Elisabeth Petznek

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I Die Geister, die sie rief
Unheimliche Fälle auf Schloss Schönau


Ein Geisterfoto, das eine Ektoplasma-Erscheinung zeigt. Es wurde bei Rotlicht aufgenommen und erscheint durch die Bewegungen des Mediums unscharf. Hier zu sehen: Das Medium Stanislawa P., das auch Albert von Schrenck-Notzing, Erzsis Spiritismus-Sachverständiger, bei „Sitzungen“ beschäftigte. Ob die Erscheinung „echt“ ist – darüber scheiden sich die Geister.

„Als Medium ist er natürlich unersetzlich.“

(Albert von Schrenck-Notzing warnt Erzsi vor einem Betrüger.)

„Es war fabelhaft!“ Sichtlich begeistert berichtete Erzsis ältester Sohn Franz Joseph, genannt Franzi, später seiner Frau Ghislaine von den Séancen, die seine Mutter etwa zehn Jahre lang veranstaltete. Franzi war damals um die 20 Jahre alt und auf Wunsch seiner Mutter musste er bei den Geisterbeschwörungen immer dabei sein, da man das Verhalten der Medien und der von ihnen hervorgerufenen Erscheinungen kaum vorhersehen konnte. Obwohl sich Erzsi von den besten Hypnosefachleuten und Parapsychologen ihrer Zeit ausbilden und schulen ließ, respektierte sie die Manifestationen und wollte ihre beiden bereits erwachsenen Söhne bei den Sitzungen um sich haben. Sie fürchtete nämlich, von gewalttätigen Erscheinungen angegriffen zu werden. Der zweitälteste Ernst Weriand, genannt Erni, weigerte sich aber und so blieb es an Franzi hängen, Zeuge der unterschiedlichen Dinge zu werden, die sich im verdunkelten Boudoir seiner Mutter abspielten. Ghislaine Windisch-Graetz verdanken wir viele Berichte über diese spiritistischen Sitzungen. Erzsi selbst sprach nie darüber. Ihre schriftlichen Aufzeichnungen wären sehr wertvoll und interessant, sind jedoch nicht erhalten geblieben. Sie schrieb ihre Erfahrungen in Briefen an ihren Lehrmeister, den deutschen Arzt Albert von Schrenck-Notzing (1862–1929), nieder. Man könnte ihn als führende Kapazität auf dem Gebiet der Parapsychologie bezeichnen. Er führte einen regen Briefverkehr mit zahlreichen bekannten Persönlichkeiten, war ein enger Freund von Erzsi und wurde wiederholt in ihren damaligen Wohnsitz nach Schönau in Niederösterreich eingeladen, wo er oft viele Wochen am Stück verbrachte.

Die Briefe, die Erzsi für Schrenck-Notzing verfasste, wurden von den Nationalsozialisten verbrannt. Okkultismus war – zumindest offiziell – dem NS-Regime ein Dorn im Auge. Außerdem waren viele Mitglieder in Schrenck-Notzings Zirkel adeliger Abstammung und standen daher im Fokus der neuen Machthaber. Man beabsichtigte, gegen diese Leute vorzugehen. Gleichzeitig konnten Männer aus adeligen Familien im NS-Eliteverband SS große Karrieren machen und auch Okkultisten gab es dort zur Genüge. Dennoch drangen SA-Verbände in Schrenck-Notzings ehemaliges Laboratorium in München ein, verbrannten seinen Briefverkehr, seine Bücher und auch unzählige Fotos der von ihm dokumentierten Erscheinungen. Die Räume seiner einstigen Münchner Wohnung wurden verwüstet. In Erzsis Briefen dürften ihre Versuchsanordnungen und die Ergebnisse, die sie erzielt hatte, genau beschrieben gewesen sein.

Der „Geisterbaron“

Schrenck-Notzing war wissenschaftlich ungeheuer penibel und hielt jede Bewegung, den leisesten Lufthauch, fest – schriftlich und in Form von Fotos. Sein Ziel war es, die Parapsychologie genauso wie die Sexualwissenschaft, mit der er sich medizinisch auseinandersetzte, als exakte Naturwissenschaften zu etablieren. Seine Selbstdefinition lautete „Spezialist für Nervenkrankheiten und Sexual-Pathologie“. Er war gewissermaßen der erste Psychotherapeut im heutigen Verständnis des Begriffes. Sein Interesse galt seelischen Vorgängen und deren Auswirkungen – im körperlichen, aber auch im geistigen Bereich. Konzentration, Meditation, Beherrschung des eigenen und fremden Willens sowie Hypnose konnten seiner Ansicht nach Materialisationen hervorrufen, wenn die „Zielperson“ gewisse dafür notwendige Veranlagungen mitbrachte. Eine solche Person nannte er „Medium“. Schrenck-Notzings Versuche mit den Medien würden heute von den meisten Menschen zumindest als fragwürdig bezeichnet werden.

Einige Briefe von Schrenck-Notzing an Erzsi sind im Besitz ihrer Nachkommen erhalten geblieben. Erkennbar wird, wie genau sich der Arzt mit ihren Berichten befasst und wie sehr er sich um sie und ihr Wohlergehen gesorgt hat. Er warnte sie immer wieder vor betrügerischen Medien oder empfahl ihr „passende“, die er bereits überprüft habe. Oder er riet ihr zu ganz bestimmten Personen, die ihm für ihre Zwecke und Fragen geeignet erschienen.

Erzsis Lehrmeister Albert von Schrenck-Notzing, Arzt und Parapsychologe

Schrenck-Notzing hatte sich mit allen möglichen Aspekten der Medizin befasst, zum Beispiel „heilte“ er Homosexuelle. Die meisten Ärzte hielten Homosexualität damals für eine heilbare „Störung“ und Schrenck-Notzing hatte den Ruf, diese „Störung“ beheben zu können. Überhaupt war er in sexuellen Fragen eher rückschrittlich. So erwähnte er etwa Erzsis Lebensgefährten Leopold Petznek, den sie später heiratete, in seinen Briefen kein einziges Mal. Nach ihren vier Kindern aus erster Ehe und deren Wohlergehen erkundigte er sich aber regelmäßig. Vermutlich hat er Petznek nie getroffen, obwohl er jahrelang bei Erzsi zu Gast gewesen ist. „Wilde Ehen“ lehnte der aus einer vornehmen Familie stammende Doktor ab. Trotz dieser Bedenken gehörte zu seinem „kosmischen“ Freundeskreis nicht nur die wenig moralinsaure Kronprinzentochter, sondern auch die Münchner Skandalgräfin Franziska zu Reventlow. Diese hatte einen Sohn, dessen Vater sie zeitlebens verschwieg, und verdiente sich ihren Lebensunterhalt mit Sexarbeit, schnorrte Geld gegen kleine „Liebesdienste“ oder spielte Theater. So gesehen war Schrenck-Notzing die neue, emanzipierte Generation höherer Töchter nicht wirklich fremd.

Albert von Schrenck-Notzing war weit über München hinaus als Hypnosearzt bekannt, da er über die Erfolge der Hypnosetherapie promoviert hatte. Dass er selbst fähig war, andere zu hypnotisieren, hatte er bereits während seiner Studienzeit entdeckt. Im Krankenhaus wendete er die Suggestionstherapie an. Seine eigene parapsychologische Zeitschrift, die er sich aufgrund einer finanziell einträglichen Heirat leisten konnte, förderte zusätzlich seinen Bekanntheitsgrad und seinen Ruhm. So hatte etwa der Schriftsteller Thomas Mann die Praxisadresse Schrenck-Notzings seit 1899 in seinem Notizbuch stehen, nahm jedoch erst im Winter 1922/23 an einigen seiner okkultistischen Sitzungen teil. Die miterlebten Taschentuch-Elevationen und sogar eine teleplastische Materialisation begeisterten Thomas Mann und brachten ihn dazu, die Karriere des „Geisterbarons“ weiter zu verfolgen. Auch nach dessen Tod 1929 ging er ihm nicht aus dem Kopf. In der Novelle „Mario und der Zauberer“ (1930) beschwört Mann Erzsis Séancen-Lehrmeister posthum noch einmal herauf. Die Figur des unheimlichen Hypnotiseurs Cipolla, der auf einem Jahrmarkt (!) seine Kunststückchen zum Besten gibt – Schrenck-Notzing hätte dies als „Gaukeleien“ abgetan –, ist von dem berühmten Münchner Arzt inspiriert.

Sophie Charlotte, Schwester der Kaiserin Elisabeth, um 1867

Wie viele seiner Zeitgenossen kam Schrenck-Notzing mit der Hypnose zum ersten Mal in einem Varieté in Berührung. Damals grassierte in Europa das „Hansen-Fieber“, ausgelöst durch den dänischen Scharlatan Carl Hansen, dessen Hypnose-Darbietungen Schrenck-Notzing und sogar Sigmund Freud faszinierten. Freud beschrieb ein Hansen-Spektakel so:

„Noch als Student hatte ich einer öffentlichen Vorstellung des Magnetiseurs Hansen beigewohnt und bemerkt, daß eine der Versuchspersonen totenbleich wurde, als sie in kataleptische Starre geriet und während der ganzen Dauer des Zustandes so verharrte. Damit war meine Überzeugung von der Echtheit der hypnotischen Phänomene fest begründet.“

Seine „hypnotischen“ Demonstrationen führte der Show-Magnetiseur Hansen auch im Wiener Ringtheater vor, das 1881 abbrannte. Zu Beginn ließ Hansen seine „Patienten“ ein Stück Glas fixieren und strich ihnen über die Stirn. Er schloss ihnen Mund und Augen. Meist ließ er dann die „Patienten“ stocksteif zwischen zwei Stühlen liegen und stellte sich auf deren Körper. Viele Wissenschaftler und Ärzte fanden diese Phänomene, die auf Versuche des Magnetiseurs Franz Anton Mesmer im 18. Jahrhundert zurückgehen, durchaus bemerkenswert, wie etwa der Sexualarzt Richard von Krafft-Ebing. Er war mindestens so bekannt wie Schrenck-Notzing und befasste sich mit ähnlichen Dingen. In der Nähe von Graz führte er ein Institut, das auf die Heilung sexueller „Anomalien“ spezialisiert war. Vorwiegend behandelte er „hysterische“ Frauen, die ihren gleichgültigen, gefühlskalten, trinkenden, fremdgehenden oder gewalttätigen Ehemännern mit einem Liebhaber davongelaufen waren. Auch eine Großtante Erzsis, eine der Schwestern von Kaiserin Elisabeth, wurde zu Krafft-Ebing eingeliefert, als sie ihrem Ehegefängnis entfliehen wollte.

Esoterische Netzwerke

Hypnose-Versuche fanden nur in ganz bestimmten Arztpraxen oder Spitälern statt, da sie weder allgemein toleriert wurden geschweige denn weitgehend anerkannt waren. Auch Privathäuser wie Erzsis Schloss in Schönau wurden für solche Zwecke herangezogen. Freuds weltberühmte Theorie des Unbewussten fußt in weiten Teilen auf den erwähnten Denkgebäuden: Auf dem Mesmerismus, dem Hypnotismus und dem Somnambulismus, also der Lehre vom Schlafwandeln, die zur Zeit Mesmers noch Mondsucht („Lunatismus“) geheißen hat. Es ging in den Debatten nicht immer um den Wahrheitsgehalt dieser Theorien, sondern vielmehr standen Machtkämpfe im Vordergrund, Netzwerke von Freunden und Feinden, die für die Durchsetzung einer Idee oft wichtiger waren als deren Realitätsgehalt. Schrenck-Notzing agierte meisterhaft auf diesem heiklen Parkett und obwohl er häufig von Skeptikern angegriffen wurde, gelang es ihm, seinen wissenschaftlichen Ruf zu retten. Bekannte Unterstützer waren unabdingbar, wie etwa der Münchner Malerstar Gabriel von Max. Seine Gemälde zeigen eine intensive Auseinandersetzung mit Forschungsfeldern wie der „Hysterie“, der Hypnose, der Parapsychologie und mit dem Spiritismus. Eine höchstwohlgeborene Habsburgerin konnte in diesem Umfeld nicht schaden.

 

Das Ehepaar Schrenck-Notzing lebte auf großem Fuß in einem repräsentativen Neubau in einer noblen Münchner Gegend. Man fuhr ein nagelneues Automobil. Überhaupt liebte Herr Dr. Schrenck-Notzing den Autosport und sammelte auch selbst Kunst. Da sich unter seinen Freunden genügend berühmte Maler wie der schon erwähnte Gabriel von Max, aber auch etwa Albert von Keller, der spiritistische Sitzungen in Gemälden festhielt, tummelten, saß er gewissermaßen an der Quelle. Gemeinsam studierten die Herren Ärzte und Künstler die „Nervenrätsel kataleptischer oder ekstatischer“ (Justinus Kerner) Frauen. Diese tauchten später in den Bildern der Maler als Modelle wieder auf. Gerne lud Schrenck-Notzing zu okkulten Abenden und formulierte dort seine Thesen. Bei ausgewählten Terminen waren Presseleute anwesend, die einen nicht unwesentlichen Beitrag zur Popularisierung des Okkulten leisteten.

Man sah den Hypnotiseur Schrenck-Notzing auch als Bonvivant in Paris, im Frühjahr am Lido in Venedig, im Sommer auf Sizilien und im Winter in Nizza. Kurz, einige Mitglieder der Hautevolee befanden sich zu allen Jahreszeiten genau dort, wo sie von Schrenck-Notzing kuriert werden konnten. Auch Erzsi war im Winter fast immer am Meer und in diversen Kurorten anzutreffen.

Durch seine Beschäftigung mit dem Hypnotismus hatte Schrenck-Notzing mehrere Personen kennengelernt, die einen Ruf als Medium erlangt hatten. Diese meist jungen Mädchen und Burschen wurden zu verschiedenen Zwecken hypnotisiert, entweder von Schrenck-Notzing selbst oder anderen Ärzten. Manche Medien bevorzugten Selbsthypnose. Sobald sie den Zustand der Trance erreicht hatten, konnten ihnen Fragen gestellt oder sie um bestimmte Handlungen gebeten werden. Diese „Arbeit“ mit den Medien streifte die Grenze zum Okkultismus, denn es konnte unter anderem darum gehen, dass das Medium Kontakt mit Toten aufnehmen sollte. Doch auch dem „Geisterbaron“ waren die Geister nicht immer hold, denn dass sich tatsächlich ein Geist zeigte, war äußerst selten. Ein einziges Mal erwähnte Schrenck-Notzing in einem Brief an Erzsi, dass dieses Phänomen aufgetreten sei. Er beschrieb die Manifestation „eines ganzen Phantoms, und zwar einen deutschen Offizier in Grand tenue.“ „Grand tenue“ bedeutet, dass der Militär eine Festtagsuniform trug. Die Erscheinung wurde fotografisch festgehalten. Schrenck-Notzing lehnte an sich den Spiritismus als „Schwarmgeisterei“ ab, doch konzentrierte er seine Forschungen sehr wohl auf den Grenzbereich zwischen Geist und Materie, was dem Okkultismus sehr nahekommt.

Esoterisches zog Erzsi an; es war zu ihrer Zeit aber auch kaum möglich, dem Hype zu entkommen. Man las zwischen 1848 und dem Ende der 1920er-Jahre viel darüber, unzählige Bücher, Broschüren und Zeitungsartikel behandelten das Thema – kurz: Erzsi befasste sich mit einem sehr zeitgeistigen Bereich, der eine Hochblüte in der Publikumsgunst erlebte. Zusätzlich verbrachte sie viel Zeit an Orten, die auch Albert von Schrenck-Notzing frequentierte. Außerdem war ihr erster Ehemann, Otto zu Windisch-Graetz, ebenso wie Schrenck-Notzing ein Autonarr. Genaues über Zeit und Ort eines ersten Treffens Erzsis mit dem Paradeokkultisten seiner Zeit ist derzeit nicht bekannt.

Kranke Kinder

Erzsi konnte „normale Ärzte“, wie sie sagte, nicht leiden. Lediglich die Tiermediziner, die sich ihrer Hundezucht annahmen, schafften es gelegentlich, ihre Auftraggeberin zufriedenzustellen. Allerdings waren sowohl Erzsi als auch ihre Kinder häufig kränklich oder richtig krank und litten unter wiederkehrenden Krankheitssymptomen unerklärlicher Herkunft. Insbesondere die Azetonämie-Anfälle ihrer Kinder zehrten an Erzsis Nerven. Diese Krankheit tritt hauptsächlich bei Heranwachsenden auf. Heute nennt man sie Ketose, es handelt sich um eine Stoffwechselkrankheit mit verschiedenen Symptomen wie beständige Müdigkeit, Antriebslosigkeit, Kopfschmerzen und vor allem heftiges Erbrechen. Erzsis vier Kinder wuchsen sehr schnell, fast alle erreichten die enorme Körpergröße ihrer Vorfahren auf belgischer Seite, also des Urgroßvaters Leopold II. und der Großmutter Kronprinzessin Stephanie, sowie von Erzsi selbst. Sie wurden fast zwei Meter groß. Dies könnte eine Ursache für die Leiden der Kinder gewesen sein, sicher trugen aber auch der unstete Lebensstil der Mutter, die Abwesenheit des Vaters und überhaupt die in Scheidung lebenden, sich öffentlich bekriegenden Eltern zum Unwohlsein der Kinder bei. Das jüngste Kind von Erzsi und Otto Windisch-Graetz, die Tochter Stephanie, genannt Fee, machte seiner Mutter die meisten Sorgen und jagte ihr sogar regelrecht Angst ein. Oft schien die Heranwachsende halb ohnmächtig, zeigte auf Ansprache keinerlei Reaktionen. Sie schien vollkommen abwesend, nahm kaum wahr, was sich in ihrer Umgebung abspielte. Dass ihr die Tochter immer ähnlicher sah, beunruhigte Erzsi zusätzlich. Da sie viel über „Astralleibe“ und „Doppelgänger“ las, könnte Erzsi sich vor einer Reinkarnation ihrer selbst gefürchtet haben. Fee war ihr zeitweise so unheimlich, dass sie sich von der Tochter angestarrt fühlte, auch wenn diese gar nicht mit ihr im selben Zimmer war.

Erzsi suchte aus diesen Gründen laufend Ärzte, Psychologen und von sich selbst sehr überzeugte Heiler auf, doch die ersehnten Therapieerfolge blieben aus. Kalte Bäder, Stromanwendungen, Homöopathie – alles wurde ausprobiert. Astrologen und Wünschelrutengeher kamen und gingen. Erzsi holte auch sogenannte Wender. Das Wenden wird heute kaum mehr verstanden, es gehört zu den sehr alten Formen der Heilkunde. Man kann es sich als europäische Form des Geistheilens vorstellen. In Niederösterreich, wo Erzsi damals lebte, war es einmal sehr verbreitet, doch schon zu ihrer Zeit gab es kaum noch Wender. Salben, Medikamente oder andere Hilfsmittel werden bei dieser Art des Heilens nicht verabreicht. Der Heiler konzentriert sich auf den Kranken und versucht allein durch die Kraft seiner Gedanken, die Krankheit abzuwenden, das heißt die Krankheit wird „umgewendet“ in Gesundheit. Es gibt auch die Möglichkeit, den Kranken zu besprechen: Der Wender sitzt beim Kranken, verlässt ihn nach einer Weile und nimmt die Krankheit mit sich. Mit einem Spruch wird das Leiden dann aufgelöst. Von manchen Kranken werden solche Menschen „Gesundbeter“ genannt – vor allem, wenn sich Patient und Heiler nicht am selben Ort befinden. Mit Beten haben Wender im Allgemeinen jedoch nichts zu tun. Ihre Methoden stammen durchwegs aus den vorchristlichen Jahrhunderten und Menschen, die es nach dem Mittelalter noch praktizierten, wurden als „Hexen“ und „Zauberer“ verfolgt. Die meisten Wender fielen dem Hexenwahn zum Opfer, ihre Fähigkeiten starben – zum allergrößten Teil – mit ihnen.

Aus der Sammlung Peter Altenbergs: Erzsi mit ihren Kindern, um 1914

Die Söhne Franzi und Erni erzählten später von ihren Brechanfällen und von Erzsis Art, diese zu bekämpfen. Auf Anraten eines „Heilers“ mussten die Kinder Unmengen Spinat essen, was sich günstig auf die Verdauung auswirken sollte.

Flucht vor der Vernunft?

Alles, was Erzsi im Lauf ihrer okkulten Sitzungen sah oder erlebte, suchte sie mithilfe der Vernunft zu erklären. Sie war eine ausgesprochen moderne Frau und in dieser Hinsicht ganz die Tochter ihres Vaters. Parapsychologie interessierte sie, aber sie wollte den Phänomenen, die sich in ihrer Gegenwart abspielten, präzise auf den Grund gehen und deren Ursachen erforschen. Thomas Mann formulierte es so: Es ginge darum, dass die Vernunft anerkennen soll, was die Vernunft ablehnt. So sah es auch Schrenck-Notzing. Was er hasste, waren Amateure, „Laienpublikum“, wie er es nannte. „Laienhafte Nekromanten“ mochte er genauso wenig, „Gesindestuben-Metaphysik“ oder gar „Köchinnensonntagnachmittagausgehvergnügen“ (Thomas Mann) war rundheraus abzulehnen. Man benötige, so der Parapsychologe, eine klare und strenge Methodik. Versuchsanordnungen mussten wiederholbar sein. Überhaupt half einzig und allein das Experiment, genauso wie in der Physik oder der Chemie. Schrenck-Notzing versicherte, das Okkulte könne anhand naturwissenschaftlicher Vorgehensweisen aufgehellt, wissenschaftlich erfasst und publiziert werden. Man müsse es so lange freilegen, bis es ganz ins Offensichtliche, Erklärbare übergegangen sei.

In den von Schrenck-Notzing vermittelten Sitzungszirkeln in Wien lernte Erzsi Dr. Hans Thirring kennen, der mit dem Münchner Arzt gut bekannt war. Jemanden wie Thirring würde man in Okkultismus-Kreisen nicht auf den ersten Blick vermuten, denn er war theoretischer Physiker und Vorstand des Instituts für Theoretische Physik an der Universität Wien bis 1938. Tatsächlich jedoch existierte im ersten Wiener Gemeindebezirk schon in den 1870er-Jahren ein vegetarisches Restaurant, in dem nicht nur Esoteriker verschiedenster Art verkehrten, sondern auch „Sozialisten, die die Weltrevolution planten“, so der Theosoph und Freud-Berater Friedrich Eckstein in seinen Memoiren. Zu Thirrings Umfeld gehörten demnach Persönlichkeiten wie Albert Einstein und Sigmund Freud, was dazu führte, dass er nach dem „Anschluss“ 1938 „beurlaubt“ wurde. Schon in den 1920er-Jahren, als Thirring mit Erzsi an Sitzungen teilnahm, setzte er sich gegen den rechtsnationalen Terror ein, der sich auf den Universitäten breitmachte. Seine Vorlesungen begannen immer erst, wenn alle jüdischen Studenten, die bei ihm lernen wollten, Platz genommen hatten. Es kam damals nicht selten vor, dass rechte Studenten jüdische Hörer am Betreten der Hörsäle hindern wollten.

Erzsi kannte Thirring als Mitglied der Sozialdemokratischen Partei, und er meinte einmal, als er auf seine „merkwürdigen“ Forschungen im Bereich der Grenzwissenschaften angesprochen wurde: „Wer nicht den Mut hat, sich auslachen zu lassen, ist keine echte Forschernatur!“ Wenn ein paar Professoren von Schwindlern gefoppt würden, sei das kein Unglück, denn es könne ebenso passieren, dass ein bisher unbekanntes Naturphänomen unentdeckt bleibe. Und davor wollte er die Wissenschaft bewahren. Diese Herangehensweise deckte sich mit Erzsis Vorstellungen. Beide begannen in den 1920er-Jahren mit ihren Untersuchungen auf dem Gebiet der Parapsychologie. 1927 wurde Thirring zum (Gründungs-)Präsidenten der „Österreichischen Gesellschaft für Psychische Forschung“ (heute: „Österreichische Gesellschaft für Parapsychologie und Grenzbereiche der Wissenschaften“) gewählt.

Die meisten Experimente, die Schrenck-Notzing, Erzsi, Thirring und ihr Kreis mit verschiedenen Medien durchführten, befassten sich mit die Grenzen des Organismus überschreitenden, teleplastischen Charakteren. Das bedeutet, dass man außerhalb des Körpers des Mediums Formen wie Körperglieder, vor allem Hände, wahrnehmen kann, die biologisch lebendig sind. Die Erscheinung geht im Allgemeinen sehr schnell vorüber. Schrenck-Notzing war der Ansicht, es handle sich um eine „Verstofflichung“ des Geistes, um „fleischgewordene“ Traumbilder, hervorgerufen durch eine zu erforschende psychische Kraft des Mediums. Die sichtbar werdende Materie nennt man „Ektoplasma“: ein dem Körper entbundenes, sich verdichtendes Fluidum.

Wie gesagt ist es aber sehr selten, dass eine ganze Person, also ein „Geist“, sich materialisieren kann. Was Thirring und Erzsi, aber auch Schrenck-Notzing im Lauf des Lebens immer mehr als wissenschaftliches Experiment in einer Art Laborsituation wahrgenommen haben wollten, hatte in den Augen von Skeptikern bestenfalls theatralischen Show-Charakter – es wurde als spektakulärer Spuk bezeichnet, als nichts anderes als die Auftritte des Magnetiseurs Hansen. Schon der Modearzt Franz Anton Mesmer war als Scharlatan verschrien gewesen und zu Freuds Lehrer, dem französischen Nervenarzt Jean-Martin Charcot, waren nicht wenige sensationsgierige Schaulustige gepilgert, um zu sehen, wie er halbnackte „Hysterikerinnen“ in der Salpêtrière in Paris mit Elektroschocks und anderen in den Anfängen der Psychiatrie üblichen „Heilmitteln“ malträtierte.

 

Doch wie eine überzeugende Erklärung für das Unerklärliche finden? Immer unter der Voraussetzung, dass kein Betrug vorlag und dass es sich um seriöse Forscher handelte, die die Versuche mit den Medien – teilweise im Beisein von halb München, wie im Fall von Schrenck-Notzing – präsentierten? Man konnte sich schon vorkommen wie im Zirkus, mit Szenenapplaus, Anfeuerungsrufen und lähmender Enttäuschung, wenn nichts passierte. Denn es musste damit gerechnet werden, dass die Medien nicht in der entsprechenden Verfassung waren, die Umgebung dem Zweck nicht förderlich war, dass der Versuchsleiter einen Fehler gemacht hatte etc. Parapsychologische Experimente konnten nur von Menschen mit viel Geduld ausgeführt werden. Warten und Langeweile, stundenlanges Starren ins Dunkel, Ermüdung, Versuchsabbruch, Neustart, wieder warten – das gehörte zum Forscheralltag. Schrenck-Notzing war imstande, beinahe unendlich zu repetieren, wenn er grundsätzlich von der „Qualität“ eines Mediums überzeugt war.

Der „Wasservorhang“ im Tempel der Nacht auf Schloss Schönau, um 1800


Blick auf Schloss Schönau, 2019