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Sie lächelte, und er schlang sie sich plötzlich um die Schultern und sprang in die Luft. In wenigen Momenten flogen sie durch die Luft hoch über Paris, hinaus aufs Land, um sein Zuhause zu suchen.

Ihr Zuhause.

Caitlin war noch nie so glücklich gewesen.

KAPITEL FÜNF

Sam hatte Mühe, mit Polly Schritt zu halten. Sie redete so schnell und schien nie eine Pause zu machen, raste von einem Gedanken zum nächsten. Er war immer noch durcheinander von der Zeitreise, von diesem neuen Ort—er musste es alles erst verarbeiten.

Doch sie waren schon fast eine halbe Stunde unterwegs, er über Zweige stolpernd, während er ihr in ihrem zügigen Tempo durch den Wald folgte, und sie hatte noch nicht zu reden aufgehört. Er hatte kaum geschafft, selbst zu Wort zu kommen. Sie sprach immerzu von „dem Palast“ und „dem Hof“ und von ihren Clansmitgliedern und einem anstehenden Konzert, und einem Mann namens Aiden. Er hatte keine Ahnung, wovon sie sprach, oder warum sie nach ihm gesucht hatte—oder gar, wohin sie ihn führte. Er war fest entschlossen, Antworten zu bekommen.

„…natürlich ist es genau gesagt keine Tanzveranstaltung“, sagte Polly gerade, „aber trotzdem, es wird eine großartige Veranstaltung werden—aber ich bin nicht ganz sicher, was ich tragen werde. Es gibt so viel Auswahl, nicht genug für eine förmliche Veranstaltung wie diese—“

Bitte!“, sagte Sam endlich, während sie fröhlich durch den Wald hüpfte, „ich unterbreche nur ungern, aber ich habe Fragen an dich. Bitte. Ich brauche Antworten.“

Endlich hörte sie zu reden auf, und er atmete erleichtert auf. Sie sah ihn mit so etwas wie Verwunderung an, als hätte sie überhaupt nicht mitbekommen, dass sie die ganze Zeit über geredet hatte.

„Du brauchst nur fragen!“, sagte sie fröhlich. Und dann, bevor er noch reagieren konnte, fügte sie ungeduldig hinzu, „Also? Was gibt es?“

„Du sagtest, du wurdest nach mir geschickt“, sagte Sam. „Von wem?“

„Das ist einfach“, sagte sie. „Aiden.“

„Wer ist das?“, fragte Sam.

Sie kicherte, „Du liebe Zeit, du hast wohl noch viel zu lernen, nicht wahr? Er ist nur schon seit tausenden Jahren der Mentor unseres Clans. Ich bin nicht sicher, warum er an dir interessiert ist, oder warum er mich an einem so schönen Tag den ganzen Weg durch den Wald schickt, um dich zu holen. Wie ich es sehe, hättest du den Weg auch selbst finden können, schlussendlich jedenfalls. Nicht zu vergessen, dass ich heute tausend Dinge zu tun gehabt hätte, inklusive dieses neuen Kleids, und—“

Bitte“, sagte Sam und versuchte, seine Gedanken festzuhalten, bevor sie sich wieder verflüchtigten. „Ich schätze es wirklich sehr, dass du mich abgeholt hast und alles, und ich will nicht respektlos erscheinen“, sagte er, „aber wo auch immer du mich hinbringst, ich habe nicht wirklich Zeit dafür. Siehst du, ich bin aus einem Grund hierher gekommen, an diesen Ort in dieser Zeit. Ich muss meiner Schwester helfen. Ich muss sie finden—und ich habe keine Zeit für Abstecher.“

„Nun, ich würde das wohl kaum einen Abstecher nennen“, sagte Polly. „Aiden ist der einflussreichste Mann am ganzen Hof. Wenn er Interesse an dir hat, ist das nicht etwas, das man verwirft“, sagte sie. „Und wer auch immer es ist, den du finden willst, wenn dir irgendwer den Weg weisen kann, dann wäre er das.“

„Und wohin gehen wir dann jetzt genau? Und wie weit ist es noch?“

Sie machte mehrere weitere Schritte durch den Wald, und er beeilte sich, ihr nachzukommen und fragte sich, ob sie je antworten würde, ihm je geradeheraus eine Antwort geben würde—als sich in dem Moment der Wald plötzlich lichtete.

Sie hielt an und er blieb neben ihr stehen, in Ehrfurcht erstarrt.

Vor ihm lag ein immenses offenes Feld, das in der Ferne zu einer makellosen Gartenanlage führte, in deren Rasen kunstvolle Formen in allen Größen geschnitten worden waren. Es war wunderschön, wie ein lebendiges Kunstwerk.

Noch atemberaubender war, was direkt hinter den Gärten lag. Es war ein Palast, prächtiger als jedes Bauwerk, das Sam in seinem Leben gesehen hatte. Das gesamte Gebäude war aus Marmor gebaut, und es erstreckte sich so weit das Auge reichte in alle Richtungen. Es war eine klassische Anlage mit dutzenden übergroßen Fenstern und einer breiten Marmortreppe, die zum Eingang hochführte. Er wusste, dass er irgendwo Bilder von diesem Bauwerk gesehen hatte, doch er konnte sich nicht erinnern, was es war.

„Versailles“, sagte Polly zur Antwort, als würde sie seine Gedanken lesen.

Er sah sie an, und sie lächelte zurück.

„Hier leben wir. Du bist in Frankreich. Im Jahr 1789. Und ich bin sicher, dass Aiden erlauben wird, dass du dich zu uns gesellst, vorausgesetzt, Marie gestattet es.“

Sam blickte sie verwirrt an.

„Marie?“, fragte er.

Sie lächelte breiter und schüttelte den Kopf. Sie wandte sich ab und hüpfte über das Feld auf den Palast zu. Dabei rief sie ihm über die Schulter hinweg zu.

„Na Marie Antoinette natürlich!“

*

Sam schritt an Pollys Seite die endlose Marmortreppe hoch, auf die Tore des Palasts zu. Unterwegs nahm er seine Umgebung in sich auf. Die Ausmaße und die Proportionen dieses Ortes waren gewaltig. Überall um ihn herum spazierten Leute durch die Anlage, die wohl Adelige sein mussten, in die feinsten Gewandungen gehüllt, die er je gesehen hatte. Er konnte diesen Ort nicht fassen. Wenn ihm jemand gesagt hätte, dass er träumte, hätte er es geglaubt. Er war noch nie zuvor in der Gegenwart von Adel gewesen.

Polly hatte nicht zu reden aufgehört, und er zwang sich dazu, sich wieder auf ihre Worte zu konzentrieren. Er mochte ihre Gegenwart und genoss ihre Gesellschaft, selbst wenn es wirklich schwierig war, ihr gegenüber aufmerksam zu bleiben. Er fand sie auch sehr hübsch. Aber sie hatte etwas an sich, das ihn unsicher machte, ob er sich wirklich zu ihr hingezogen fühlte, oder sie nur als Freund gern hatte. Mit seinen bisherigen Freundinnen war es Lust auf den ersten Blick gewesen. Bei Polly war es eher eine Art Kameradschaft.

„Verstehst du, die königliche Familie lebt hier“, sagte Polly, „aber wir wohnen auch hier. Sie möchten das so, dass wir hier sind. Immerhin sind wir der beste Schutz, den sie haben. Wir leben zusammen in etwas, das du wohl freundschaftliche Harmonie nennen könntest. Es dient beiden Seiten. Mit diesem riesigen Wald haben wir unbegrenzte Jagdgründe, einen tollen Wohnort und tolle Gesellschaft. Und im Gegenzug helfen wir, die königliche Familie zu beschützen. Nicht zu vergessen, dass einige von ihnen sowieso von unserer Art sind.“

Sam blickte sie überrascht an.

„Marie Antoinette?“, fragte er.

Polly nickte leicht, als würde sie es geheim halten wollen, aber es nicht schaffen.

„Aber verrate es niemandem“, sagte sie. „Es gibt auch noch ein paar andere. Aber die meisten Königlichen sind Menschen. Sie wollen zu uns gehören. Aber hier herrschen strikte Regeln, und es ist nicht erlaubt. Sie sind da und wir sind hier, und es ist uns nicht gestattet, diese Grenze zu überschreiten. Es gibt gewisse Mitglieder der königlichen Familie, von denen wir nicht wollen, dass sie zu viel Macht bekommen. Und auch Marie besteht darauf.

Jedenfalls ist das hier einfach ein so fabelhafter Ort. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es jemals enden sollte. Es gibt ein Fest nach dem anderen, endlose Tänze, Bälle, Konzerte… diese Woche findet das allertollste davon statt. Eine Oper, genauergesagt. Ich habe mir schon ausgesucht, was ich tragen werde.“

Als sie den Türen näherkamen, huschten mehrere Diener hervor, um sie zu öffnen. Die goldenen Türen waren riesig, und Sam blickte sie ehrfürchtig an, während er hindurchschritt.

Polly marschierte geradewegs einen riesigen Marmorkorridor hinunter, als würde er ihr gehören, und Sam eilte ihr nach. Unterwegs blickte sich Sam überall um, die Opulenz bestaunend. Sie liefen endlose Marmorkorridore entlang, mit enormen Kristallleuchtern, die tief herunterhingen und das Licht aus dutzenden goldgerahmten Spiegeln zurückwarfen. Die Sonne schien herein und reflektierte das Licht in alle Richtungen.

Sie durchschritten eine Tür nach der anderen und betraten schließlich einen riesigen Salon, aus Marmor gebaut und von Säulen eingefasst. Mehrere Wachen standen stramm, als Polly eintrat.

Polly kicherte nur, anscheinend gegen sie immun. „Wir können hier auch trainieren“, sagte sie. „Ihre Ausstattung ist bestens. Aiden hat einen strengen Zeitplan für uns. Ich war überrascht, dass ich überhaupt eine Pause bekommen habe, um dich abzuholen. Du musst ganz schön wichtig sein.“

„Also wo ist er?“, fragte Sam. „Wann kann ich ihn sprechen?“

„Na du bist aber ungeduldig. Er ist ein vielbeschäftigter Mann. Es kann gut sein, dass er dich eine Weile lang nicht treffen möchte. Oder er lässt dich sofort zu sich rufen. Keine Sorge, du wirst schon wissen, wann er dich sprechen will. Lass ihm Zeit. In der Zwischenzeit soll ich dir dein Zimmer zeigen.“

„Mein Zimmer?“, fragte Sam überrascht. „Warte mal eine Sekunde. Ich habe nicht gesagt, dass ich hier bleiben kann. Wie schon gesagt, ich muss wirklich meine Schwester finden“, fing Sam an, zu protestieren—doch in dem Moment öffnete sich ein riesiges Paar Flügeltüren vor ihnen.

Ein Gefolge von Adeligen trat plötzlich herein, eine Frau in der Mitte umringend, die sie auf einem königlichen Thron hereintrugen.

Sie setzten sie ab, und Polly verbeugte sich tief und bedeutete Sam, es ihr gleichzutun. Er tat es.

Eine Frau, bei der es sich nur um Marie Antoinette handeln konnte, stieg langsam herunter, machte einige Schritte auf sie zu und blieb direkt vor Sam stehen und deutete ihm, sich zu erheben. Er tat es.

Sie blickte an Sam hoch und runter, als wäre er ein interessanter Gegenstand.

„Du bist also der neue Junge“, sagte sie ausdruckslos. Ihre grünen Augen brannten mit einer Intensität, die er noch nie gesehen hatte, und er konnte in der Tat spüren, dass sie eine von ihnen war.

 

Endlich, nach einer gefühlten Ewigkeit, nickte sie. „Interessant.“

Mit diesen Worten schritt sie geradewegs an ihnen vorbei, rasch gefolgt von ihrer Gefolgschaft.

Doch eine Person blieb zurück, eindeutig eine der Adeligen. Sie wirkte wie etwa 17 und war von Kopf bis Fuß in eine königsblaue Samtrobe gehüllt. Sie hatte die hellste Haut, die Sam je gesehen hatte, und dazu lange blonde Locken und stechende meeresblaue Augen. Sie richtete ihren Blick direkt auf Sam und fing seinen Blick ein.

Er fühlte sich unter ihrem Blick hilflos, nicht in der Lage, woanders hinzusehen.

Sie war das schönste Mädchen, das er je gesehen hatte.

Nach mehreren Sekunden trat sie einen Schritt nach vorne und starrte ihm noch näher in die Augen. Sie streckte die Hand aus, Handfläche nach unten, eindeutig erwartend, dass er sie küsste. Sie bewegte sich bedächtig, stolz.

Sam nahm ihre Hand und war elektrisiert von der Berührung ihrer Haut. Er zog ihre Fingerspitzen heran und küsste sie.

„Polly?“, fragte das Mädchen. „Willst du uns einander nicht vorstellen?“

Es war keine Frage. Es war ein Befehl.

Polly räusperte sich widerwillig.

„Kendra, Sam“, sagte sie. „Sam, Kendra.“

Kendra, dachte Sam, starrte ihr in die Augen und war verblüfft darüber, mit welcher Aggressivität sie zurückstarrte; als wäre er jetzt schon ihr Besitztum.

„Sam“, wiederholte sie lächelnd. „Ein wenig schlicht. Aber mir gefällt es.“

KAPITEL SECHS

Kyle durchbrach den steinernen Sarg mit einem einzelnen Faustschlag. Er zersplitterte in eine Million Stücke, und er trat geradewegs aus dem aufrecht stehenden Sarg hervor, auf den Beinen und kampfbereit.

Er wirbelte herum, bereit, jeden anzugreifen, der auf ihn zukommen sollte. Tatsächlich hoffte er, dass jemand zum Kämpfen auf ihn losging. Diese Zeitreise war besonders nervend gewesen, und er hatte Lust, seinen Zorn an jemandem auszulassen.

Doch als er sich umblickte, sah er zu seiner Enttäuschung, dass die Kammer leer war. Da war nur er.

Langsam kühlte sein Zorn ab. Zumindest war er am richtigen Ort gelandet und, wie er jetzt schon spüren konnte, in der richtigen Zeit. Er wusste, dass er geübter im Zeitreisen war als Caitlin, und er konnte sich genauer platzieren. Er blickte sich um, und zu seiner Zufriedenheit sah er, dass er genau da war, wo er sein wollte: Les Invalides.

Les Invalides war ein Ort, den er immer schon geliebt hatte, ein wichtiger Ort für jene seiner Art, die mehr dem Bösen geneigt waren. Ein Mausoleum tief unter der Erde, aus Marmor erbaut, wunderschön verziert, mit Sarkophagen, die sich an den Mauern entlang reihten. Das Gebäude hatte eine zylindrische Form, mit einer 30 Meter hoch aufragenden Decke, die in einer Kuppel endete. Es war ein Ort der Trauer, die perfekte Ruhestätte für all die Elitesoldaten Frankreichs. Es war auch, wie Kyle wusste, der Ort, an dem Napoleon eines Tages bestattet sein würde.

Doch noch nicht. Es war erst 1789, und Napoleon, der kleine Bastard, war noch am Leben. Eines von Kyles Lieblingsexemplaren ihrer Art. Er würde gerade um die 20 Jahre alt sein, erkannte Kyle, gerade am Anfang seiner Karriere. Er würde noch einige Zeit lang nicht hier begraben sein. Da natürlich Napoleon von seiner Art war, war das Begräbnis eine reine Schau, rein dazu gedacht, die Massen der Menschen glauben zu lassen, er wäre einer von ihnen gewesen.

Kyle lächelte beim Gedanken daran. Hier war er nun, in Napoleons letzter Ruhestätte, bevor Napoleon überhaupt „gestorben“ war. Er freute sich darauf, ihn wiederzusehen und in alten Zeiten zu schwelgen. Immerhin war er einer der wenigen seiner Art, für den Kyle zumindest halben Respekt übrig hatte. Aber er war auch ein arroganter kleiner Bastard. Kyle würde ihn zurechtstutzen müssen.

Kyle überquerte langsam mit hallenden Schritten den Marmorboden und sah sich an. Er hatte schon bessere Zeiten gesehen. Er hatte ein Auge an dieses grässliche kleine Kind, Calebs Sohn, verloren, und sein Gesicht war immer noch entstellt von dem, was Rexius ihm in New York angetan hatte. Als wäre das nicht genug, hatte er nun eine große Wunde an der Wange von dem Speer, den Sam im Kolosseum auf ihn geschleudert hatte. Er war ein Wrack, und das wusste er.

Aber es gefiel ihm auch irgendwie. Er war ein Überlebender. Er war am Leben, und niemand hatte es geschafft, ihn aufzuhalten. Und er war wütender als je zuvor. Nicht nur war er entschlossen, Caitlin und Caleb davon abzuhalten, das Schild zu finden, doch nun war er auch fest entschlossen, sie beide bezahlen zu lassen. Sie leiden zu lassen, so wie er gelitten hatte. Sam stand auch auf seiner Liste. Sie alle drei—er würde vor nichts Halt machen, bevor er nicht jeden von ihnen genüsslich gefoltert hatte.

Mit wenigen Sprüngen lief Kyle die Marmortreppe hoch und in das obere Geschoss des Grabmals. Er schlug einen Bogen zum Ende der Kapelle unter der riesigen Kuppel, und griff hinter den Altar. Er befühlte die Mauer aus Kalkstein, suchend.

Endlich fand er, was er gesucht hatte. Er drückte einen versteckten Riegel, und ein Geheimfach öffnete sich. Er griff hinein und zog ein langes, silbernes Schwert hervor, dessen Griff mit Juwelen besetzt war. Er hielt es gegen das Licht und begutachtete es zufrieden. Genau so, wie er es in Erinnerung hatte.

Er warf es sich über die Schulter, drehte sich um und machte sich auf den Weg den Korridor entlang zum Eingangstor. Er holte aus und mit einem mächtigen Tritt flog die große Eichentür aus den Angeln. Der Krach hallte durch das leere Gebäude. Kyle war zufrieden darüber, dass er seine volle Kraft bereits zurückhatte.

Kyle sah, dass es eine ruhige Nacht war, und er entspannte sich. Wenn er wollte, konnte er durch die Nacht fliegen, direkt auf sein Ziel zu—doch er wollte seine Zeit genießen. Das Paris von 1789 war ein besonderer Ort. Es war immer noch, erinnerte er sich, gespickt mit Huren, Säufern, Spielern, Kriminellen. Hinter den schönen Fassaden und der Architektur lag ein ausgedehntes Nachtleben im Untergrund. Er liebte es. Die Stadt stand ihm zur vollen Verfügung.

Kyle hob das Kinn, lauschte, spürte, schloss die Augen. Er konnte Caitlins Präsenz in der Stadt deutlich spüren. Und Calebs. Bei Sam war er sich nicht so sicher, aber er wusste, dass zumindest zwei von ihnen hier waren. Das war gut. Nun musste er sie nur noch finden. Er würde sie überrumpeln und, schätzte er, sie recht einfach beide umbringen können. Paris war ein viel simplerer Ort. Es gab keinen großen Rat der Vampire wie in Rom, dem er Rede und Antwort stehen musste. Noch besser, es gab hier einen starken bösen Clan, geführt von Napoleon. Und Napoleon war ihm was schuldig.

Kyle beschloss, dass der erste Punkt auf seiner Tagesordnung sein würde, den verkümmerten kleinen Kerl aufzuspüren und ihn bezahlen zu lassen. Er würde von Napoleon alle seine Männer einfordern, die tun sollten, was sie konnten, um Caitlin und Caleb aufzuspüren. Er wusste, dass Napoleons Männer nützlich sein würden, wenn er auf Widerstand stoßen sollte. Er würde diesmal nichts dem Zufall überlassen.

Aber er hatte noch Zeit. Er konnte zuerst seinen Durst stillen und seine beiden Füße fest auf den Boden pflanzen. Außerdem war sein Plan hier bereits in Bewegung gesetzt worden. Bevor er Rom verlassen hatte, hatte er seinen alten Handlanger Sergei aufgetrieben und ihn hierher vorausgeschickt. Wenn alles nach Plan verlaufen war, war Sergei bereits hier und hart an der Arbeit, ihre Mission zu erfüllen und Aidens Clan zu infiltrieren. Kyle grinste breit. Er liebte nichts mehr als einen Verräter, ein kleines Wiesel wie Sergei. Er hatte sich zu einem äußerst nützlichen Spielzeug entwickelt.

Kyle sprang wie ein Schuljunge voll Freude die Treppen hinunter, bereit, sich direkt auf die Stadt zu stürzen und sich zu nehmen, was immer er wollte.

Als Kyle die Straße entlang lief, sprach ihn ein Straßenkünstler an, ihm Leinwand und Pinsel entgegenstreckend, ihm deutend, er möge ihm gestatten, ihn zu malen. Wenn Kyle eines hasste, dann war das jemand, der ihn malen wollte. Er hatte aber so gute Laune, dass er beschloss, den Mann am Leben zu lassen.

Doch als der Mann nicht nachgab und Kyle aggressiv nachlief und ihm die Leinwand entgegenstieß, verspielte er sein Glück. Kyle holte aus, packte seinen Pinsel und stieß ihm dem Mann direkt zwischen die Augen. Eine Sekunde später brach der Mann tot zusammen.

Kyle nahm die Leinwand und zerfetzte sie über der Leiche.

Kyle setzte recht selbstzufrieden seinen Weg fort. Es war jetzt schon eine großartige Nacht.

Als er in eine gepflasterte Gasse einbog, auf dem Weg in den Bezirk, an den er sich erinnerte, fühlte sich alles langsam wieder vertraut an. Mehrere Huren säumten die Straßen und winkten ihn zu sich. Gleichzeitig stolperten zwei große Männer aus einer Kneipe hervor, eindeutig betrunken, und stießen Kyle hart an, nicht darauf achtend, wohin sie gingen.

„He, du Idiot!“, schrie ihn einer von ihnen an.

Der andere wandte sich Kyle zu. „He, Einauge!“, schrie er. „Pass auf, wo du hinläufst!“

Der große Mann hob die Arme, um Kyle einen kräftigen Stoß an die Brust zu versetzen.

Doch seine Augen weiteten sich überrascht, als sein Stoß keine Wirkung zeigte. Kyle war nicht von der Stelle gerückt; es war, als hätte er eine Steinmauer gestoßen.

Kyle schüttelte langsam den Kopf, erstaunt über die Dummheit dieser Männer. Bevor sie reagieren konnten, griff er nach hinten über seine Schulter, zog sein Schwert mit einem Klirren, und mit einer fließenden Bewegung schwang er es und schlug ihnen beiden im Bruchteil einer Sekunde die Köpfe ab.

Er sah zufrieden zu, wie ihre Köpfe davonrollten und beide Körper zu Boden sackten. Er steckte sein Schwert weg, packte eine der kopflosen Leichen und zog sie zu sich. Er versenkte seine Fangzähne direkt im offenen Hals und trank herzhaft, während das Blut herausspritzte.

Kyle konnte die Schreie der Huren um ihn herum ausbrechen hören, als sie sahen, was geschah. Dem folgten die Geräusche von Türen und Fensterläden, die zugeschlagen wurden.

Die ganze Stadt hatte jetzt schon vor ihm Angst, erkannte er.

Gut, dachte er sich. Das war eine Begrüßung, wie er sie gern hatte.

KAPITEL SIEBEN

Caitlin und Caleb flogen weg von Paris, bei Tagesanbruch über die französische Landschaft; sie klammerte sich fest an seinen Rücken, während er durch die Luft sauste. Sie fühlte sich inzwischen stärker und hatte das Gefühl, wenn sie fliegen wollte, dann könnte sie dies nun. Doch sie wollte ihn nicht loslassen. Sie liebte es, wie sein Körper sich anfühlte. Sie wollte ihn einfach nur festhalten, spüren, wie es war, wieder zusammenzusein. Sie wusste, es war verrückt, aber nachdem sie so lange getrennt gewesen waren, hatte sie Angst, dass er für immer davonfliegen würde, wenn sie ihn nun losließ.

Unter ihnen änderte sich die Landschaft ständig. Recht bald verschwand die Stadt, und die Landschaft wurde zu dichten Wäldern und sanften Hügeln. Näher an der Stadt lagen gelegentlich Häuser, Bauernhöfe. Doch je weiter sie sich entfernten, umso offener wurde das Land. Sie kamen an einem Feld nach dem anderen vorbei, weitläufigen Wiesen, gelegentlichen Bauernhöfen, grasenden Schafen. Aus Schornsteinen stieg Rauch auf, und sie nahm an, dass Leute am Kochen waren. Wäscheleinen spannten sich über Rasen, und Laken hingen von ihnen herunter. Es war ein idyllischer Anblick, und die Juli-Temperaturen waren gerade genug gesunken, dass die kühlere Luft, besonders so hoch hier oben, erfrischend war.

Nach stundenlangem Fliegen machten sie eine Kurve, und der neue Ausblick raubte Caitlin den Atem: da am Horizont lag ein schimmerndes Meer, leuchtend blau, dessen Wellen gegen eine endlose, unberührte Küste rauschten. Als sie näherkamen, stieg das Land höher an, und die sanften Hügel kamen direkt ans die Küste heran.

Eingebettet in die Hügel, inmitten des hohen Grases, sah sie ein vereinzeltes Gebäude am Horizont stehen. Es war eine prächtige mittelalterliche Burg, aus antikem Kalkstein gestaltet, übersät mit kunstvollen Skulpturen und Wasserspeiern. Sie lag hoch auf einem Hügel eingebettet, überblickte das Meer und war umringt von Feldern von Wildblumen, soweit das Auge reichte. Es war atemberaubend schön, und Caitlin fühlte sich, als wäre sie in einer Postkarte gelandet.

Caitlins Herz schlug vor Aufregung hoch, als sie sich fragte, ob dies, wie sie zu träumen wagte, Calebs Heim sein konnte. Irgendwie spürte sie, dass es das war.

„Ja“, rief er ihr durch den Wind zu, wie immer ihre Gedanken lesend. „Hier ist es.“

 

Caitlins Herz pochte vor Entzücken. Sie war so aufgeregt, und fühlte sich so stark, dass sie bereit war, selbst zu fliegen.

Sie sprang plötzlich von Calebs Rücken herunter und schwang sich durch die Luft. Einen Moment lang war sie entsetzt, unsicher, ob ihre Flügel hervortreten würden. Doch einen Moment später taten sie es und trugen sie durch die Luft.

Sie liebte das Gefühl, wie die Luft durch sie floss. Es fühlte sich toll an, sie wiederzuhaben, unabhängig zu sein. Sie stieg und fiel, schoss in die Höhe neben Caleb, der ihr Lächeln erwiderte. Sie stürzten sich gemeinsam in die Tiefe, dann hoch, schwangen sich hin und her durch die Luftlinie des anderen, und manchmal berührten sich ihre Flügelspitzen.

Gemeinsam schwangen sie sich hinunter, auf die Burg zu. Sie sah uralt aus; sie wirkte abgenutzt, aber nicht auf schlechte Art. Für Caitlin fühlte sie sich jetzt schon an wie ein Zuhause.

Während sie alles in sich aufnahm, die Landschaft betrachtete, die sanften Hügel, den fernen Ozean, verspürte sie das erste Mal seit sie sich erinnern konnte eine Art Frieden. Sie fühlte sich, als wäre sie endlich zuhause. Sie konnte ihr gemeinsames Leben mit Caleb hier sehen, zusammenleben, vielleicht sogar noch einmal eine Familie gründen, wenn das möglich war. Sie würde glücklich den Rest ihrer Tage hier mit ihm verbringen—und endlich, endlich, konnte sie nichts sehen, dass ihnen dazu im Weg stand.

*

Caitlin und Caleb landeten zusammen vor seiner Burg, und er nahm ihre Hand und führte sie zum Eingangstor. Die Eichentür war von einer dicken Schicht Staub und Meersalz überzogen und war eindeutig schon jahrelang nicht geöffnet worden. Er probierte den Türknauf. Sie war verschlossen.

„Es ist hunderte Jahre her“, sagte er. „Ich bin freudig überrascht, dass sie überhaupt noch hier ist, nicht von Vandalen zerstört—dass sie sogar immer noch verschlossen ist. Es gab da einen Schlüssel…“

Er streckte die Hand hoch über den Türrahmen hinaus und fühlte die Kerbe hinter dem Steinbogen. Er suchte sie mit den Fingern ab, und schließlich hielt er inne und holte einen langen silbernen Skelettschlüssel hervor.

Er schob ihn ins Schloss, und er passte perfekt. Mit einem Klicken drehte er ihn herum.

Er lächelte ihr zu und trat zur Seite. „Du hast die Ehre“, sagte er.

Caitlin drückte gegen die schwere mittelalterliche Tür, und sie öffnete sich langsam, krächzend, und Brocken von verkrustetem Salz fielen dabei von ihr ab.

Gemeinsam gingen sie hinein. Der Eingangsraum war düster und von Spinnweben überzogen. Die Luft war abgestanden und feucht, und man konnte spüren, dass sie seit Jahrhunderten nicht mehr betreten worden war. Sie blickte an den hohen, gewölbten Steinmauern hoch, an den steinernen Fußböden entlang. Alles war von mehreren Schichten Staub überzogen, auch die Glasfenster, und das blockierte das Licht und ließ es finsterer erschienen, als es war.

„Hier entlang“, sagte Caleb.

Er nahm ihre Hand und führte sie einen engen Korridor hinunter, der am Ende in eine Festhalle führte, mit hohen, gewölbten Fenstern zu beiden Seiten. Hier drin war es wesentlich heller, selbst mit dem Staub. Hier drin standen auch noch einige übrig gebliebene Möbel: eine lange, mittelalterliche Eichentafel, umringt von reich verzierten Holzstühlen. Im Zentrum der Halle stand ein riesiger Marmorkamin, einer der größten Kamine, die Caitlin je gesehen hatte. Es war unglaublich. Caitlin fühlte sich, als wäre sie geradewegs wieder in die Cloisters marschiert.

„Ich habe es im 12. Jahrhundert bauen lassen“, sagte er, während er sich umblickte. „Damals war das der gängige Stil.“

„Du hast hier gelebt?“, fragte Caitlin.

Er nickte.

„Wie lange?“

Er dachte nach. „Nicht länger als ein Jahrhundert“, sagte er. „Zwei vielleicht.“

Caitlin war wieder einmal erstaunt über die riesigen Zeitschritte in der Welt der Vampire.

Plötzlich wurde sie jedoch besorgt, als ihr etwas anderes einfiel: hatte er hier mit einer anderen Frau gelebt?

Sie hatte Angst, zu fragen.

Plötzlich wandte er sich zu ihr herum und sah sie an.

„Nein, das habe ich nicht“, sagte er. „Ich habe hier allein gelebt. Das versichere ich dir. Du bist die erste Frau, die ich je hierher gebracht habe.“

Caitlin fühlte sich erleichtert, aber auch beschämt darüber, was er in ihren Gedanken gelesen hatte.

„Komm mit“, sagte er. „Hier entlang.“

Er führte sie eine steinerne Wendeltreppe hoch, die sie in den zweiten Stock führte. Dieser Stock war viel heller, mit großen gewölbten Fenstern in alle Richtungen, durch die das Sonnenlicht hereinfiel, das sich am fernen Meer spiegelte. Die Zimmer hier waren kleiner, intimer. Es gab weitere Marmorkamine, und als Caitlin von Zimmer zu Zimmer wanderte, sah sie ein riesiges Himmelbett, das eines von ihnen dominierte. Chaiselongues und dick gepolsterte Samtstühle waren in den anderen Zimmern verteilt. Es gab keine Teppiche, nur den nackten Steinboden. Das wirkte sehr karg. Aber schön.

Er führte sie durch das Zimmer zu einem Paar riesiger Flügeltüren. Sie waren mit so viel Staub bedeckt, dass sie nicht einmal gewusst hatte, dass sie da waren. Er trat auf sie zu und zerrte kräftig an den Schlössern und Schnallen, und endlich, mit einem Krachen und einer Staubwolke, öffneten sie sich.

Er trat hinaus, und Caitlin folgte ihm.

Sie traten auf eine riesige Steinterrasse hinaus, die von einer reich verzierten Brüstung aus Kalksteinsäulen umsäumt war. Gemeinsam traten sie bis an die Kante und blickten hinaus.

Von hier hatten sie eine eindrucksvolle Aussicht über die gesamte Gegend, über das Meer. Caitlin konnte die Wellen rauschen hören und das Meer in der sanften Brise riechen. Sie fühlte sich wie im Himmel.

Wenn Caitlin sich je ein Traumhaus ausgemalt hatte, dann wäre es mit Sicherheit dieses. Es war staubig und brauchte einen weiblichen Touch, aber Caitlin wusste, dass sie es herrichten und in den Zustand zurückversetzen konnten, in dem es einmal gewesen war. Sie fühlte, dass dies wahrhaft ein Ort sein könnte, den sie gemeinsam Zuhause nennen konnten.

„Ich habe darüber nachgedacht, was du gesagt hast“, sagte er, „den ganzen Flug hierher über. Darüber, ein Leben gemeinsam aufzubauen. Das würde mir sehr gefallen.“

Er legte einen Arm um sie.

„Ich hätte gerne, dass du hier mit mir lebst. Dass wir unser Leben von Neuem beginnen. Genau hier. Es ist hier ruhig, und sicher, und geschützt. Niemand kennt diesen Ort. Niemand wird uns hier je finden. Ich sehe keinen Grund, warum wir unser Leben hier nicht als gewöhnliche Leute zu Ende leben können sollten“, sagte er. „Natürlich wird es viel Arbeit sein, es zu renovieren. Aber ich bin dabei, wenn du es bist.“

Er lächelte sie an.

Sie lächelte zurück. Sie war noch nie zuvor in ihrem Leben mehr dabei gewesen.

Mehr als das, fühlte sie sich zutiefst gerührt davon, dass er sie eingeladen hatte, mit ihm zu leben. Nichts hatte ihr je mehr bedeutet. In Wahrheit hätte sie egal wo mit ihm gelebt, und wenn es eine Hütte im Wald gewesen wäre.

„Sehr gerne“, antwortete sie. „Ich will einfach nur mit dir zusammen sein.“

Ihr Herz pochte, als sie zu einem Kuss zusammentrafen, mit dem Wellenrauschen im Hintergrund, der Meeresbrise über ihnen.

Endlich war alles in ihrer Welt wieder perfekt.

*

Caitlin war noch nie so glücklich gewesen wie jetzt, als sie durch das Haus schlenderte, von Zimmer zu Zimmer, mit einem Putzlappen bewaffnet. Caleb war jagen gegangen, aufgeregt darüber, ihnen beiden das Abendessen nach Hause zu bringen. Sie war begeistert, weil ihr das etwas Zeit gab, alleine durch das Haus zu streifen, alles in Ruhe in sich aufzunehmen, es mit den Augen einer Frau anzusehen, um festzustellen, wie sie es herrichten und in ein Zuhause für sie beide verwandeln konnte.

Sie ging durch die Zimmer, öffnete Fenster, ließ die Meeresluft herein. Sie hatte einen Eimer und Lappen gefunden und war zum Fluss hinuntergegangen, den sie durch den Hinterhof fließen gesehen hatte, und mit einem übervollen Eimer Wasser zurückgekehrt. Sie hatte den Lappen im Fluss ausgespült, bis er so sauber wie möglich war. Sie hatte eine große Kiste gefunden, auf der sie stehen konnte, und während sie eines nach dem anderen der riesigen, mittelalterlichen Fenster öffnete, stellte sie sich auf die Kiste und wischte jede Scheibe. Ein paar Fenster gab es, die einfach zu hoch für sie waren, um sie zu erreichen, und für diese aktivierte sie ihre Flügel, flatterte hoch in der Luft und schwebte vor den Fenstern, um sie zu reinigen.