Philosophische und theologische Schriften

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Dies hat u. a. zur Folge, daß bei Cusanus notwendig verschiedene Wahrheitsperspektiven zum Ausdruck kommen, die sich jedoch auch regional verorten lassen, ohne den Bereich der Ratio über deren Grenzen hinweg diskursiv verlassen zu müssen: Analog zu Kants Kritiken lassen sich bei Cusanus verschiedene Bestimmungen von Reichweite und Grenzen der geistigen Erkenntnisstufen antreffen, die sich auf die jeweilig regionalisierten Leistungen des dynamischen Geistes beziehen. Als ›Kritik der reinen Sensualität‹ wendet sich das Denken dem rein affirmativen Aspekt des Sinnlichen zu, das seine Daten in positiver Form (A und A…) vorfindet. Es betrifft dies den Bereich der als ontologisch gedachten Sinnlichkeit, aus dem der Verstand mit seinem Unterscheidungsvermögen die von ihm selbst differenzierten Fakten isoliert, die sich mit rationaler Hilfe wechselseitig spezifizieren lassen. Die krude Faktizität der zunächst verworrenen, da noch nicht eingeteilten Sinnlichkeit nötigt den Geist, Ordnung im Chaos der sensualen Mannigfaltigkeit zu schaffen, wozu der Verstand die Form der Einteilung liefert (A oder Non-A), mit deren Hilfe Affirmationen und Negationen in ihrer Bestimmtheit getroffen und erstellt werden.

Wissenschaftlich rationale Theorien erlauben dem Verstand, konstruktiv gesetzte Verschiedenheiten im Aufbau der sinnlichen Welt zu unterscheiden, für die der Bereich der Sensualität über kein hierzu geeignetes Schema verfügt, sondern dieses erst im ihr übergeordneten Bereich des Verstandes findet. Die ›Kritik der reinen Sensualität‹ befreit die Sinnlichkeit aus ihrem Schema der Affirmation durch die Einführung der Negation, mit deren Hilfe Gegensätze und Widersprüche konstruierbar werden23. Der rationale Diskurs ist im Bereich des Verstandes eröffnet, in welchem die Fragen nach Alternativen mit disjunktiven Urteilen beantwortbar werden. Die bloß additive Iteration sensualer Faktizität erlaubt auf der Ebene des Verstandes den Einspruch durch andere Einteilungen und Theorien, die sich mit alternativen Disjunktionen gegenseitig beurteilen lassen. Die Wissenschaften sind diesem Bereich der Rationalität verpflichtet, sofern darin nicht nur unterschieden, sondern auch widersprochen werden kann. Die ›Kritik des reinen Verstandes‹ hingegen gestattet es der Vernunft, die bloß formale Äußerlichkeit im Schema der Verstandesleistungen zu durchschauen und auf das in Gegensätzen formulierte Gesetztsein der Fakten (facere) zu reflektieren. Die entweder affirmierte oder negierte (jedenfalls statisch bestimmte) Faktizität des Verstandes wird durch die Reflexion der Vernunft als schematisierte Abstraktion begriffen, wenn die intellectuale Spekulation auch die Wurzeln des Rationalen und des Sensualen in Erinnerung ruft. Dann sind die schematischen Einteilungen nicht von ihrer Genese zu trennen, sondern es wird die Verwiesenheit ihres Verhältnisses zum dynamischen Geist begriffen: Die regional spezifischen Ontologien werden in ihrer funktionalen Relativität aufgedeckt und in der vernünftigen Reflexion aufgehoben (A und Non-A). Die Sinnlichkeit stellt keine Fragen, sondern kompiliert affirmativ, der Verstand fragt nach dem Unterschied und spezifiziert alternativ, die Vernunft fragt nach der Voraussetzung des Fragens selbst und koinzidiert reflexiv.

Die zur Bestimmung der kategorialen Dimensionen des Geistes vorgenommenen Unterscheidungen zur Abgrenzung untereinander und zur Thematisierung von Reichweite und Grenze der jeweiligen Bereiche lassen sich nicht nur bezüglich dieser paradigmatischen und für den Verstand pragmatischen Spezifikationen mentaler Erkenntnisstufen ins Auge fassen, sondern geben auch einen Blick darauf frei, daß alle genannten Regionen des Geistes als dessen Perspektiven in Erscheinung treten und dabei außer dem jeweils eigenen Geltungsbereich auch transsumptiv Übergänge zu extern-relationalen Bereichen erschließen, die nur unter Verabsolutierung der jeweiligen Binnenperspektive den Bereichen der Andersheit unaufgeschlossen bleiben. Der Übergang an den Grenzen hingegen gestattet es, den Geist als das bewegende Element und Bindeglied zum Auf- und Abstieg innerhalb der konsequent entfalteten Dynamik des Denkvermögens selbst zu begreifen24. Hierbei steht die Leistung des Verstandes in der Mitte zwischen Sensualität und Intellectualität, da im Bereich der Rationaliät die eingeteilte Sinnlichkeit einerseits und die reflektierte Vernunft andererseits zum Zwecke der Diskursivität vermittelt sind. Der Verstand transzendiert die Sinnlichkeit, wie die Vernunft den Verstand transzendiert, woraus sich verschiedene Wahrheitsbestimmungen durch den lebendigen Geist treffen lassen.

Sensualiter spectata sind alle der Sinnlichkeitsregion zugänglichen Dimensionen aufgrund ihrer erst noch zu erfolgenden Unterscheidungen quasi »wahr und wahr«, bzw. als solche konstatierbar, da alle Affektionen des Geistes von der Sensualität in identisch bejahender Qualität wahrgenommen werden; alles sinnlich Gewonnene gilt durch das Schema der Sensualität als gleichermaßen »wahr« für den Verstand. Auf dieser Stufe der sensualen Unterschiedslosigkeit findet keinerlei produktive Erkenntnis statt, da hier die bloß passive Rezeption (w/w) vonstatten geht. Ein Wahrheitswert auf dieser Stufe wäre bestimmbar als neutrale Beliebigkeit für die stets affirmative Rezeptivität. Rationaliter spectata sind jedoch alle dieser Region zugänglichen Dimensionen entweder »wahr oder falsch« (w/f) und damit alternativ konstatierbar, da alle Affektionen des Geistes von der Rationalität in bejahender oder verneinender Modalität beurteilt werden können. Auf dieser rationalen Stufe der Unterscheidung findet produktive Erkenntnis statt, da hier die Spezifikation argumentativ vonstatten geht. Ein Wahrheitsmodus auf dieser Stufe wäre als alternierende Wahrheit der Empirie oder als gesetzte Bipolarität durch schematisierte Differenz bestimmbar. Intellectualiter spectata sind jedoch alle der Region der Vernunft zugänglichen Dimensionen »wahr und falsch« (w + f) und damit koinzidentell konstatierbar, da alle Affektionen des Geistes von der Intellectualität in complikativ bejahender und verneinender Qualität wahrgenommen werden; alles vernünftig Gewonnene ist durch das Schema der Intellectualität sowohl wahr als auch falsch. Auf dieser Stufe des Zusammenfalls findet die höchstmögliche geistige Erkenntnis statt, da hier die coincidentia oppositorum inklusiv im Sinne eines Zusammenfalls als regula veri und nicht als contradictio falsi vonstatten geht. Ein Wahrheitsmodus in diesem Bereich der Vernunft wäre als reflektierte Philosophie bzw. als begriffene Einsicht in die Unzulänglichkeit der rationalen Insuffizienz bestimmbar. Das Resultat zeigt sich dann in einer negativen Erkenntnis durch positive Plausibilität. Nur in der grenzbegrifflich supra-intellectualen Perspektive (der visio dei) wären die Divergenzen innerhalb der geistigen Regionendynamik hinfällig oder bestenfalls als in diesen unbestimmbar bzw. als irreduzible Inkompatibilität gegenüber den geistigen Bewegungen insgesamt faßbar. An dieser Grenze, die Cusanus mit der Metapher der »Mauer des Paradieses« skizziert, berührt der Geist das Unberührbare unberührenderweise (»attingitur inattingibilis inattingibiliter«25), was von der spekulativen Perspektive jenseits der Grenze für den Geist nur als seine immerwährende Konjekturalität reflektiert werden kann, die in der intellectualen coincidentia oppositorum ihr Maximum an der Grenze zwischen mentaler und transmentaler Explikation erreicht.

Wenn jedoch alle Perspektiven so zugeschnitten sein müssen, daß der Verstand, wenn auch in alteritate, als zentral für das Verstehen unumgänglich erscheint, läßt sich die Regionentheorie des Cusanus als Bewegung des Begriffs in der Bildung sowie in der Vermittlung des Individuellen und Allgemeinen dahingehend begreifen, daß in ihr nicht nur verschiedene Mikrokosmen zu Wort kommen, sondern daß zuvor noch der Kontext eine Erweiterung erfährt, die sich der Reflexion auf die jeweiligen Bedingungen verdankt. An Hegel erinnernd, zeigt sich in der Denkweise des Cusanus eine Bewegung des Begriffs, die sich in dynamischer und dialektischer Intention aus dem Denken selbst ergibt. Die Rationalität bezieht ihre Plausibilität aus den Axiomen der Logik, die Intellecualität bezieht ihre Plausibiliät aus der Beschränkung rationaler Bestimmungen, die trans-intellectuale visio dei erfährt ihre Perspektive aus dem Absoluten, das sich keiner – stets defizienten – Beschreibung unterziehen läßt. Bezüglich der Cusanischen Regionentheorie des Erkennens liegt ein durch regulative Ideen aufgehobener Prozeß des Geltungs- und Wahrheitsbereiches für alle Stufen des Geistes vor, weshalb dieser Prozeß sich auch als eine Bewegung des Begriffs in der Bildung zur Weisheit (sapientia) beschreiben läßt, die jeden erreichten Mikrokosmos zugunsten eines erweiterten Weltbildes verlassen kann, aber dabei nie zu einem sicheren und abschließbaren Ende (veritas), sondern wieder nur zu einem anderen Paradigma neuer aenigmata kommt.

Die nicht artikulierbare Affirmation der sensatio verweilt in ihrem unreflektierten Status der Subjekt-Objekt-Dichotomie, ohne diese selbst erkennen zu können. Die artikulierbare Differenz der ratio verweilt in ihrem unreflektierten Status der Unterscheidungs-Dichotomie, ohne auf dieses Schema reflektieren zu können. Die nicht artikulierbare Oppositionskoinzidenz des intellectus als docta ignorantia verweilt in ihrem Abstand zur visio dei an deren Grenze – jeweils in alteritate – und begreift von dort aus das Sein als ein Eingeteilt-Sein für den Verstand. Daraus folgt für Cusanus eine funktional-ontologische Dynamik, die in direktem Zusammenhang mit der epistemologischen Dimension geistiger Bewegungen als endlicher Vernunft zu sehen ist. Endlich bleibt jeder Wahrheitsanspruch auf jeder Stufe der Erkenntnis und innerhalb von deren jeweils perspektivisch bedingtem Mikrokosmos, der sich zwar erweitern läßt, aber nicht zur Verabsolutierung der jeweilig internen Konjekturen führen kann. Einzig auf der transsumptiven Grenze sind qualitative Verschiebungen möglich, die zugleich den Geltungsbereich ihrer Herkunft – d. h. die Bedingungen der Erkenntnis in statu nascendi – reflektiert hinter sich lassen können. Sowohl im Ascensus als auch in Descensus erscheint der Geist als »mens« in seiner beweglichsten Form, aber eben auch nur als Form des Denkens überhaupt. Die sich dabei vollziehende Dialektik gibt sich jedoch weder als Idee noch als Form, noch als Methode zu verstehen, sondern als ein Prozeß, den das dynamische Denken selbst vollzieht, indem es die eigene Spekulation der Vernunft verstandesaffin artikuliert. Oder, mit Hegel gesprochen: »Die Spekulation versteht … den gesunden Menschenverstand wohl, aber der gesunde Menschenverstand nicht das Tun der Spekulation«26.

 

Dieser Unterschied zwischen Verstand und Vernunft, zwischen empirischer Rationalität und reflektierter Spekulation findet sich bereits bei Cusanus als Dialektik angelegt, wenn die jeweils höhere Stufe des Geistes aus der jeweils niedrigeren Stufe hervorgeht. Es liegt somit auf der Hand, daß sich der Wahrheitsanspruch im Vollzug des geistigen Auf- und Abstiegs mit verändert, da via reflexionis auch die Fragestellungen (z. B. der rationalen Empirie gegenüber der Reflexion auf deren Bedingungen des Verstandes) nicht dieselben bleiben. Denn auf der Ebene der sensationes liegen keine Unterschiede vor, weshalb dieser Region alles als gleich wahr erscheint (w/w), da sich die Frage nach der Wahrheit hier noch nicht stellt. Auf der Ebene des Verstandes gelangt man via negationis zu entweder wahren oder falschen Urteilen (w/f) und damit auch zu einem rationalen Wahrheitsbegriff, der die Wahrheit in Form von logischer Richtigkeit zur Anwendung bringt. Die Frage nach dem Wahrheitsmodell des Verstandes stellt sich erst auf der Ebene der Vernunft, in welcher sich die Oppositionskoinzidenz auf der Basis der docta ignorantia begreifen läßt.

Auf dieser Stufe der Reflexion wird die rational konstruierte Unterscheidung von wahr und falsch selbst hinfällig, weshalb aus dieser Perspektive alle Theorien gleichermaßen »falsch« sein müssen (f/f). Maß und Gemessenes finden immer nur zu einer pragmatischen Einteilung von hypothetisch hinreichender Plausibilität, die niemals mit der in ihr beanspruchten Wahrheit verwechselt werden darf. Dem Verstand ist der Pragmatismus fremd, der in der Vernunft zu einem Wahrheitsbegriff der Plausibilität durch (rational gesehen) »falsche«, wenn auch zweckmäßige Urteile gelangt. Da sich für die Stufe der visio dei, in der sich alles eingefaltet sowie für den Geist unerreichbar zeigt, die Frage nach der Wahrheit nicht stellt, sind in ihr – wie in der sensatio – alle Bereiche des Absoluten gleich »wahr« oder gleich »falsch« (w/w oder f/f – bzw. weder w noch f) oder liegen bereits außerhalb dieser Art von Einteilung, aus der sich folgende Regionalisierung mit ihren jeweiligen Geltungsansprüchen bezüglich Wahrheit und Falschheit auf Verstandesebene ergibt:

deus (weder w noch f – bzw. w/w oder f/f)

intellectus (w und f)

ratio (w oder f)

sensatio (w und w)

Dem erkennenden Geist bleiben somit nur die beiden (›mittleren‹) Regionen des Mentalen auf den Stufen des Verstandes und der Vernunft zugänglich, wobei erstere im Bereich der (z. B. empirischen) Wissenschaft stattfindet, während letztere im Bereich der reflektierenden Philosophie anzutreffen ist. Die noch nicht eingeteilte und speziell für die Ratio spezifizierbare Sinnlichkeit regt den Verstand zu seinen Unterscheidungen an, woraus sich dessen Affektion durch die Sinnlichkeit ergibt, die rational zu ordnen Aufgabe für den hierfür zuständigen Verstand ist, während die Vernunft auf das Schema des Verstandes reflektiert und von der visio dei ihre Anregung zum Transscensus bezieht. Ascensiv stellen sich alle Regionen in grenzüberschreitend motivierter Aufhebung von defizienten Wahrheitsansprüchen vor, descensiv bieten alle Regionen an der jeweils unteren Grenze einen Sprung über deren jeweils höchste Form sowie zugleich über deren Defizienz auf. Dabei werden die Ebenen der sensatio und des deus als grenzbegriffliche Bereiche gedacht, die in der Reflexion auf die visio dei keinen Unterschied mehr aufweisen können.

Nur der analytisch artikulierte Verstand traut sich die Anmaßung zu, zwischen wahren und falschen Urteilen unterscheiden zu können, obwohl es ihm hierfür an der Kraft zur Bildung synthetischer Urteile (im Sinne Kants) mangelt. Die Vernunft hingegen kann den Wahrheitsbegriff des Verstandes als dogmatische Position begreifen, die nur ihre eigene Perspektive der Wahrheit kennt und diese Schablone (w /f) an alles heranträgt, was sie umgibt. Insofern wird die Vernunft zwar vom Verstand affiziert, findet jedoch in der Imagination einer visio dei die korrelative Funktion ihrer eigenen Vorgehensweise. Und solchermaßen sind alle Regionen aufeinander verwiesen, was sogar bezüglich der untersten und der obersten Stufe zu einer »Deckungsgleicheit« des Wahrheitsbegriffs (w/w) führt, während die espistemologische Schlacht auf dem Feld zwischen Verstand und Vernunft geschlagen wird. Und auch in den Resultaten finden sich ihre Unterschiede von der Art, daß die Vernunft zwar den Verstand begreift, der Verstand aber die Vernunft nicht versteht. Denn die Vernunft ist in der Lage, ihre Reflexion auf die dominante Relevanz plausibel etablierter Isolate und deren Differenzierungen zu richten, da sie sich an deren Herkunft aus ihr selbst zu erinnern vermag. Dem Verstand hingegen werden nur ontologisierte Substrate sichtbar, die er von okkulter Vernunft oder fremder Natur zu kennen glaubt, deren Autorschaft hingegen aus seinem Gedächtnis gewichen ist. Solchermaßen gelingt es, dem Verstand zur Vernunft zu verhelfen, ohne die Vernunft um den Verstand zu bringen.27

Analog zu den Ausführungen des Cusanus über das Verhältnis von Verstand und Vernunft, bei dem sich zeigt, daß die Vernunft als Reflexionsinstanz gegenüber dem Verstand fungiert, läßt sich auch später bei Kant zeigen, daß der Verstand mit einer Erkenntnisrestriktion ausgestattet ist, während die Vernunft über ihn hinaustreibt und dabei zwar keine konstitutive, aber eine regulative Funktion aufweist, wobei die Kritik (der reinen Vernunft – als genitivus subiectivus und als genitivus obiectivus zu lesen) als ein »Experiment« der Vernunft mit sich selbst aufgefaßt wird: Die »Vernunft« soll »selbst ihr eigener Schüler sein«28. In diesem Experiment wird die Vernunft als intellectuale Reflexionsstruktur der bloß empirischen Verstandeserkenntnis entgegengesetzt. Die Vernunft bezieht sich also nicht auf die möglichen Gegenstände der Erfahrung durch den Verstand, sondern auf dessen Leistungsfähigkeit, auf die sie reflektiert. Diese Differenzierung ist im Auge zu halten, wenn man die »Transzendentale Dialektik« der reinen Vernunft nicht unter dem Gesichtspunkt der verstandesmäßigen Erkenntniskonstitution, sondern der regulativen Ideen der Vernunft zu begreifen hat. Denn »der Verstand mag ein Vermögen der Einheit der Erscheinungen vermittelst der Regeln sein, so ist die Vernunft das Vermögen der Einheit der Verstandesregeln unter Prinzipien. Sie geht also niemals zunächst auf Erfahrung, oder auf irgendeinen Gegenstand, sondern auf den Verstand, um den mannigfaltigen Erkenntnissen desselben Einheit a priori durch Begriffe zu geben, welche Vernunfteinheit heißen mag, und von ganz anderer Art ist, als sie von dem Verstande geleistet werden kann.«29 Dabei macht der Verstand für die Vernunft ebenso einen Gegenstand aus wie die Sinnlichkeit für den Verstand, woraus sich ergibt, daß die wissenschaftliche Rationalität in der klassischen Erkenntnistheorie einen völlig anderen Stellenwert verortet bekommt, als dies in der späteren Wissenschaftstheorie der Fall ist, in welcher dem Verstand Leistungen zugesprochen werden, die der Vernunft angehören, dabei aber nicht berücksichtigt werden. Empirismus (sensatio), Verstandesdenken (ratio) und Reflexion (intellectus) werden dabei in ein unheilvolles Durcheinander gebracht und weisen bei dieser Gelegenheit auch in ihren Resultaten die vielfältigen Verwirrungen auf, die bei hinreichender Differenzierung im Sinne Cusanus’ oder Kants entbehrlich wären. Dies läßt sich auch auf die Formel eines generellen Reflexionsverzicht in der modernen Wissenschaftstheorie des positivistischen Naturalismus bringen. Denn der Verstand und die Vernunft können zumindest bei Cusanus und Kant nach dieser Differenzierung nicht untereinander vermittelt gedacht werden. Durch ein dem Verstand selbst entsprechendes analysierend vorgehendes Aufdecken der Möglichkeitsbedingungen des analysierenden Denkens des Verstandes gilt es, die Grenzen des Verstandes zu limitieren und ihn innerhalb seiner Grenzen in seiner Möglichkeit zu begreifen. Seine Immanenz vor seiner Transzendenz zu schützen stellt eine der Hauptaufgaben kritischer Philosophie dar, die den regulativen Gebrauch der Vernunft vom diskursiven Gebrauch des Verstandes zu unterscheiden erlaubt. Demgegenüber macht Kant für die Vernunft geltend, »daß der größte und vielleicht einzige Nutzen der Philosophie der reinen Vernunft … wohl nur negativ« zu sehen ist, »da sie nämlich nicht, als Organon, zur Erweiterung, sondern, als Disziplin, zur Grenzbestimmung dient, und, anstatt Wahrheit zu entdecken, nur das stille Verdienst hat, Irrtümer zu verhüten«30. Mit diesem Verhüten von Irrtümern ist jedoch nicht gemeint, einen positivistischen Falsifikationismus zu betreiben, der selbst bereits an der Unmöglichkeit scheitert, Vorstellungen mit etwas anderem als wieder nur mit Vorstellungen zu vergleichen. Er setzt vielmehr eine Ontologie subjektunabhängiger Realität in Form von Dingen an sich voraus, wie sie nach dem aenigmatischen Denken des Cusanus und später nach Kant gerade nicht erkannt werden können. Diese Einsicht löst die philosophische Reflexion nicht auf, sondern spiegelt nur wider, daß Cusanus auch nach über 500 Jahren seine Aktualität nicht verloren hat.

Eberhard Döring