700

Tekst
0
Recenzje
Przeczytaj fragment
Oznacz jako przeczytane
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa

Michael Maria Kröhn

700

Novelle Noir

Now I don't mind,

I'm chopping wood

And I don't care

if the moneys no good

Just take what you need

and leave the rest

But they should never

have taken the very best

(„The night they drove old dixie down“,

The Band, 1969)

Inhaltsverzeichnis

1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, 9, 10, 11, 12, 13, 14, 15, 16, 17, 18, 19, 20, 21, 22, 23, 24, 25, 26, 27, 28, 29, 30

1

Jetzt.

Jetzt hallten die Worte im Geist wider, fluteten die Bilder den Verstand. Und ließen nicht ab von der schutzlosen Seele.

Warum hatte sie das getan?

Einen elenden Loser hatte sie ihn genannt. Und vor allen Gästen des Empfangs gedemütigt. Dabei sei »Loser« noch ein Kompliment gewesen - so wie er sich im Bett anstelle.

»Kein Stehvermögen«.

Dann küsste sie einen anderen. Aurelius hätte ihr gerne etwas ins Gesicht gekippt, hätte ihr gerne eine runtergehauen.

Hätte, hätte, hätte ...

Doch sein Arm kam nicht an gegen die Mauer aus Lachen, die sich aus der Menge heraus formte.

Wortlos hatte er das Weite gesucht, war durch die Vorhalle getaumelt, an der Garderobe vorüber und hinaus ins Freie. Die Honoratioren des Gesundheitsdezernats mochten ihm vergeben, doch nach der Szene mit Amelia schien ihm ein Fraternisieren mit den Standeskollegen unmöglich. Nur noch atmen wollte er. Frische Luft.

Als er unter einer Laterne vor dem Kongresszentrum zu Stehen kam, füllte das Gelächter seinen Rücken. Er würgte einen Beta Blocker hinunter und starrte ins Leere. Es war spät, doch noch immer rauschte der Strom der Fahrzeuge auf der Transitstraße, wand sich um das Tagungsgebäude. Nur einen einzigen Schritt weiter und der Strom würde ihn verschlingen. Wäre das nicht eine Befreiung gewesen? ... Für alle?

Nahe des Bordsteins sank er nieder. Der Boden war warm. Jenseits der Transitstraße lag das Schloss, eingehüllt in warmes Licht aus unsichtbaren Strahlern. Am anderen Ende des schmalen Vorplatzes Archiv und Museum. Und über seinem Kopf die Sterne. Ein ganzer Haufen Sterne. Zukunftskünder für die Leichtgläubigen.

Er musste an ihre erste Begegnung denken. Unter welchem Stern hatte sie stattgefunden?

Anmutig saß Amelia auf einer Bank im Park der Klinik und ließ sich zärtlich von der Sommersonne berühren. Der in ein knappes Kleid gehüllte Körper hatte ihn glatt umgehauen. Er nahm seinen ganzen Mut zusammen und setzte sich neben sie. Sie wechselten einige schüchterne Worte. Sieben Tage später waren sie ein Paar. Das war vor sieben Jahren gewesen. Und von jenem Tag an schleppten sie sich gemeinsam über die Bühne des Lebens - von Szene zu Szene - und taten sich auf Millionen erdenkliche Weisen weh. Doch so oft er sich auch von ihr getrennt hatte, bei keiner anderen fand er zu sich selbst.

Teufel auch!

Irgendwann kam er nach Hause, schloss den Windfang und schlurfte über den Marmor der Galerie in den Salon. Niemand nahm von ihm Notiz im großen, stillen Haus. »Zauberschloss« hatten sie es getauft. Prinz und Prinzessin im Märchenland wollten sie sein. Diese Rolle verlangte ihm manches ab. Mal wollte er sie beschützen, mal verdammen. Dann wieder wollte er sie brennen sehen - vor Leidenschaft oder auf dem Scheiterhaufen. Am schlimmsten aber war, dass Amelia häufig so zerissen war, dass es ihn zeriss. Er trottete in die Küche und trank Wein, um die widersprüchlichen Gefühle zu betäuben.

Dann vergrub er sich in sein Kissen. Amelia trampelte auf seinen Gefühlen herum, und doch fehlte sie ihm. Wohin führte das, dachte er.

Wohin führte das alles nur?

2

Die Kühe brüllten infernal.

Alle waren sie gleich vor dem Bolzenschussgerät.

Einmal.

Zweimal.

Manchmal dreimal.

Es krachte, bis sie starben.

Bis ihre Beine wegknickten und sie zusammenbrachen.

Dann der Gestank.

Nach Blut, Angst und Panik.

Zwischen enge Gatter wurden sie getrieben, bis ans Ende der Führung, wo es nicht mehr weiterging. Dort senkte sich der Stahl in ihren Nacken.

Da Konstantin hinter ihnen stand, konnte er nicht in ihre Augen blicken. Aber er stellte sich diese Augen vor: Wie sie flehten, wie sie bluteten, wie sie platzten.

Anfangs war ihm regelmäßig übel geworden. Anders als seine Mitschlächter hatte er in seiner bisherigen beruflichen Vergangenheit nie mit Vieh zu tun gehabt. Die Übelkeit verschwand schließlich. Was blieb, war der Gedanke an das Töten.

Die Effizienz der Fabrik erinnerte ihn an vergangene Zeiten, doch waren die Schlächter weit weniger von ihrem Tun entzückt als ihre schnittig uniformierten Ahnen. Niemand dachte daran, die Hacken zusammenzuschlagen oder zu salutieren, wenn der Schichtleiter vorüberging, um die an den Ketten ausblutenden Viehhälften zu inspizieren. Sie dachten nur daran, sich beim Schichtwechsel die Schürze und die Handschuhe abzustreifen. Und daran, das Blut, das an ihnen klebte, abzuduschen. Blut kann verdammt hartnäckig sein.

Das ist Krieg ...

Abends hockte Konstantin in seiner engen Bude, ein kaltes Bier in der Hand, quetschte sich in den viel zu engen Sessel und vegetierte dumpf vor den flimmernden Impressionen einer schönen Welt. Fleisch brachte er nicht mehr herunter. Sein Magen rebellierte bei jedem Brocken. Manchmal war auch ein Mädchen bei ihm, doch selten blieb es lange.

Zu viel Blut.

Er zählte die Sekunden bis zum Ende des Werbeblocks, dann legte er sich ins Bett.

Konstantin Tannhaus, der den Vornamen eines Kaisers trug, hatte an der Universität Politologie studiert, bis das Dezernat für Wohl und Sicherheit ihm eine andere Aufgabe bescherte. Die Zuteilung zur Schlachtfabrik war keine Zuteilung im eigentlichen Sinne gewesen, nicht etwa so wie Absolventen eine Lehre oder eine Position im Dienst der Stadt zugewiesen wird. Vielmehr hatte Konstantin selbst gewählt. Denn die Alternative zu einem Exil zwischen Tierhälften waren undenkbar gewesen.

Die Entscheidung war vor langer Zeit auf dem Dach des Universitätshochhauses gefallen. Dort hatte er in den Abgrund gestarrt und gefühlt, wie die Stadt auf ihn zukroch - wie sich der düstergraue, hoch aufragende Turm der DeSi von Osten heranpirschte, wie sich die Schlote des Gefängnisbezirks im Nordosten mit den Gebäuden der Stadtpolizei im Süden zusammenschlossen und wie alle näherrückten, durch dunkle Häuserschluchten, sodass nur der Weg nach Westen blieb. Dort lag die Fleischfabrik. Nach Westen also - oder der Sprung in den Tod. Und so wählte er anstelle des Todes das Leben eines Toten.

Manches von dem, was Konstantin damals getan und unterlassen, peinigte ihn. Doch mangelte es ihm an Kraft, etwas an seiner Lage zu verändern. Menschen, die er gut gekannt hatte, waren gestorben wie das Vieh im Schlachthof. Das Dezernat für Wohl und Sicherheit, die DeSi, hatte sie ausgelöscht. Nicht exemplarisch, sondern im Stillen. Eines Tages würde auch er, Konstantin, vergehen.

Und wenn es endlich so weit war, würde er sich selbst den Bolzen setzen.

Unters Kinn womöglich?

Sein Kopf würde platzen und die paar Brocken Hirnmasse würden von der Decke tropfen.

Oder zwischen die Augen, die Stelle der Tapferen?

Nur er war nicht tapfer, und darauf lief es hinaus: Schon seit sieben Jahren, seitdem sein Exil in der Fleischfabrik begonnen hatte. Das alles würde ein Ende haben. Nur jetzt noch nicht.

Nicht jetzt ...

So verging dieser Abend.

Und der folgende.

Und der danach.

Fett geworden war er während all dieser Scharade. Seitdem er sich verbarg. Sieben Jahre lang harrte er nun schon aus - ohne ein Banner, hinter dem er sich hätte sammeln können.

Der große Kaiser Konstantin.

3

Am Morgen fand Aurelius sie zusammengesunken am Küchentisch. Den Kopf hatte sie in den Armen vergraben, die Garderobe war in Unordnung. Der Saum der Bluse hing schräg über dem kurzen Rock. Bei näherer Betrachtung war die Bluse falsch geknöpft. Vor ihr stand ein Glas Rotwein. Die Flasche, die er selbst am Abend geöffnet hatte, war bis auf einen kümmerlichen Rest leer. Aurelius stellte sich vor, wie er Ameliens Tabletten in dem Glas auflöste - all ihre Tabletten. Wäre das nicht eine wunderbare Gnade? Würde er nicht selbst gern davon trinken? Von all dem Frieden der pharmazeutischen Industrie?

 

Er trug Amelia ins Schlafzimmer und entkleidete sie fürsorglich. Einmal schlug sie die Augen auf und sah ihn für eine Weile an. Ein mildes Lächeln dämmerte auf ihren Zügen. Dann rollte sie sich säuglingsgleich in die Laken und schlief erneut ein.

Aurelius machte Tee. Hypnotisiert vom Aroma wäre ihm beinah entgangen, dass die Haushälterin die Küche betrat. Die ehemalige Klinikschwester hatte tagsüber ein Auge auf seine Frau. Nachdem Aurelius sie über Ameliens Zustand aufgeklärt hatte, packte er seine Tasche und ging für ein Stück berufliche Abwechslung.

Aber der Vormittag war dröge, die Klinikarbeit zäh. Er konnte sich nicht konzentrieren: weder auf die wissbegierigen Besprechungen, die neunmalschlauen Studien und Berichte, die seinen Schreibtisch erdrückten, noch über das geölt organisatorische Klimmbimm, mit dem er die Maschinerie hätte am Laufen halten sollen.

Die Rädchen stockten etwas.

Sand im Getriebe.

So vergrub er sich in der Ausarbeitung seines Beitrags zur kommenden Gesundheitskonferenz. »Das Moderne Gesundheitsmanagement« lautete der Vortrag. Doch Aurelius fehlte jedwede Fantasie. Die Worte torkelten nur so über den Bildschirm, er konnte ihnen keine Richtung geben.

Mittags in der Kantine schnappte er Geplapper zum gestrigen Empfang auf, was seine Stimmung trübte. Weder wollte er an die Szene, die Amelia ihm gemacht hatte, erinnert werden, noch wollte er die Geschehnisse danach beleuchten. Noch immer quälte ihn die bange Frage, mit der er gestern zu Bett gegangen war.

Wohin führte das alles?

Als er am Nachmittag mit der Assistenzärztin schlief, hatte er Tränen in den Augen. Das Märchenland bot keinen Ausweg. So sehr Amelia ihn quälen mochte, tausend Mal mehr quälte ihn die eigene Ohnmacht.

Er beschloss, pünktlich zu gehen, um etwas Zeit für seine Frau mitzubringen. Auf dem Weg nach Hause kam ihm jedoch eine Straßensperre in die Quere. Wie so oft bemühte sich die Stadtpolizei um Ordnung. Längst hatte sich ihre Fürsorge in Vormundschaft verwandelt.

Ungeduldig wanderte Aurelius' Blick die Schlucht der grauen Häuser hinauf. Zwischen den steinernen Kolossen sah er die Sonne blitzen. Ein kurzer Moment Wärme an einem ohnehin warmen Tag. Wie mussten sie am Kontrollpunkt doch schwitzen, die grau uniformierten Stadtpolizisten, die derweil einen Fahrer nach dem anderen aus den Wagen zerrten, ihn auf den Kopf stellten, von innen nach außen kehrten oder den Mittelstreifen entlangtanzen ließen, bis seine Linientreue erwiesen war. Ihn, Aurelius Fulva, den Sonderbeauftragten des Gesundheitsdezernats, ließen sie indes pflichtschuldig passieren. Es war Furcht, die er an ihnen roch, als er mit geöffnetem Fenster vorbeifuhr. Und am liebsten hätte er ihnen diese Furcht aus dem Leib geprügelt - nur für ein kleines bisschen Respekt.

Während er sich die Sternstraße hinaus nach Lindhagen schob, dünnte sich der Verkehr aus, bis lediglich die mächtigen, noblen Karossen mit großem Abstand die Allee nach Breitfurt hinauffuhren. Dort, hoch über dem gewöhnlichen Teil der Stadt, so hieß es, seien die Sorgen so selten, die Luft so klar und das Gras so grün. Doch Aurelius wusste es besser. Der verklärte, einfältige Glaube der Massen machte ihn wütend.

Zu Hause angekommen versperrte eine schwarze Limousine die Auffahrt. Kutschen dieser Art brachten ihre Fahrgäste für gewöhnlich an dunkle, feuchte Orte unter der Erde. Ein böses Omen in Blech.

Hastig eilte er ins Wohnzimmer, wo Amelia mit zwei Lakaien der Dezernats für Wohl und Sicherheit plauderte. Eine charmante Gastgeberin konnte sie ja abgeben, selbst für Gesindel wie dieses. Als Amelia ihn sah, strahlte sie, erhob sich und drückte sich an seine Brust. Aurelius aber hatte ein ganz anderes Bild vor Augen: Er sah die zwei Lakaien die Haustür eintreten, eine kreischende Frau ins Freie zerren und sie in eine schwarze Limousine verfrachten - genau wie jene in der Auffahrt.

Für Menschen, die nicht ausreichend konform erschienen, die aus dem Strom der Masse abgeschöpft werden mussten, hatte die DeSi den »Untersuchungsbereich A« eingerichtet. Dort fristeten die Delinquenten ein jammervolles Dasein oder wurden vollends ausgelöscht. So sagte man jedenfalls, denn der Bereich A war ebenso geheim wie seine Methoden.

Und hier nun zwei Ausgeburten dieser Hölle: adrett, moralisch biegsam bis zur Unkenntlichkeit, dabei jedoch rücksichtslos loyal. So beiläufig wie sie einem die Hand reichten, so beiläufig konnten sie einem auch das Genick brechen.

»Was verschafft mir die Freude Ihres Besuchs?«

»Es ist eine Situation eingetreten, zu deren Bereinigung wir Ihre Unterstützung benötigen.«

Aurelius sank in einen der umstehenden Sessel, und streifte - ganz entgegen der Etikette - die Schuhe ab. Sie hatten ihn schon den ganzen Tag lang gedrückt. Und den davor. Und davor.

»Inoffiziell natürlich«, sagte Aurelius, während er nach dem Glas Whiskey griff, das Amelia für ihn stehen gelassen hatte. Treue Seele mit treuen Ritualen.

»Inoffiziell«, bestätigte einer der Männer.

»Und wer verlangt nach meinen Diensten?«

»Doktor Schindler.«

Aurelius hatte schon gelegentlich dem ein oder anderen aus diesem oder jenem Dezernat einen Gefallen erwiesen. Dr. Hans Schindler, den seine Untergebenen furchtsam verhohlen den »Schindler-Hannes« nannten - und das nicht wegen kumpelhafter Allüren, sondern weil er, anders als sein historisches Vorbild, ein skrupelloser Dieb und Menschenschinder sondergleichen war -, dieser Hans Schindler war kein geringerer als der Dezernent für Wohl und Sicherheit höchstselbst. Aurelius nahm einen kräftigen Schluck Whiskey, um zu verbergen, dass sich ihm die Kehle zuschnürte.

»Worum geht es?«

Der stumme der beiden Männer zog einen braunen Umschlag hervor und schob ihn über den Tisch, gerade so weit, das er in Reichweite lag. Als Aurelius sich vorbeugte und nach dem Umschlag griff, erschien ihm dies beinahe wie eine Geste der Unterwürfigkeit.

»Diese Frau ist ein besonderes Problem, das isoliert werden muss.« Über den Rand des Umschlags hinweg blickte ihn ein blondes Mädchen kaukasischer Herkunft so unschuldig an, dass Aurelius zunächst an eine Verwechslung glaubte. Auf der Rückseite des Fotos war in sauberster Sekretärinnenhandschrift ein Name notiert – Marischka Meierhagen – und die zehnstellige Gesundheitsnummer. Darunter noch zwei Chiffren des Fulva'schen Krankheitenattributekatalogs, ein Almanach der auf seinen Großvater zurückging. Die eine Ziffer kannte er nur zu gut: 700 - geistige Unzurechnungsfähigkeit. Die andere, 118, stammte aus der Kategorie der ansteckenden Krankheiten. Er konnte nicht genau sagen, aus welcher, aber der Zweck der Ziffern lag klar auf der Hand: diskreditieren und isolieren.

»Können wir auf Sie zählen, Doktor Fulva?«

Es war keine respektvolle Bitte, lediglich eine rhetorische Frage. Was nützte es, dass er sein Unbehagen zu verbergen suchte, dass er entschlossen nickte, während er kein Wort herausbrachte. Als seine Frau hereinkam, sprachen die Blicke der beiden DeSi-Lakaien Bände. Wollte Amelia nicht den Bereich A kennenlernen, blieb Aurelius keine andere Wahl, als Hans Schindlers Suche nach Marischka Meierhagen zu unterstützen.

4

Spät nachts schlug Konstantin die Augen auf. Wieder einmal war er vor der Glotze eingeschlafen, hatte vor der flimmernden Bilderflut kapituliert. Nun war er wach. Aber nicht einfach so. Etwas hatte ihn geweckt.

Er rieb sich die Augen und hievte sich aus dem Sessel. Straßenlicht drang durch die Fenster. In der schummrigen Dunkelheit tastete er sich zum Nachtlicht vor. Einen Augenblick lang zweifelte er daran, tatsächlich wach zu sein. Doch die Gewissheit, dass man nicht schläft, kommt rasch, wenn man nicht schläft.

Etwas pochte leise gegen seine Tür. Was hatte das zu bedeuten? Die Stadtpolizei klopfte an, und die DeSi trat in der Regel gleich die Tür ein. Was also war das? Ein Tier, das sich ins Treppenhaus verirrt hatte? Konstantin schaltete das Licht ein und lugte durch den Türspion. Nichts, nur Dunkelheit. Und das leise Pochen.

»Ist da wer?«, brummte er dumpf. Das Pochen verstummte. Konstantin legte die Kette vor und schob die Tür einen Spalt weit auf. Vor ihm auf der Schwelle kauerte eine junge blonde Frau. Die zierliche Hand umklammerte einen schimmernden Gegenstand.

»Hilfe«, flüsterte sie. »Hilf mir.«

Konstantin löste die Kette und zog das Mädchen auf die Beine. Sie wehrte sich nicht, zitterte nur erbärmlich. Ein junges Ding war sie, halb so alt wie er vielleicht. An ihren Händen klebte Blut.

Auch du, dachte er. Wo ist denn dein Vieh? Brüllt es noch?

Das Mädchen schwieg und schlug die Augen zu Boden.

Konstantin seufzte. Warum nur vor meiner Tür ... und was werden deine Eltern wohl zu diesem Schlamassel sagen? Dann bemerkte er das Blut auf ihrem T-Shirt. Viel Blut.

»Bist du verletzt?«

Kopfschütteln.

Sie drückte sich an ihm vorbei in die Wohnung. Sie war hager, kaum volljährig, ihre Klamotten – abgesehen vom roten Farbeinschlag – abgetragen, verschlissen. Es war unvernünftig, ihr Asyl zu gewähren, hochgradig unvernünftig. Doch die getriebenen blauen Augen rührten ihn an. Da stand sie: ängstlich, neugierig, mit der städtischen Fürsorge, der Stadtpolizei oder Schlimmerem im Schlepptau. Konstantin kannte das Leben auf der Flucht, wusste um die Strapazen, und wie dankbar man für einen trockenen, sicheren Platz war. Es würde gehen. Für den Augenblick.

Plötzlich polterten Schritte durchs Treppenhaus.

Jetzt haben sie mich.

Sieben Jahre Einsamkeit, und jetzt haben sie mich.

Konstantin drückte die Tür zu, sanft wie eine Liebkosung, doch wie ein Donnerschlag sprang sie ins Schloss. Die Schritte rückten näher. Stufe um Stufe. Konstantin presste sein Ohr gegen das Holz. Das Mädchen hatte sich derweil in den Sessel verkrochen, die Finger in die Lehnen gekrallt. Konstantin dachte unwillkürlich an das Blut. Das würde er nie mehr aus dem Polster bekommen.

Draußen waren zwei Menschen. Womöglich drei. Sie schwiegen und kamen von unten herauf. Er wagte nicht, durch den Türspion zu blicken, starr vor Angst.

Jetzt haben sie mich. Und alles nur wegen eines Mädchens.

Stille.

Nichts rührte sich jenseits der Tür.

Dann jedoch polterten die Schritte weiter. Und jemand lachte glockenhell. Das konnte keine DeSi sein. Es war die Hure aus der Wohnung über ihm, die ihren Geschäften nachging. Konstantin sank zu Boden. Beinahe hätte auch er gelacht, wie er da hockte - ein beleibter Buddha, getaucht in goldenes Nachtlicht.

Beinahe.

5

Nachdem die Lakaien der DeSi verschwunden waren, hielt Aurelius Amelia lange im Arm. Dieser Abend war einer ihrer guten Abende. Er klammerte sie fest an sich, wünschte sich, sie nie wieder loslassen zu müssen.

Der nächste Tag fand ihn unaufgeräumt. Die Suchmeldung nach dem infizierten Mädchen schürte sein Unbehagen. Er sorgte sich um sich selbst und Amelia, was ihn wie ein gehetztes Tier durch den Vormittag flüchten ließ. Zudem jährte sich bald der Todestag seines Vaters. Nicht, dass er den alten Herrn sonderlich geliebt hätte, doch genügte die Erinnerung, das Gemüt zu dämpfen. Zwischen Sitzungen, in denen er sich auf nichts konzentrieren konnte, verkroch er sich in seinem Büro. Er vergoss Kaffee auf dem polierten Eichentisch, verlegte Schlüssel und Unterlagen, verlegte auch Termine. Aurelius war kein Spieler, und das Spiel, in das man ihn verstrickt hatte, war zu undurchsichtig, als dass er dabei gelassen bleiben konnte.

Mit dem ersten Glied ist die Kette geschmiedet. Was wird das nächste sein?

Noch einmal rief er sich die Beschreibung in Erinnerung: Marischka Meierhagen, Alter 16, der städtischen Fürsorge entwichen. Das Bild eines gewöhnlichen Teenagers, der so oder ähnlich sich die Nase an Schaufenstern platt drückt, mit dem Hund durch die Straße tollt oder den Rasen der Nachbarn zurechtstutzt für ein kleines Taschengeld. Dieser Person – hochgradig verwirrt und hochgradig infektiös – sei mit aller Vorsicht zu begegnen. Das glatte, blonde Haar mochte mittlerweile gefärbt, gewellt oder gekürzt sein. Von ihrer zierlichen Statur, ihrer unschuldigen Jugend und den tiefen, blauen Augen aber durfte man sich nicht täuschen, nicht erweichen lassen. Sie war trotz ihrer Erscheinung ... Sie war trotz allem ... Trotz alledem war sie ...

 

Was war sie?

Das war die Frage, hinter die er nicht zu blicken vermochte. Ein Bild in einem Umschlag, das war sie. Mehr nicht. Nur ein flüchtig dahingekritzelter Name, eine Gesundheitsnummer, zwei Chiffren. Umgehend dem Dezernat für Wohl und Sicherheit zu überstellen, hatte er noch vermerkt, bevor der Suchbefehl seinen Weg in die Dienststellen und zum Mediendezernat antrat.

»Das Moderne Gesundheitsmanagement« flimmerte noch immer auf dem Bildschirm vor ihm. Wie mühsam sich die Worte in die Tasten quälten. Vielleicht wäre auch hier eine Fahndung angebracht? »Pointe im Absatz. Praktische Beispiele gesucht! Möglichst simplifizierend und geringfügig sinnentstellend. Die Wortansammlung ist umgehend dem Gesundheitsdezernat zu überstellen.«

Um den Kopf freizubekommen, machte er einen Spaziergang im Park. Das Gehen half etwas. Er ging die große Schleife, grüßte Patienten, dachte an Amelia, der er hier begegnet war, lief an Passanten vorbei, über Ampeln und stellte schließlich überrascht fest, dass er die Klinik fast drei Blöcke hinter sich gelassen hatte. Seine Schritte hatten ihn auf den Gedächtnisfriedhof geführt.

Was nun?

Schon mal ein Plätzchen suchen?

Wohl kaum.

Etwas anderes trieb ihn voran, und er kannte die Reihe, die Zeile, die Parzelle, zu der es ihn zog. Die Grausamkeiten seines Vaters drangen an sein Ohr, die Beschimpfungen, die er ausgestoßen hatte, nachdem die Mutter sie verlassen hatte. »Deine Schuld! Alles deine Schuld!« Doch wie konnte das sein? Wie konnte ein fünfjähriger Junge schuld daran sein?

Das Grab präsentierte sich in untadeligem Zustand - dank des Gärtners, den er beauftragt hatte und der sich einmal monatlich darum kümmerte. Da stand er nun. Näher war er seinem Vater nie gekommen.

War es auch seine Schuld gewesen, dass der Vater, der einst so talentierte Chirurg, dem Alkohol verfiel, seine Schuld, dass er sich immer wieder Prügel einfing? Vielleicht war es sogar seine Schuld gewesen, als der Vater sturzbetrunken auf dem nächtlichen Weg von der Kneipe nach Hause von einem LKW erfasst wurde. Da war Aurelius sieben gewesen.

In diesem Schuldbewusstsein aufzuwachsen, machte seine Kindheit nicht einfacher. Im Jugendheim pissten sie auf Aurelius' Kleider, schmierten Grütze in seine Bücher, tauchten seinen Kopf in Buttermilch. Er weinte sich in den Schlaf, quetschte sein Kissen, presste es an sich und wünschte sich, das Kissen sei ein Mensch, das ihn trösten und die Grausamkeit vergessen ließ. Doch das Kissen war nur Schaumstoff. Der Schaumstoff, aus dem seine Träume waren.

Und nun war er Sonderbeauftragter des Gesundheitsdezernats. Doch noch immer pissten sie auf seine Kleider und tauchten seinen Kopf in Buttermilch. Selbst die niedersten Lakaien des Schindler-Hannes nahmen sich diese Freiheiten. Gerne wäre er in dem Grab vor ihm versunken. Lautlos. Wäre da nicht Amelia gewesen.

Andere in seiner Position hätten sich vermutlich scheiden lassen, hätten die kleine Assistenzärztin geehelicht oder sich in die nächste Affäre gestürzt. Nur verstanden sie nicht, wie allein und verloren er gewesen war - bis zu jenem Tag, an dem Amelia in sein Leben trat.

Sie war ebenso verloren an ihre Dämonen. Instinktiv hatte Aurelius gespürt, dass sie einander Halt geben konnten. Trotz aller Widrigkeiten wollte er sie nicht so leicht aufgeben - schon gar nicht an die hässlichen Monster, die ihren Geist verdüsterten. Es gab nur sie und er hatte sich schon zu lange an sie geklammert, um einfach loslassen zu können. Es gab nur Amelia und das alte Kissen im Jugendheim.

To koniec darmowego fragmentu. Czy chcesz czytać dalej?