an der Macht, da oben.“

„Ja, klar.“

„Er soll sich was einfallen lassen, hab ich ihm gesagt, und zwar schnell.“

Raschid schielte auf die Dokumente und sagte lächelnd:

„Der hat vielleicht Schiss! So schnell hat der das hingekriegt?“

„Vor uns haben alle Schiss“, rief Machmed gehässig und blickte auf die Papiere. „Absolut alle. Aber das ist nicht das Ding.“

„Ach so.“

„Diese Ratte hat sich nach unserem Gespräch so ins Hemd gemacht, dass er gestern Morgen im Stadtrat gleich irgendein Gesetz durchgebracht hat, das dieses juristische Problem behebt. Wir können jetzt kaufen. Also habe ich gekauft.“

„Ach, so schnell? Gratuliere!“

„Halt, nicht so schnell. Weißt du, was da alles dahintersteckt?“, wollte Machmed wissen.

„Na, was soll da dahinterstecken? Du ziehst ein neues Business auf. Baust einen Laden, am besten gleich über mehrere Etagen. Das wirft mehr ab. Und dann machst du ordentlich Kohle. Wenn du meine Hilfe brauchst, du kannst auf mich zählen, weißt du ja. Ich kann dir Leute besorgen, wenn’s was zu bewachen oder zu verteidigen gibt. Und Baumaterialien. Kein Problem, du kannst dich auf mich verlassen.“

„Du raffst es nicht. Bei dir muss man immer im Urschleim anfangen.“

Raschid lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und schwieg beleidigt. In der Wohnung war es still, nur durch das geöffnete Küchenfenster drangen von draußen sommerliche Geräusche.

„Jetzt krieg dich mal ein, Alter. Was soll das denn? Hör lieber zu.“ Machmed faltete die Hände, als wollte er beten, und schaute seinem Kumpel auf den Nasenrücken. „Zhorik, diese Ratte, hat derart Schiss um sein Leben, dass er sogar bereit ist, den heimatlichen Boden Stück für Stück zu verkaufen. Wir haben Schwein, dass jetzt solche korrupten Idioten am Ruder sind. Und wir machen jetzt Folgendes.“

Machmed schlug den Stadtplan auf und winkte Raschid heran. Der hatte seinen Ärger schon vergessen und beugte sich voll konzentriert über den Tisch.

Der Ältere tippte auf einen Punkt in der Nähe ihres Hauses.

„Hier. Hier werden wir bauen.“

„Puschka, oder?“

„Genau. Und jetzt sieh mal hier“, Machmed blätterte weiter und schlug eine Seite mit einem anderen Stadtviertel auf. „Hier wird sich unser Freund Abdul ein Grundstück holen. Und hier“ – er blätterte noch ein paar Seiten weiter – „die Brüder Achmudow, Achmed und Raschid. Die sind noch neu, Zhorik kennt sie noch nicht so gut, deswegen hat er vor ihnen nicht so viel Angst. Hier könnten wir deine Jungs gebrauchen, um den Ochsen ein bisschen einzuschüchtern. Kapiert?“

„Klar. Dann haben wir auf allen Märkten eigene Läden. Krass, Machmed, voll krass! Da kommt ordentlich was rüber.“

„Das ist noch nicht alles. Guck mal weiter. Das ist nur Makijiwka. Das Gesetz schließt aber den ganzen Oblast ein, das heißt, wir können im ganzen Donbass Land kaufen! Wo’s klappt, machen wir ’n bisschen Druck und holen uns die Flächen für ’n Apfel und ’n Ei, wo nicht, nehmen wir einfach Geld in die Hand. Hauptsache, dass es bis zum Spätsommer auf möglichst vielen Märkten schon mit den Bauarbeiten losgeht.“

„Tss, machst neuerdings einen auf Oligarch, was?“

„Quatsch, wir drehen ein richtig großes Ding.“

„Versteh ich nicht.“ Raschid rieb sich nervös die Stirn.

Anstatt Raschid zu antworten, lief Machmed ins Nachbarzimmer und setzte sich an den Computer. Raschid folgte ihm.

Seine Finger huschten über die Tasten, während er seinen jüngeren Kumpel aufklärte: „Laut der Volkszählung von 2001 leben 45200 von uns in der Ukraine, die meisten in den Städten. So steht’s bei Wikipedia. 8000 im Gebiet Donezk, im Gebiet Charkiw 5600 und genauso viele im Gebiet Dnipro. Wir haben ziemlich zugelegt, zwischen 1960 und 1990 ist die Zahl um das Fünfeinhalbfache gestiegen. Hast du’s begriffen?“

„Mmh, so ungefähr.“

„Nach 2001 hat’s keine Volkszählung mehr gegeben. Keine Ahnung, was mit den Ukrainern los ist, ob sie kein Geld haben oder keine Zeit. Wahrscheinlich ist es den Typen, die da am Ruder sind, einfach scheißegal, was hier im Land abgeht. Deswegen machen die auch keinen Finger krumm.“ Machmed zeigte auf die Wikipedia-Seite, die sich endlich aufgebaut hatte. „Ich war schon hier, als die Zählung 2001 stattgefunden hat. Schon damals waren wir mindestens doppelt so viele, wie in der Statistik steht. Keine Ahnung, wie’s in anderen Oblasts aussieht, von denen sie da noch schreiben, aber im Donbass auf jeden Fall. Schon damals war die Hälfte von uns illegal hier.“

„Das war vor meiner Zeit.“

„Weiß ich, weiß ich doch. Worauf ich hinauswill: Seit der letzten Volkszählung sind wir viel mehr geworden. Wir machen im Prinzip den ganzen Kleinhandel, wir kontrollieren auch die Märkte, obwohl der Boden Leuten von hier gehört. Wenn wir wollten, könnten wir hier in der Region die Macht übernehmen.“

„Das hast du schon gesagt. Aber wie du das anstellen willst, möchte ich mal wissen.“

„Hier in der Region, also in unserem Oblast, leben die meisten von uns. Nach der Statistik von 2001, das heißt nach den Angaben von vor fünfzehn Jahren, sind wir achttausend. Nach meinen eigenen Berechnungen müssten wir vierzig- bis fünfzigtausend sein.“

Raschid antwortete mit einem Pfiff. Er trat vom Bildschirm zurück und lief im Zimmer auf und ab, um die Beine zu lockern. Er steckte sich eine Zigarette an und gab auch Machmed Feuer. Der Rauch stieg nach oben, ein Luftzug wehte ihn hinaus auf die Straße.

„Krass. Jetzt hab ich kapiert, worauf du hinauswillst.“

Raschids Miene änderte sich. Seine Bewegungen wurden forsch und zackig, ein gieriger Glanz trat in seine Augen.

„Ich hab’s verstanden. Wir kaufen möglichst viele Flächen und tun so, als würden wir Geschäfte bauen. Deswegen bist du auf die Märkte aus, weil die uns ja sowieso schon gehören, das fällt nicht weiter auf.“

„Genau, Raschid, ganz genau.“

Fasziniert vom Plan seines Freundes, fuhr er fort: „Und mit der offiziell genehmigten Bautätigkeit legalisieren wir unsere Landsleute, sie werden legale Arbeitnehmer.“

„In einem Land, wo die Regierung keinen Finger krumm macht, bleiben die Zahlen allerdings immer gleich …“

 

„Und deswegen kommen über die Wege, die wir zwei genommen haben, tausende neue Landsleute nach.“ Raschids Gedanken überschlugen sich.

„Bravo!“

Raschid tigerte durchs Zimmer, dauernd waren ihm ein Tisch, ein Stuhl oder eine Wand im Weg, aber er ignorierte das einfach.

„Und? Weißt du jetzt, wie’s dann weitergeht, du Nase?“, spornte Machmed ihn an.

„Ja! Wir können ja alle mit Waffen umgehen, seit wir klein sind. Na ja, vielleicht nicht alle, aber die meisten. Und wenn erst alle ihre Posten haben, reicht ein Signal, und wir übernehmen die Macht!“

„Perfekt, Kumpel! Ich weiß doch, was ich an dir habe. Du bist also dabei? Wir müssen mal mit denen sprechen, die schon Einfluss haben, bei dem einen oder anderen müssen wir vielleicht mit einer Extraerklärung nachhelfen, aber die meisten machen sicher gleich mit. Der Donbass gehört uns schon lange, jetzt wird’s Zeit, dass wir hier endlich offiziell an die Macht kommen.“

In diesem Augenblick knallte im Treppenhaus ein Schuss. Dann kam ein kläglicher Schrei. Schnell liefen Raschid und Machmed in die Abstellkammer neben der Küche und stürmten dann zur Wohnungstür. Beide hielten Baseballschläger in der Hand, die sie kurz zuvor auf dem Zentralen Basar gekauft hatten, Raschid hatte sich noch ein großes Messer mit einer krummen Klinge in den Gürtel geschoben.

Die beiden Männer lauerten angespannt hinter der Tür. Machmed nahm ein Blatt Papier vom Tisch und wedelte damit vor dem Spion herum, um herauszufinden, ob die Waffe auf ihre Wohnung gerichtet war. Es passierte nichts, draußen vor der eisenbeschlagenen Tür waren Stimmen zu hören.

„Was ist denn da los?“, flüsterte Raschid.

Machmed schaute ihn schweigend an und trat an den Spion. Wieder wedelte er mit dem Blatt hin und her und schaute dann vorsichtig durch das Guckloch.

Mit dem Rücken an die Tür der Nachbarwohnung gelehnt, saß da ein junger Mann in einem weißen, blutverschmierten Hemd. Über ihm hing Vira, die Kanaille, ein Gewehr geschultert, neben ihr ein Typ mit einem Beil. Machmed sah ihn manchmal beim Friseur am Busbahnhof und auf dem Markt an den Ständen mit Katzenfutter. Er hatte einen dämlichen Namen, der irgendwie kriminell klang, Koljan oder Toljan.

Toljan-Koljan reichte dem Jungen eine angebrochene Flasche Wodka, der nahm eine paar kräftige Schlucke und ächzte. Die drei redeten irgendwas, durch die Tür war allerdings nichts zu verstehen. Es sah so aus, als wollten sie den Verwundeten auf der Stelle, mitten im Treppenhaus, kaltmachen.

„Was is’n los?“, fragte Raschid wieder, diese Mal lauter.

Machmed schüttelte den Kopf, keine Panik, nichts weiter, sollte das heißen. Aber er ließ den Schauplatz nicht aus den Augen.

Für den Verletzten sah es nicht gut aus: Die drei hatten sich eine Zigarette angezündet, Labuhas Busenfreund zerrte den Arm des Jungen in die Höhe, presste ihn gegen die Wand und fuchtelte mit seinem Beil herum. Weiter passierte nichts.

„Schweine“, rief Machmed, er riss sich von dem Schauspiel los und überließ seinem Kumpel den Platz.

Raschid sah, was los war, und schaute seinen Freund fragend an.

„Was ist?“, fragte der verständnislos.

„Sollen wir den Jungen raushauen? Die gehen zu weit.“

„Gestern wär das noch was anderes gewesen. Da hätte ich die ausgelutschten Alkis in ihre Hütte zurückgescheucht. Und den Jungen ins Krankenhaus gefahren.“

„Und warum nicht heute?“

„Wir müssen uns für eine größere und wichtigere Sache schonen.“

„Stimmt, verdammt“, zischte Raschid. „Oder soll ich vielleicht doch …? Die zwei rennen doch schon weg, wenn ich nur zur Tür rausgucke!“

„Guck dir die mal an! Denen geht alles am Arsch vorbei! Die rennen nicht weg. Die Kanaille hat ein Gewehr und ihr Alter ein Beil. Lass es lieber, ich brauch dich noch.“

„Na, gut.“ Widerwillig lenkte Raschid ein, und seine Hand ließ das Messer los.

Er schaute nervös durch den Spion ins dämmrige Treppenhaus und hatte vor Wut die Fäuste geballt. Draußen stand das Finale an, alle bis auf den Jungen hatten aufgeraucht, und auch ihm blieben noch höchstens drei Züge. Der Typ fuchtelte mit seinem Fleischerbeil herum, auf dem Gesicht der Kanaille stand ein wildes, wirres Lächeln, plötzlich flog die Haustür auf, und ein paar Polizisten stürmten herein.

Raschid wich zurück und griff wieder nach seinem Messer. Die beiden tauschten ein paar angespannte Blicke, dann kehrte Raschid verunsichert zur Tür zurück. Doch das Treppenhaus war bereits leer. Er sah nur noch den Rücken der beiden Polizisten, die im hellen Viereck der Haustür verschwanden, und eine dunkle Blutlache, deren Ränder fast bis an ihre Wohnungstür heranreichten.

Alles war wieder still.

„Was war denn das?“, fragte Raschid seinen Boss.

„Was schon? Die Alte macht mal wieder Party. Wann holt die endlich der Teufel?“

Die beiden Umstürzler beruhigten sich. Um runterzukommen, machten sie sich einen Tee und rauchten eine, redeten über andere Themen und legten die Baseballschläger und das Messer zurück in die Abstellkammer. Sie liefen noch ein paar Mal zur Tür, horchten auf die Stimmen im Treppenhaus, schauten hinaus, aber dort war es ruhig.

„Also, wo waren wir stehengeblieben?“, fragte Machmed und ging zurück zum Tisch.

„Dass der Donbass uns gehören wird.“

„Eigentlich gehört er uns ja schon. Aber die formale Machtübernahme, die fehlt noch.“

„Moment mal. Alles gut und schön. Aber wozu brauchen wir den Donbass überhaupt? Was machen wir dann damit?“

„Ist doch ganz klar. Wir rufen, sagen wir mal, unsere Republik aus, dann können wir schalten und walten, wie es uns beliebt, können noch mehr Landsleuten herholen, hier ist das Klima doch angenehmer als in der alten Heimat“, erklärte Machmed.

„Die werden uns einfach vernichten. Physisch vernichten. Glaubst du nicht?“

„Nein“, sagte der Boss lächelnd. „Ich schaue mir ja immer die Nachrichten an, und deswegen weiß ich, dass sie mit Terroristen – in ihren Augen sind wir ja Terroristen – verhandeln bis zum Abwinken, und sie schießen erst, wenn alles total danebengeht. In den Verhandlungen müssen wir was rausschlagen. Uns mehr Spielraum verschaffen, als wir bislang haben.“

„Na gut. Und wann? Wann schlagen wir los?“

„Ich hab das mal ausgerechnet. Wenn unsere Leute mitmachen, dann gehen wir folgendermaßen vor: Jetzt haben wir Mitte Juli, korrekt?“, begann Machmed.

„Korrekt.“

„Dann bereiten wir jetzt alles vor, und ab August wird gebaut. Auf den Grundstücken, die wir gekauft haben, legen wir geheime Waffenlager an.“

„Und wo kriegen wir die Waffen her? Das kriegen die doch spitz, wenn wir hier massenhaft Schusswaffen kaufen.“

„Zhorik hat da einen Kumpel, der würde dir seine eigene Mutter verkaufen, der stellt keine Fragen. Den hauen wir an.“

„Leute gibt’s …“

„Und weil sie solche Idioten sind, haben sie hier nichts zu suchen. Wir schalten sie aus … Jetzt hab ich den Faden verloren, Mann … Ab Herbst holen wir uns dann neue Leute aus der alten Heimat. Mit den Bauarbeiten müssen wir uns nicht groß aufhalten, die sind ja nur zur Tarnung.“

„Logisch.“

„Mehr ist es nicht. Und die Macht übernehmen wir, wenn die Leute hier so abhängen, dass sie auf alles scheißen.“

„Wann wäre das?“

„Neujahr. Am 1. Januar gegen fünf Uhr morgens schwärmen wir in kleinen Einheiten zu den wichtigsten strategischen Punkten aus.“

„Eine echte Revolte!“ Raschid war vor Freude ganz aus dem Häuschen.

„Genau. Stück für Stück geht die Macht in der Stadt auf uns über. Hast du mal ausgerechnet, wie viele bewaffnete Männer man braucht, um am 1. Januar morgens den Bahnhof zu besetzen? Ganze fünf! Wir entwaffnen die Polizei und die Wachleute, und schon gehört der Bahnhof uns. So machen wir es auch mit den Busbahnhöfen, der Stadtverwaltung und so weiter. Aber als erstes sind die Netze dran. Eine Stunde vor der großen Attacke besetzen wir die Büros der Mobilfunkanbieter und kappen das Festnetz. Am ersten Januar früh merkt keiner, dass die Stadt uns gehört. Und diejenigen, die es merken, können sich nicht wehren.“

„Zuerst das Internet! Wenn du diesen Ukrainern das Internet abschaltest, sind sie hilflos wie Katzenbabys.“

„Bist du sicher?“

„Absolut sicher. Kriegst du mit, was bei denen los ist? Die haben sich irgendwie total aufgegeben. Ein paar Kommentare und Likes in den sozialen Netzwerken, das ist alles. Richtigen Widerstand können die nicht leisten. Trenn sie vom Netz, und sie wissen gar nichts mehr mit sich anzufangen. Es lohnt sich für sie nicht mehr, sich zu wehren. Und das nutzen wir aus, mein Lieber.“

„Gut, dann fangen wir mit dem Internet an. Was jetzt? Ich rufe heute noch ein paar von den wichtigen Leuten an, dann setzen wir uns in den nächsten Tagen mal zusammen und besprechen alles.“

„Die Sache läuft, Alter!“

„Na dann: Prost!“

Die Umstürzler erhoben die Gläser mit dem kalt gewordenen Tee und stießen auf den Erfolg ihrer Idee an. Sie leerten ihre Gläser auf ex und knallten sie auf den Tisch.

Es war das erste Warnsignal, das in der juliheißen, erschöpften Stadt natürlich niemand hörte.

Wohnung 14
Gerhard Freis Jugendjahre

Wer Gerhard Frei war, weiß heute niemand mehr. Vor über sechzig Jahren war der Name hier in der Stadt in aller Munde.

Nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches kam Frei wie Tausende andere Deutsche als Kriegsgefangener hierher zu uns und musste auf dem Bau arbeiten. Er war kurz vor Berlin gefangengenommen worden. Erst als er von der Kapitulation erfuhr, streckte er die Waffen, und seit er in Gefangenschaft war, verhielt er sich still und fügsam.

Äußerlich wirkte er nicht älter als fünfunddreißig und sah gut aus, deswegen hatte die Frau, die die Gefangenen registrierte und ihnen die Arbeiten zuteilte, ein besonderes Auge auf ihn.

Gerhard Frei saß aufrecht vor ihr und wippte leicht mit dem Stuhl. Ein großer, schlanker Blondschopf. Er lächelte freundlich und schwieg. Nur seine grauen, müden Augen schauten kühl durch die Brille. Die Frau sah ihn an, kurz blieb ihr Blick an dem kindlich blonden Strubbelkopf hängen. Sie musste an Wassyl denken, ihren Mann, der 1941 eingezogen und bei der Befreiung von Kiew als Kanonenfutter geopfert worden war, und seufzte. Ende November hatte man ihr die Gefallenenmeldung überstellt und ihr – pünktlich zum Jahrestag der Oktoberrevolution – zur Einnahme Kiews gratuliert. Für sie war das kein Trost, sie begriff die Symbolkraft und die historische Bedeutung dieser militärischen Operation nicht, vielleicht weil Wassyl wirklich ein Teil von ihr gewesen war, der obere Teil, um genau zu sein. Wassyl hatte sie immer angehalten, Kopf und Herz gleichermaßen zu gebrauchen. Jetzt war Wassyl tot, ein MG-Schütze hatte ihn in den kalten Dnipro befördert, und seitdem fühlte sie sich wie amputiert, als wäre sie nur ein halber Mensch, als fehlte ihr die obere Hälfte. Sie konnte keine Lust mehr empfinden außer auf Essen und auf einen Mann.

„Sag mal, …“ – sie stockte, weil sie den deutschen Namen des Gefangenen nicht so schnell herausbrachte – „Gerhard, warst du vielleicht gerade in Kiew, als unsere Armee die Stadt befreit hat?“

Frei schaute sie noch konzentrierter an. Er konnte kein Ukrainisch, außer „Kiew“ und seinem Namen hatte er nichts verstanden. Er schwieg und überlegte, was sie wohl von ihm wollte. Vorsichtshalber schüttelte er den Kopf.

‚War er also nicht‘, dachte sie und seufzte noch einmal. Dann vertiefte sie sich in seine Papiere.

Die nächsten Minuten vergingen unter dem gleichmäßigen Ticken der Wanduhr und dem Rascheln der Seiten. Plötzlich stutzte die Frau. Als sie den seltsamen Vermerk sah, runzelte sie die Stirn, rieb sie. Zog die Augenbrauen hoch. Blätterte ein paar Seiten zurück, las etwas nach, sprang zum Ende der Unterlagen, dann wieder zum Anfang, presste ihre Finger gegen die pulsierenden Schläfen und las alles noch einmal ganz aufmerksam durch.

Das Ergebnis missfiel ihr, sie schaute Frei verunsichert an. Der Gefangene saß immer noch aufrecht und wippte leicht mit dem Stuhl, um seinen Mund spielte ein feines Lächeln.

„Walera!“ – die Frau nahm das Glöckchen, das neben ihr auf dem Tisch stand – „Walera, kannst du mal kurz kommen?“

Im Nebenraum polterten Schritte, einige Sekunden später wurde die Tür aufgerissen, und Walera, der Übersetzer, kam herein.

 

„Was gibt‘s, Genossin Mykytenko?“, ratterte er nur halb korrekt, aber in aufrechter Haltung.

„Komm mal her und sieh dir das an“, rief sie und winkte ihn mit einer Hand heran, während sie mit der anderen auf den Stapel Dokumente wies, der vor ihr lag.

Walera beugte sich über den Tisch und starrte auf die Stelle, auf die die Frau getippt hatte. Dann durchforstete er, wie Mykytenko eben, den gesamten Ordner und schaute sie verwirrt an:

„Völlig verrückt. Sicher ein Irrtum oder ein Witz.“

„Jetzt frag ihn doch, Walera, na, mach schon!“

Walera richtete sich auf, und während er vor dem Stuhl, auf dem der Gefangene saß, auf und ab lief, bediente er sich der deutschen Sprache. Allerdings sprach er Frei nicht direkt an, sondern schleuderte die Wörter und Sätze einfach in den Raum:

„Wie heißen Sie?“

„Gerhard Frei.“

„Geburtsort?“

„Köln.“

„Geburtsjahr?“

„1611“, antwortete Frei gelassen und lächelte bissig.

„Bringen Sie da auch nichts durcheinander?“, hakte Walera nach.

„1611“, wiederholte der Gefangene laut und deutlich und räkelte sich, dass seine Gelenke knackten.

„Wissen Sie, welches Jahr wir jetzt haben?“

„Ja, natürlich“, sagte der Deutsche und lächelte weiter.

Walera drehte sich zu seiner Chefin um und sagte:

„Der Deutsche hier behauptet, fast 350 Jahre alt zu sein. Angeblich wurde er Anfang des 17. Jahrhunderts geboren.“ Um seine Worte zu bekräftigen, tippte Walera mit dem Finger auf das Datum, das Genossin Mykytenko stutzig gemacht hatte.

„Aber das kann doch nicht sein, das verstehst du doch.“

„Ja.“

Walera drehte sich noch einmal zu Frei um.

„Sie wollen also über 300 Jahre alt sein?“

„Ja.“

„Wurden Sie bei Ihrer Gefangennahme nach Ihrem Geburtsdatum gefragt?“

„Ja.“

„Und alle haben das so hingenommen?“

„Ja“, antwortete der Deutsche zum dritten Mal.

Walera fragte sich, wie es allen Verantwortlichen in der Armee entgangen sein konnte, dass der Gefangene über 300 Jahre alt sei, und konnte es nicht fassen.

„Na gut, vielleicht haben sie das einfach so hingeschrieben, ohne groß nachzudenken“, sagte er unwirsch. „Aber wir müssen der Sache nachgehen.“

„Tun Sie das!“ Frei lächelte überheblich.

„Still!“, mischte sich Genossin Mykytenko ein, die dem Gespräch nicht folgen konnte, aus dem Lächeln des Deutschen allerdings schloss, dass er überlegen war.

Walera machte eine beschwichtigende Handbewegung, die Frau setzte sich, Frei schwieg.

„Wie haben Sie die 300 Jahre denn geschafft?“

„Ganz einfach.“

„Ich kenne niemand anderen, der so alt ist.“

„Ich auch nicht.“

„Und wie haben Sie das bewerkstelligt? Und noch dazu in einer, wenn ich so sagen darf, mehr als ansprechenden Aufmachung?“ Er spielte auf Freis jugendliches Aussehen an.

„Sie glauben mir ja sowieso nicht.“

„Erklären Sie es mir, ich gebe mir Mühe.“ Mit einem süßlichen Geheimdienstler-Lächeln ging er auf den Gefangenen zu.

Gerhard Frei schaute ihn an und erzählte seine Geschichte:

„Wenn du Deutscher wärst und in Köln leben würdest, könntest du mit dem Namen Frei was anfangen. Wir sind eine Dynastie von Zauberern. Mein Großvater konnte Kunststücke, gegen die eine Lebensverlängerung von dreihundert Jahren ein Klacks ist. Er kam auf den Scheiterhaufen, weil er verdächtigt wurde, mit dem Teufel im Bund zu stehen, was, mit Verlaub gesagt, auch stimmte. Leider bin ich nicht so mächtig, mein Großvater hat es nicht geschafft, mir alles beizubringen, aber fremde Seelen zu holen und den Körper jugendlich zu halten, dafür reicht es gerade noch. Wenn du mir nicht glaubst, können wir uns gern in hundert Jahren noch mal verabreden und das Thema wieder aufgreifen.“

„Na, ganz sicher. Soll das heißen, du bist unsterblich?“

„Na klar, du Trottel. Ich lebe das 336. Jahr, da liegt das doch auf der Hand, oder?“

„Nun gut. Dann treffen wir uns in 100 Jahren wieder.“

Er wandte sich von Frei ab, setzte sich neben seine Chefin, blätterte in den Unterlagen und fragte sie:

„Ist der eigentlich mal beim Psychiater gewesen?“

„Ja, hier ist die Bescheinigung.“ Sie zeigte ihm ein Dokument.

„Perfekt. Hier steht, er ist gesund.“

„Wieso?“

„Er hat mir gerade erzählt, er sei ein Zauberer und damit unsterblich. Wenn Sie mich fragen – der will sich einfach vor der schweren Arbeit drücken. Also …“

„Also“, griff Genossin Mykytenko seinen Gedanken auf, „geben wir ihm die schwerste Arbeit. Oder?“

„Genau. Wir schicken ihn zum Haus Nummer 166. Dort sind sie gerade beim Fundament und brauchen Leute für ganz verschiedene Arbeiten: Ziegel formen und schleppen, Zement mischen, Erde ausheben, tragen und so weiter. Da hat er einen Platz zum Zaubern.“

Zügig stellte die Frau den Zuweisungsschein aus, setzte einen Stempel drunter, rief zwei Wachleute, und schon fünf Minuten später wurde der gehässig lächelnde Frei zu dem Platz eskortiert, wo sieben Jahre Zwangsarbeit auf ihn warteten.

Der Buschfunk trug die Geschichte durch die ganze Stadt, und eine Zeit lang war der Fall in aller Munde, irgendwann ließ das Interesse nach, und die Sache geriet in Vergessenheit. Niemand sprach mehr über den Deutschen.

Und wenn es Walera und der Genossin Mykytenko nicht egal gewesen wäre, was aus Frei geworden war, hätten sie, als sie über drei Ecken davon hörten, dass jemand auf einer Baustelle einen Aufruhr angezettelt hatte, um das Dritte Reich hochleben zu lassen, darauf kommen können, dass es nur Frei gewesen sein konnte.

An einem Herbstmorgen gab Frei das Zeichen, zu den Waffen zu greifen, aber im Nu hatten ihn die Schüsse mehrerer Wachleute niedergestreckt. Gerhard Frei sackte zusammen, fiel in die Grube, die für das Fundament ausgehoben worden war, eine schlecht fixierte Platte kippte um und zerquetschte ihn. Die anderen Gefangenen hatten es noch nicht einmal geschafft sich zu erheben, um die Wachleute zu überwältigen, da war ihr Anführer schon tot. Die Geschichte wurde allerdings vertuscht. Frei, von der Platte zerquetscht, wurde eine halbe Stunde später mit Erde zugeschüttet, und damit verschwanden auch alle Erinnerungen an ihn im Fundament des Hauses Nummer 166.

Heute weiß niemand mehr, wer Gerhard Frei war.

***

Nur Slawisten bringen es fertig, ihre Kinder Kyrill und Method zu nennen. Die Leute aus den hiesigen Arbeiterstädten reagieren auf die Bezeichnung Slawist ähnlich ablehnend und verständnislos wie auf einen, sagen wir mal, exotischen Ausdruck wie „Sadomaso-Pädophilie“. Keiner weiß, was das Wort genau bedeutet, aber ein einfacher Arbeiter weiß instinktiv, dass Menschen mit dieser Berufsbezeichnung sich nur aufspielen und andere geflissentlich übersehen, weswegen man mit ihnen keinen Umgang pflegt, sondern sie einfach diskriminiert. Sie diskriminieren die anderen ja auch ungesagt, indem sie sich als Slawisten bezeichnen.

Natürlich hätten Jaropolk und Fedora Sadoroschnyj, Professoren an der hiesigen Universität, ihren Kindern Namen geben können, die sie in der grausamen Welt der Kinder nicht benachteiligt hätten. Am Anfang hielten sie sich auch noch ganz wacker. Als ihr Sohn geboren wurde, nannten sie ihn Kyrill und wünschten sich danach ein Mädchen. Leider wurde daraus nichts. Nach Kyrill kam ein weiterer Junge, sie bissen die Zähne zusammen und nannten ihn Method. Nachdem der Junge zehn Jahre im Arbeiterviertel hinter sich hatte, wusste er, was es hieß, einen solchen Namen zu tragen, insgeheim nannte er seine Eltern Außerirdische. Method sehnte seinen 16. Geburtstag herbei, denn dann, das wusste er, konnte er einen anderen Namen annehmen, der besser zu den lokalen Gegebenheiten passte.

Jaropolk und Fedora Sadoroschnyj waren wirklich Außerirdische. Ihnen fehlte jeder Bezug zum irdischen Dasein, ihre Welt bestand aus Grammatikübersichten und in der postsowjetischen Ukraine höchst überflüssigen Konferenzen, auf denen sie andere Außerirdische trafen. Die Kinder wurden praktisch ohne Aufsicht groß. Und auch ohne besondere elterliche Fürsorge.

Das Resultat dieser Geht-uns-am-Arsch-vorbei-Einstellung der Eltern gegenüber ihren Kindern war ein schrecklicher Unfall, den Anna, ihr erstes Kind, erlitt. Was genau passiert war, wusste niemand.

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