Philosophische und theologische Schriften

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Von der Wissenschaft erwartet man gewöhnlich, daß sie streng rational vorzugehen und dabei verläßliche Ergebnisse zu liefern habe. Sie soll widerspruchsfrei formuliert, präzise und genau, mithin logisch stringent sein. Aber spätestens mit der Diskussion über die Postmoderne und deren facettenreicher Vielfalt der Erkenntnisweisen ist die rationalistische Wissenschaftstheorie wieder einiger Skepsis ausgesetzt. Doch selbst im Umfeld dieser pluralistisch bemühten Vernunft wird kaum beachtet, daß mit der Philosophie des Cusanus bereits an der Schwelle zur Neuzeit eine hoch reflektierte Rationalitätskritik avant la lettre vorgestellt wurde. Denn nach Cusanus berührt der menschliche Geist »das Unberührbare unberührenderweise«, womit eine seltsam erscheinende Formulierung gewählt ist. Entweder berührt der Geist etwas, oder er berührt es nicht, aber daß er unberührenderweise etwas berührt, klingt logisch verdächtig, vor allem wenn der Gegenstand dieser Berührung auch noch das Unberührbare sein soll.2 Nach Cusanus ist dieses scheinbare Paradoxon jedoch lösbar, da die formale Logik als ein Werk des Verstandes und nicht der Vernunft begriffen wird. Die Ratio (als diskursiver Verstand) ist auf die meßbaren Einteilungen und finiten Begrenzungen, auf Identität und Differenz, also letztlich auf Widerspruchsfreiheit und Definitionen (per genus proximum et differentiam specificam) angewiesen, denen zufolge »unmöglich dasselbe demselben in ein und derselben Beziehung zugleich zukommen und nicht zukommen kann«3. Der Verstand findet seinen Halt demnach nur innerhalb seiner definitiven Widerspruchsfreiheit; seine Kompetenz bleibt der Bestimmung logischer Setzungen verhaftet und kann dafür auch alle kalkulatorische Haftung übernehmen. Er kann einen Verstoß gegen die Regeln der Logik streng und präzise nachweisen, wie er überhaupt die Instanz für Beweise darstellt. Für den Verstand sind die Gegensätze durch oppositionelle Einteilungen (wahr/falsch, ja/nein, 0/1) fixiert, die uns als unterschiedene Isolate bzw. als nicht zuletzt pragmatisch isolierte Unterschiede zur Orientierung auch im streng wissenschaftlichen Sinne dienen.

Ein Zusammenfall der Gegensätze (coincidentia oppositorum) wäre im Bereich des Verstandes hingegen nicht zu fassen oder nur als Widerspruch aussagbar, weil jede Koinzidenz die Grenzen der auf Kontradiktionsvermeidung festgelegten Ratio überschreitet. Für den Verstand (ratio) bleibt die Aufgabe, in gegensätzlich bestimmten Dichotomien und Disjunktionen zu verfahren und dabei dem operational-technischen Charakter der rationalen Axiomatik zu folgen. Dem Verstand wird bei Cusanus seine eigene Region und Kompetenz bzw. ein eigenes Ressort bezüglich seiner Verfügbarkeit zugebilligt, außerhalb dessen seine Bestimmungen und Einteilungen jedoch ihre Tragfähigkeit verlieren. Der Verstand und sein ihm eigenes Ressort verfügen über all die Leistungen und Instrumente, die zur Unterscheidung zwischen Identität und Nicht-Identität erforderlich sind, er besitzt als Ratio demnach Gewalt über alles, was die wissenschaftliche Vermeidung von Widersprüchen als contradictio falsi zu beherzigen hat. Der Verstand sichert somit die Kontradiktionsvermeidung ab, wozu ihm die formale Logik mit ihren binären Unterscheidungen als präzises Instrument zur Verfügung steht. Ein Widerspruch wird auf dieser Ebene der Ratio entlarvt, womit der Verstand seine Funktion erfüllt und der rationalen Ebene der Wissenschaft seine darin unüberbietbare, wenn auch statisch fixierte Kompetenz zur Verfügung gestellt wird.

Auf der Ebene der Vernunft (intellectus) hingegen begreift der dynamische Geist die oppositionell entäußerten Verstandesinhalte der Ratio, auf deren Bedingungen und Voraussetzungen die Vernunft reflektieren kann. Intellectualiter lassen sich die Begrenzungen der Ratio via reflexionis aufheben, indem die Vernunft die Regeln und Muster des Verstandes als dessen funktional-operatives Schema und als statisches Raster durchschaut, die sie zugleich sprengen und umordnen kann. Die Vernunft schafft Synthesen und baut Brücken, während die Ratio aufgrund ihrer statischen Verfaßtheit in ihrem eigenen Schema verharrt. Die Vernunft reflektiert, wo der Verstand nur bestimmt4. Insofern findet das vernünftige Begreifen der Philosophie im Bereich des intellectus statt, der den Verstand übersteigt und dabei die Bedingungen der rationalen Wissenschaften in den Focus der Reflexion rücken kann. Die Bestimmungen des Verstandes sind für den binnen-rationalen Bereich zwar geeignet, aber über diesen hinaus sowie für die voraussetzungskritische Dimension der philosophischen Reflexion inkommensurabel und damit außerhalb seiner selbst ohne jede Bedeutung. Die rein logisch als intrinsische Struktur des Verstandes sich etablierende Kompetenz der Ratio verweilt im funktional-technischen Bereich seiner eigenen Anwendung durch Ontologisierung axiomatisch fixierter Regeln, über die nur durch Reflexion auf deren eigene Bedingungen und Voraussetzungen hinauszugelangen ist.

Cusanus teilt die Erkenntnisfähigkeit des menschlichen Geistes (»mens«) in vier verschiedene Regionen ein, die keinen ontologischen, sondern einen gnoseologischen oder erkenntnisrelevanten und symbolischen Status für sich beanspruchen. Auf der untersten Stufe ist danach die Sinneswahrnehmung (sensatio) angesiedelt, in welcher keine Negation und damit auch keine Widerspruchsmöglichkeit vorliegt. Ein sinnlich wahrgenommener Gegenstand kann sich nicht selbst widersprechen, widersprechen können sich nur Theorien über ihn (A=A und nicht: A=Non-A). Insofern läßt sich die nächsthöhere Stufe als die des Verstandes (ratio) darstellen, in welcher der Widerspruch durch seine Unterscheidung zwischen Bejahung und Verneinung innerhalb von Theorien, d.h. als wahr oder falsch, allererst ermöglicht wird. Der Verstand geht nach logischen Prinzipien vor und kann – seinem eigenen Gesetz nach – nicht dasselbe sowohl bejahen als auch verneinen.

Doch wie der Verstand als die höhere Stufe gegenüber sinnlich wahrnehmbaren Dingen durch rationale Bestimmungen der sensationes, d. h. durch Abgrenzung bzw. durch Unterscheidung, durch differenzierende Spezifikation aufgefaßt wird, so steht die Region der Vernunft (intellectus) über der Ratio als diejenige Instanz, die zum Verstand selbst auf Distanz (»in alteritate«) zu gehen vermag. In der suprarationalen Vernunft bestehen sowohl Affirmation als auch Negation miteinander in der sie umfassenden Idee der Koinzidenz, welche die Gegensätze der Ratio umschließend begreift. Durch die Sinnlichkeit wird demnach der Verstand affiziert und zu deren Unterscheidungen motiviert, wie sich die Vernunft gegenüber dem Verstand als dessen »Andersheit« zu ihm ins Verhältnis setzt. Die Region der Sinnlichkeit wird demnach vom Verstand auf Begriffe gebracht, indem deren unterscheidbare Begrenzung durch den dynamischen Geist zum Zwecke der Ratio ihre Bestimmung erfährt. Der (supra-sensuale) Verstand ordnet die sinnliche Welt, wie die (supra-rationale) Vernunft die Ordnungen des Verstandes begreift: Als diesen drei Regionen des menschlichen Geistes (sensatio, ratio, intellectus) gegenüber höchste Region nennt Cusanus die absolute Einheit und Einfachheit, in welcher (supra-intellectualiter) alles aufgehoben wird, was in den genannten Regionen des Geistes Gültigkeit hat: Die absolute, unendliche und complikative Einheit ist über all das erhaben, aber zugleich deshalb für den menschlichen Geist in seiner Endlichkeit nicht zugänglich (»summa autem praecisio intellectus est veritas ipsa, quae deus est«)5.

Mit seiner Regionentheorie der Wahrheit greift Cusanus die metaphysischen Einheiten »Körper, Seele, Intelligenz und Gott« auf, wobei es für die oberste, alles in sich enthaltende, absolute Einheit und Wahrheit keine angemessene Ausdrucksweise geben kann. Angemessene und hinreichend mensurable Terminologie besteht aber ohnehin nur im Bereich der rationalen Bestimmung in geschlossener Semantik, die jedoch ihrerseits mit dem Reflexionsdefizit aufwartet, dabei keine ontologische Relevanz erzielen zu können. Von der Gnoseologie zur Funktional-Ontologie führt nach Cusanus einzig die temporär plausible Metapher, die bei sinnaufschließendem Gelingen in offener Semantik auch die Geburt des Begriffs aus ihrem eigenen Geist heraus generieren kann. Deshalb ist es auch (sufficienter spectata) von ausreichender Relevanz, den Bereich der divinalen Gesichtspunkte einer »visio dei« metaphorisch reich und zugleich hinreichend dicht zu halten, ohne damit eine Kommensurabilität mit dem disjunktiven Verstand erzielen zu müssen. Die der menschlichen Erkenntnis zugänglichen Regionen von der Sinnlichkeit über den Verstand bis zur Vernunft machen hingegen die vitalen und dynamischen Stufen des Geistes aus, dessen vollendete Bewegung durch den Intellectus geleistet wird. Auf der endlichen Seite ist der menschliche Geist das Umgreifende des Sinnlichen, Rationalen und Intellectualen in eins mit der Fähigkeit zu Auf- und Abstieg (as-scensus und de-scensus) innerhalb der in seine Ressorts fallenden Regionen, wobei er auch hierbei nur das mit exakter Genauigkeit erkennt, was er analytisch zum Gegenstand hat.

Dies wiederum betrifft die Sphäre der formalen Logik und der diesem Schema folgenden Mathematik sowie aller darauf verpflichteten Wissenschaften. Die Logik bleibt zwar bloßes Verstandesprodukt, hat aber dennoch vorausweisend symbolischen Charakter für den philosophischen Transzensus und für die spekulative Hypothesis des Unendlichen hinaus. Die auf Rationalität restringierte Logik ist jedoch weder allumfassend noch lebendig, denn sie enthält nicht das Gegenteil ihrer selbst als regula veri. Im Gegenteil, die rationale Vorgehensweise ontologisiert quasi bewußtlos ihre eigenen Inhalte, indem sie ihr Schema verabsolutiert und dabei die Reflexion auf ihre eigenen Voraussetzungen und deren Konsequenzen ignorierend exkludiert. Der solchermaßen exklusiv-explikative Verstand differenziert, die inklusiv-complikative Vernunft reflektiert.

 

Auf der Ebene der (translogisch-suprarational) reflektierenden Vernunft verfügt der Geist über die Beweglichkeit, die ihre eigene Begrenzung wiederum im göttlichen »Denken« oder »Schauen« findet und zugleich mit dem Verstand in Verbindung stehen bleibt. Der Verstand kann also zur Vernunft kommen, ohne daß die Vernunft um den Verstand gebracht würde, wobei der geistige Trans- und Deszensus auch diese beiden Bereiche zu überhöhen und reflexiv zu unterlegen vermag. Im aufeinander verwiesenen Verhältnis von ratio und intellectus kommt die dynamische Erkenntnisfähigkeit des Geistes zunächst darin zum Ausdruck, daß sie wegen ihrer Differenz zum absoluten Wissen und in Distanz zum unbestimmt Sensualen im Bereich von Mutmaßungen und Hypothesen (d. h. von Konjekturen6) verbleibt: »Coniectura est positiva assertio veritatis in alteritate, uti est, participans. «7

Die konjekturale Wahrheitserkenntnis stellt mithin keine Verlorenheit im Chaos völliger Beliebigkeit dar, sondern weist die Fähigkeit auf, im Entwerfen von Theorien ihren eigenen Ursprung und ihre Grenzen zu sehen, die sie allerdings selbst gezogen hat. Sie muß sich zwar notwendig diskursiv ausdrücken, sprengt aber diese Diskursivität kraft ihres transsumptiv-reflexiven Wissens darum, was es damit auf sich hat. Konjekturales Wissen bleibt symbolisches bzw. aenigmatisches Erkennen, indem darin der dynamische Prozeß »zusammenwerfender« (con-iacere/sym-ballein) Synthesis von angemessenen und in der Koinzidenz sich einander anmessender Termini vonstatten geht. Und sobald alles Sein als ein bloßes Eingeteilt -Sein begriffen wird, heben sich seine ontologische Dignität und seine bloß rational verstandene Objektivität auf, deren Moment und Movens im Geist durch seine Subjektivität als Konstituens des Objektiven bzw. als ein genuin Vor-Gestelltes erscheint. Dabei kann der Erkenntnisprozeß des menschlichen Geistes als eine ›phaenomenologia mentis‹ im Unterschied zu einer ›phaenomenlogia entis‹ charakterisiert werden.

Innerhalb einer Erscheinungsweise des Geistes betont Cusanus insbesondere das Moment des Kreativen, wenn er die Mutmaßung als eine geschaffene Einsicht (»creata intelligentia«) vorstellt, die von begrenzter Wirklichkeit sei. Die Mutmaßung drückt also eine subjektive Schöpfung in einer Behauptung aus und erhebt damit einen perspektivisch begrenzten Wirklichkeitsanspruch (als »esse respectu ad …«8). Die Konjektur ist zwar in ihrer Schöpfung verschieden vom göttlichen Schaffen, aber sie läßt doch eine Analogie zum Göttlichen zu und erhebt damit den Menschen zum »secundus deus «, zum »humanus deus«. Und dieser zweite Gott ist in seiner kreativen Potenz als menschlicher Gott gedacht – was er kreiert, schafft er auf seine Weise mit seinen Mutmaßungen und Imaginationen kraft seiner aktiven Produktivität aus seinem geistigen Blickwinkel für seine Bedürfnisse : »Ideo homo habet intellectum, qui est similitudo divini intellectus in creando9

Als angemessene Angleichung leistet die kreative Vernunft durch ihre regional angrenzende und berührende Differenz zum Göttlichen in typisch Cusanischer Andersheit und zugleich notwendiger Verwiesenheit eine Ähnlichkeit der Vorgehensweise des Geistes zum göttlichen Schaffen (»in creando«). Fast schon transzendentalphilosophisch positioniert wird der menschliche Geist als mentale Instanz und als kreatives Element seiner eigenen Dynamis zwischen die Pole seiner Grenzen gespannt, für deren binnentheoretische Einlösung und Auflösung der eigenen Kompetenz eine ihn in seiner endlichen Spannkraft transzendierende Abgrenzung zu von ihm selbst nicht einlösbaren Dimensionen der Unendlichkeit hypostasiert werden muß. Die zwar endliche, aber darin vollkommen autonome Mentalität des sowohl rational verständigen wie auch intellectual vernünftigen Geistes findet ihre nach außen (»in alteritate«) begrenzte Freiheit gerade darin, daß ihr eine ins Uferlose abgleitende Entgrenzung bis hin zum Chaos der völligen Beliebigkeit erspart bleiben kann. Rationalitätskritik und Voraussetzungsreflexion der in ihre Konsequenzen reichenden Bedingungen machen demnach die Leistungen unseres Geistes in seiner mentalen Reichweite aus.

Was Cusanus damit auf der Schwelle vom Mittelalter zur Neuzeit leistet, ist eine Relativierung des mittelalterlichen Absolutheitsanspruchs und eine Verstandeskritik weit vor der Epoche der Verstandes-Aufklärung und ihrem romantischen Glauben an die rationale Omnipotenz. So betont auch Kurt Flasch, daß die Cusanische Koinzidenzlehre keine dogmatisch-doktrinale » ›Lehre‹, sondern eine ›Brille‹ (ist), die der Vernunft zu sehen gestattet, was dem Verstand verschlossen bleiben muß«10. Denn die Jagd nach der Weisheit (»De venatio sapientiae«) wäre auf der falschen Fährte, wenn sie die Wahrheit zu ihrem Ziel hätte, da sie diese niemals erreichen, obschon vielfältig intendieren kann. Die Einsicht in den Stellenwert diskursivrationaler und sprachlich-endlicher Einteilungsverhältnisse läßt somit den Mut frei, sich sowohl seines Verstandes als auch seiner Vernunft zu bedienen – quasi als göttlicher Schöpfer auf menschlicher Ebene. Veritas und sapientia sind eben nicht dasselbe!

Im Prozeß der Ent- grenzung des Be- grenzten vollzieht sich die philosophische Reflexion durch die Vernunft als die Andersheit des Verstandes. Auf endliche Weise wird die Erkenntnis des endlichen Geistes als ein »cognoscere … mensurare est« vorgestellt, wobei der Geist selbst als »mens« die Metapher für das angemessene (mens urable) Erkennen liefert11. Dem unendlichen Weltschöpfer aus göttlicher Sicht stellt Cusanus die ›Weisen der Welterzeugung‹ aus endlicher Perspektive zur Seite und erlaubt auch dabei eine Koinzidenz »in creando«12. Mit der Koinzidenz ist »das Eintreten des Unendlichen in unser Denken aufzufassen«, wie Kurt Flasch betont, »aber daraus folgt nicht, sie sei ein Privileg ›Gottes‹ – … sondern ein Prinzip universaler Dialektik.«13 Denn mit der Kunst der Erkenntnis (»ars coniecturalis«) wird eine perspektivisch variable und pragmatisch funktionale Ontologie der Plausibilität (als »esse respectu ad«) erzeugt, deren mensurable Anmessung sofort in dogmatische Anmaßung umkippen würde, sobald die Kreationen des endlichen Geistes aus ihrer ontologischen Relativität gerissen würden.

Dies gilt freilich auch für die Cusanische Regionentheorie des reflektierenden Geistes und seiner prozeduralen Erkenntnis selbst, deren interne Einteilungen symbolisch angesonnene »aenigmata« konjekturaler Herkunft als Funktionen innerhalb einer dynamischen Einheit darstellen und keinerlei ontologische Dignität aufweisen. Als gnoseologisch verstandene Regionentheorie erlaubt sie vielmehr selbst einen Transzensus in die »Idee des Koinzidierens« hinein, die Hegel als »den Gehalt der Philosophie« bezeichnet hat.14 In ihr kommt eine Einsicht zum Ausdruck, die sich als »docta ignorantia« ohne Doktrin, als belehrte Unwissenheit ohne dogmatische Standpunktanmaßung und als perspektivische Endlichkeit zu erkennen gibt. Als ihrerseits schematisches Symbol leistet die Regionentheorie des Cusanus einen Hinweis auf den transsumptiv-dialektischen Bildungsprozeß, in welchem die stets reversible Plausibilität pragmatischer Entwürfe für die Endlichkeit des menschlichen Wissens angemessener als die Anmaßung auf absolute Wahrheit erscheint.

In Dimensionen der Koinzidenz herrscht ein anderer Wahrheitsbegriff als im Bereich des Verstandes, weshalb eine Erkenntnistheorie des Rationalismus auch in seiner als ›kritisch‹ propagierten Version mit inkommensurablen Mitteln operiert. Die Substitution der Wahrheit oder die Aufhebung des metaphysischen Wahrheitsbegriffs durch den pragmatischen Relativismus einer reflektierten Plausibilität mag zwar zunächst anstößig für die wissenschaftliche Forschungslogik wirken. Sie stellt jedoch nur eine positive Bestimmung der belehrten Unwissenheit als Einsicht in die Unmöglichkeit letztbegründbarer Wahrheit dar, wenn im intellectualen Transcensus über die Ratio alles beweisbare Wissen aufhört und die Kunst des koinzidierenden Begreifens im Nichtwissen beginnt. Dann empfiehlt es sich, auch den Status der Wahrheit neu zu bestimmen und ihn als plausibles Kompliment an metaphorisch riskante Konjekturen anzupassen. Damit würde zumindest der dialektische Erkenntnisprozeß der Philosophie gegen die Attacken positivistischer und rationalistischer Korrespondenztheorien der Wahrheit geschützt. Denn die »coniectures« des reflektierenden Geistes können nur auf Zustimmung oder Ablehnung, auf Plausibilität oder Implausibilität, aber niemals auf »reputationes« durch eine Verstandeskritik via falsificationis stoßen. Falsifikationen bleiben intern-relationale Kalkulationsfehler der Ratio und finden keine externen Strukturen vor, an denen ein Scheitern auch nur möglich wäre. Vielmehr scheitern alle rationalen Kriterien am verstandesexternen Bereich der Vernunft, die durch solche Klassifikationsdifferenzen nicht tangiert wird.15 Dabei zeigt sich gerade am Beispiel von Klassifikationsaspekten die kategoriale Verfaßtheit von Einteilungen überhaupt, wozu freilich auch die Regionentheorie des Cusanus gerechnet werden muß. Denn in dieser drückt sich kein Sachverhalt einer subjektunabhängig gedachten Wirklichkeit (Ontologie) aus, es artikuliert sich darin vielmehr die Notwendigkeit perspektivischer Differenzierungen durch den Verstand, die es erlauben, ein Produkt der endlichen Konjektur als ein solches zu begreifen. Dann können via reflexionis auch Bereiche auf den Begriff gebracht werden, die sich rationis via nicht mehr verstehen lassen.

Hierzu gehören alle Metaphern, die als Grenzbegriffe elastisch genug sind, eine Brücke der Koinzidenz zu bauen, die nicht dem starren Flußbett diskursiver Buchstäblichkeit folgt, sondern dieses zu überqueren erlaubt. Insofern lassen sich perspektivisich als abstraktiv oder attentional bestimmt verschiedene Dimensionen eröffnen, welche die gewohnten Aspekte der Tradition aus ihrem dogmatischen Schlummer zu reißen vermögen.16 Was den Festlegungen und Begrenzungen des Verstandes und dessen Wahrheitsbild versagt bleibt, läßt sich durch plausible Metaphern und infinitesimale Grenzbegriffe mit dem Elan des Neuen beleben, indem das zunächst Unsagbare auf kreative Weise zu Wort kommen kann. Der Sprache als dem Ort entfremdend-versöhnender Vermittlungskoinzidenz und ihrer innovativen Aufhebungsbewegung wird solchermaßen eine dynamische Sprengkraft durch die »energeia« der vitalen Interpretation zugetraut, die auch den starrsten Bedeutungen ihr Ableben bescheinigen kann. Hierzu bedient sich der dynamische Geist in seiner Flexibilität und Vitalität keiner Subsumtion durch bestimmende Urteilskraft, sondern der Reflexion auf die Voraussetzungen und Bedingungen des Urteils selbst, wie es sich in statu nascendi durch reflektierende Urteilskraft generiert finden läßt.

Daß sich in einem solch prozessualen Innovationsbereich der kreativen Neubestimmung auf keine Kalkulation von Bestimmtheiten rekurrieren läßt, die aus gegebenen Prämissen deduzieren könnte, wird vielmehr dadurch deutlich, daß die Bewegung des Begriffs eine Elastizität erzeugt, innerhalb derer sich die Metaphernbildung als der Ursprung und die Quelle neu gewinnbarer Einsichten mit der Kraft des vollzogenen Urteils durchzusetzen vermag. Dialektik und Metapher bilden hierbei eine synthetisch gestiftete Einheit auf prozeduralem Wege, welcher von der Vernunft zunächst für den Verstand und dynamisch wieder zurück zur Vernunft beschritten wird. Grenzbegrifflich regelsprengend wird eine Innovation durch das Aufbrechen von Traditionen metaphorisch individuell artikuliert, angesonnen und prae- schematisiert, bevor die Resonanz der communis opinio darin ein allgemeines Paradigma17 akzeptiert und die Geburt des Begriffs aus dem Geist der Metapher sanktioniert. Doch selbst als translogisch und suprarational bestimmt, verweilt auch die Vernunft im Bereich der Endlichkeit, die das Unendliche nur wiederum in alteritate, also nicht begrifflich zu fassen vermag. Für die Region des »possest« oder des »non aliud« lassen sich zwar noch Metaphern für das Unbenennbare des Absoluten bilden, jedoch nunmehr auch trans-intellectual in der höchstmöglichen Grenzbegrifflichkeit selbst, die nicht einmal mit der »intuitio« oder der »visio« begriffen werden können. Es bleibt dabei eine Differenz von verschiedenen Seiten derselben Medaille, die das Sehen Gottes (visio dei) und Gottes Sehen (visio dei) zugleich thematisiert18.

 

Für die Wahrheitsfrage bei Cusanus von Interesse sind nicht nur die jeweiligen Inhalte seiner Regionentheorie, sondern die Grenzbereiche, an denen sich das eigentliche Koinzidenzgeschehen ins Verhältnis von Dialektik und Metapher setzt. Es wird damit eine Rationalität im Übergang skizziert, die ihren eigenen dynamischen Wahrheitsstatus stufenweise ein- und aufzulösen vermag und dabei dem Positivismus der Rationalität eine Alternative zur Seite stellt. Darin würde mit der translogisch-suprarationalen Dimension der Vernunft nicht nur auf die Bedingungen und Voraussetzungen der formalen Logik mitsamt ihrer Methode der Wissenschaft abgezielt, sondern über diese hinaus eine neue Wahrheitsdimension eigens erfunden. Denn gegenüber der rationalen Erkenntnistheorie zeichnet sich die Wahrheit bei Cusanus ebenfalls in alteritate aus, womit eine spekulative Plausibilität in Anerkennung endlicher Fertigkeit zum stets Unfertigen geltend gemacht werden kann. Nicht im sicheren Bereich der geschlossenen Semantik analytischer Urteile, die in tautologischem Wissen angesiedelt ist, verfährt die synthetische Wahrheit bei Cusanus, sondern im Bereich des reflektierten Nichtwissens, in dem die Philosophie als Reflexion perspektivischer Standpunkthaftigkeit und als konjekturale Erkenntnis erscheint.

Wie inmitten einer Wolke nur ein undurchdringlicher Nebel gesehen wird, während in Distanz zu ihr die Konturen der Wolke sichtbar werden, so findet die visio mentis im Durchgang der Andersheit (Alterität) durch Reflexion auf ihre eigenen Bedingungen und Konsequenzen zu einer Sichtweise, die sich von ihrem Ursprung löst und diesen zugleich im Blick behält. Dies kann als Reflexionsfigur des Denkens selbst interpretiert werden, das die Auswirkungen aus seiner Bewegung vollzieht und sich zu dieser ins Verhältnis setzt. Allerdings geschieht diese Reflexion nicht im Bereich des Wissens, sondern im Bereich der docta ignorantia, die alle Dogmatik des rationalen Erkenntnis-Schemas hinter sich gelassen hat und dabei um den regionalen Stellenwert der wissenschaftlichen Praxis weiß. Das Schema der Rationalität wird somit nicht aus dem Wissen suspendiert, sondern durch Verortung systematisch und funktional integriert, woraus sich die distanzierende Perspektive der Reflexion und des Geltungsanspruchs von Hypothesen dynamisch ergibt.

Bezüglich des rationalen Erkenntnisanspruchs leistet die visio mentis aus dem »posse-Denken« der docta ignorantia heraus eine dynamische Selbstintensivierung im Versuch, das Unendliche begrifflich, wenn auch »in alteritate« zu artikulieren, indem sie als »aenigmatica scientia« ein symbolisch vollziehbares Können aus dem Geist der Unwissenheit selbst gewinnt19. Zwar bleibt die bewegende Kraft des innovativ-konjekturalen Denkens an der Polarität zwischen Wissen und Nichtwissen orientiert, wenn sie jeweils an ihre eigenen Grenzen heranzureichen vermag und sich vom unerreichbaren Ideal des Absoluten als regulativer Idee motiviert sehen kann. Die Vernunft erreicht mithin die Ebene einer transzendental-affinen Reflexion der Urteilskraft, die sich von der Transszendentalphilosophie Kants nur in wenigen Punkten unterscheidet, wenngleich auch die Restriktion des Verstandes und die Motivation der Vernunft mit verschiedenen Parallelen aufwartet. Hier wie dort wird zumindest die kreative Innovation einer individuellen Potenz einem ingenium zugeschrieben, das sich mentaler Dimensionen bedient, ohne dafür biologische »Metasubjekte« in Gestalt der Natur und deren »Evolution« zu bedürfen. Die konstitutive Funktion der individuellen Autonomie bedarf mithin keiner ontologischen Fiktion zu ihrer empirischen Verifikation. Die Verifikation des Könnens, das sich im Erzeugen bewahrheitet, ist dasselbe Können, das sich im Werden verifiziert: »Hoc enim posse, quod de facere verificatur est idem posse, quod de fieri verificatur.«20

Der Anfang des Werdens setzt zugleich beim Gewordenen wie beim Neuen an, wobei sich die Innovation additiv oder alternativ zur Tradition ins Verhältnis setzt, wenn immer eine Verifikation durch hinreichende Plausibilität etablierter Isolate gelingt. Diese wahrheitstheoretische Leistung des lebendigen Geistes ist originär auch in bewußtlosen Gestalten gewordener Paradigmata regenerativ zu verfolgen, da sich selbst die Axiome formaler Logik in statu nascendi einer attentiv-abstraktiven Einteilung verdanken. Auch darin bleibt noch die Genese der Konsequenzen formal-logischen Denkens in seiner erstarrten Gliederung sichtbar erhalten. Denn selbst die rationalen Bedingungen des Widerspruchsfreiheits-Postulates folgen schlicht aus der gesetzten Bestimmung von A, das sich in der Perspektive des Verstandes von allem anderen (als Non-A bestimmt) zu unterscheiden hat: aus A=A folgt Non-A=Non-A und damit auch Non: A et Non-A. Was jedoch für eine Region des Geistes zweckmäßig sein mag, kann in einer anderen Region bereits als ungeeignet erscheinen. Die Region des rationalen Wissens verfügt zwar über eine basale Exaktheit sowie über die »süße Simplizität der zweiwertigen Logik«21 im Bereich des operational-technischen Kalküls, die Region der supra-rationalen Vernunft hingegen ist intern-relational auf die logische Schlichtheit der bloßen Verstandesbedingungen nicht angewiesen, sondern stellt innerhalb ihres Verfügungsbereiches eine Perspektivität zur Verfügung, die (qua similitudo divini intellectus in creando) als »posse fieri« das Werden-Können endlos zu initiieren vermag.

An der Grenze zur Ratio übersteigt die Vernunft mit ihren Koinzidenzen den Verstand bis zur infinitesimalen Grenze des Gottesgesichtspunktes22, den sie aus endlichen Mitteln niemals erreichen, sondern immer nur als prae-suppositio intendieren und grenzbegrifflich vor Augen haben kann. Die Vernunft verfolgt intern-relational ihre Zwecke wie der Verstand seine auch; nur der dynamische Geist des humanus deus, der in creando all seine Regionen umfaßt, ja sogar all seine Regionen als seine positionalen Perspektiven durchschaut, bewegt sich nach jeweiliger Zweckbestimmung entweder innerhalb einer Region oder auf der Grenze zwischen mehreren Perspektiven, die allesamt pragmatisch für seine aktualen Ziele in ihr Blickfeld gerückt werden können. Insofern sind die mentalen Regionen auch nicht als ontologische Präfigurationen zu verstehen, wie sie dem Verstand erscheinen mögen, sondern als geistig verschiedene Perspektiven begreifbar, die in der Bewegung sowie an den Grenzen perspektivischer Fixationen und Isolationen ihre Relativierung erfahren. Daß diese Relativierungen sich keiner ontologischen, sondern einer gnoseologischen Funktionalität verdanken, ist eine Leistung der zur Vernunft gekommenen Reflexion, die sich zwischen dem Verstand und der regulativen Idee einer visio dei verorten läßt.

Wie sich in der Geometrie ein Vieleck durch rein numerische Erhöhung der Winkelzahl einem Kreis annähert, wie sich die Peripherie des Kreises durch seine Drehung der Kugel annähert und wie sich der Kreisbogen approximativ seiner Tangente annähern läßt, so unterliegen die Perspektiven der Regionentheorie selbst einer (regulativen) Idee, die ascensual ihre eigenen Voraussetzungen im descensualen Bereich transsumptiv-dynamisch zur jeweils erhöhenden Überwindung ihrer Binnenperspektive zu führen vermag. Doch dazu wird auch eine Potenz mobilisiert, die das fieri posse in ein posse fieri (vice versa) erlaubt, wie sie weder durch die aristotelische »prote hýle« noch durch die neuplatonische »emanatio« geleistet wird oder werden kann. Das posse mentalis bei Cusanus bewegt sich vielmehr relativ zu den regionalen Perspektiven der Regionen selbst, die sich jeweils intern-regional verhaftet zeigen, aber dennoch ein Schema durch ein anderes ersetzen können. Ohne Schema, ohne Regionen und ohne Bereichsdenken vollzieht sich nach Cusanus keine Vorgehensweise des Geistes, dessen mensurable Qualität im Bereich der Rationalität zwar ihren Ursprung findet, aber in deren Überwindung besteht.