Stil und Text

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2.4.2.3 TextarchitekturTextarchitektur: Stil als das Wie textarchitektonischer Gestaltung

Mit der Vertextungsebene TextarchitekturTextarchitektur kommt der äußere Aufbau eines Textes als Gestaltungsobjekt in das Blickfeld, d.h. die Gliederung eines Textes in visuell voneinander absetzbare Teiltexte (Textbausteine). Der Begriff TextarchitektonikTextarchitektonik erfasst im Unterschied dazu eine ganzheitliche Gestaltungsweise, nämlich die Art und Weise, wie sich die Fläche eines Textes in einzelne Bausteine aufgeteilt präsentiert, wie sich die Bausteine zu einem Ganzen zusammenfügen. Aus der Ganzes-Teil-Relation geht zugleich hervor, welcher Art die Textbausteine sind. Textarchitektonische Gestaltungsweisen sind StilgestaltenStilgestalt (vgl. zu diesem Begriff 2.3.1). Das allgemeine Gliederungsprinzip der visuellen Gliederung konstituiert eine formale GestaltqualitätGestaltqualität; die Textbausteine bilden die GestalteinheitenGestalteinheit. Zahlreiche Textarten (TextsortenTextsorte, Textgattungen) weisen textarchitektonische Charakteristika auf, sodass die Textarchitektonik zum Indikator der Textart wird. Wir stellen einiges in einer Übersicht zusammen.


ComicsMosaik aus Bildkästchen (Panels) – Sprech- und Denkblasen
DramentexteProlog – Akt (Aufzug) – Szene (Auftritt/Bild) – Epilog
Fahrpläne, Kalender, Programmübersichten u.a.Tabelle mit Spalten (vertikal) und Zeilen (horizontal)
Fragebögen, FormulareErfragte Angaben – vorgezeichnete leere Antwortfelder
GesetzestextePräambel (Initialteil) – Paragraphensequenz (Textkern) – Datierung (Terminalteil)
HypertexteStartseite – Navigationsleiste – Hyperlinks – verlinkte Module
Journalistische Texte (Medienberichte, Porträts, Reportagen u.a.)Schlagzeile – Lead (Vorspanntext) – Haupttext
Lyrische TexteStrophe – Verszeile(bei Liedern Strophen auch als Refrain)
Offizielle Sachbriefe(vgl. Heinemann/Viehweger 1991: 162ff.)Briefkopf (Initialteil) – Briefkern (Textkern) – Briefschluss (Terminalteil)
Veranstaltungsflyer(vgl. Androutsopoulos 2000)TEAM (Veranstalter) – MOTTO (Veranstaltungstitel) – AKTEURE (Mitwirkende) – DATEN (Ort, Zeit, Eintrittspreis u.a.) – SPONSOREN (Geldgeber) – VISUAL (Bildelement)
Werbeanzeigen(vgl. Janich 2010: 53ff.)Schlagzeile – Fließtext – Slogan – Produktname – Bildelemente
Wissenschaftliche AufsätzeAbstract – Inhaltsverzeichnis (i.d.R. nach dem Dezimalsystem in Abschnitte und Unterabschnitte gegliedert) – Erörterung – Literatur- und Quellenverzeichnis – Fuß- oder Endnoten (Anmerkungen)

Tab. 7: Zusammenhänge zwischen Textart und TextarchitektonikTextarchitektonik

Textbausteine können sich unterscheiden durch die Art

 ihrer Platzierung (siehe z.B. Abstract, Briefkopf, Präambel, Prolog);

 ihrer geometrischen Form (siehe z.B. Felder, Panels, Spalten, Sprech- und Denkblasen);

 ihrer Verknüpfung (siehe z.B. Akt/Szene, Tabelle/Spalte, verlinkte Module)

 ihrer proportionalen Verhältnisse (siehe z.B. Erörterung als Haupttext und Fuß- bzw. Endnoten als Nebentexte in wissenschaftlichen Aufsätzen).

Textbausteine können rein textthematisch bestimmt sein, wie man am Beispiel der TextsorteTextsorte Veranstaltungsflyer sehen kann. Fast jeder Baustein repräsentiert in diesem Rahmen ein anderes Teilthema. Die Einbettung in den Gestaltungsrahmen einer Textart bringt aber auch Zusammenhänge mit der pragmatischenPragmatik/pragmatisch oder poetischenPoetizität/poetisch Ausrichtung der Bausteine zum Vorschein (siehe z.B. die Bausteine von Werbeanzeigen und Dramentexten). Was die pragmatische Ausrichtung betrifft, so kann jeder Baustein zum Träger einer anderen TexthandlungTexthandlung werden. Als Beispiele jeweils ein Exemplar der miteinander verwandten Textsorten Rezension (Text 17) und Literaturkritik (Text 18).

Katrin Beckers. 2012. Kommunikation und Kommunizierbarkeit von Wissen. Prinzipien und Strategien kooperativer Wissenskonstruktion. Berlin: Erich Schmidt Verlag. 408 Seiten. 59,80 €. ISBN 978-3-503-13711-4

Im Fokus der Monographie, der eine Dissertation von 2010 an der RWTH Aachen zugrunde liegt, stehen „die wesentlichen Relationen und Interdependenzen, die zwischen Wissen, Kommunikation und Wissenstransfer“ (S. 10) bestehen. Einbezogen in die theoretisch weit gespannte Studie, die sich als ein Beitrag zur Transferwissenschaft im Sinne Sigurd Wichters und Gerd Antos‘ versteht, sind sowohl die mündliche Alltagskommunikation als auch die Text-Leser-Interaktion im Bereich des schriftlich vermittelten Wissenstransfers. Der Autorin sind dabei laut Einleitung makro- und mikroanalytische Perspektiven gleichermaßen wichtig, ebenso wie die Differenzierung von „wissenskonstitutiven, wissensvermittelnden, wissensrepräsentierenden und wissensproduzierenden Funktionen von Sprache und Kommunikation“ (S. 10).

Beispieltext 17 : Rezension (Auszug)

Zeitschrift für Angewandte Linguistik, H. 61 (2014), 153.

Seltsame Idee, die Trauer über den Tod des Vaters mit der Zähmung eines Habichts zu bekämpfen. Doch wenn der Vater Falkner war … So hat Helen Macdonald nicht nur den Habicht Mabel abgerichtet, sondern auch ein Buch darüber geschrieben, das manchmal allzu gefühlsstark ist, aber so ziemlich das Beeindruckendste, das man über Falknerei, die Leidenschaft zum Birdwatching, vor allem über unseren Umgang mit der Natur lesen kann. Eine Art Leidenschaftsroman, gegen den „Fifty shades of grey“ eine graue Maus ist, die der Habicht glatt wegputzt!

H WIE HABICHT Helen Macdonald, allegria, 20 Euro

Beispieltext 18 : Literaturkritik

Das Magazin, Nr. 11/2015, 105.

Rezensionen haben als wissenschaftliche TextsorteTextsorte keine Überschrift, sondern eine dem Haupttext vorangestellte Titelansetzung. Mit diesem Textbaustein wird die TexthandlungTexthandlung MITTEILENMITTEILEN von bibliographischen Angaben vollzogen. Mitgeteilt werden: Name des Autors, Erscheinungsjahr, Titel des Buches, Verlagsort, Umfang und Preis usw. Bei Literaturkritiken als journalistischer Textsorte (mitunter auch als Rezension bezeichnet) finden wir die Titelansetzung in verkürzter Version am Textende. Ein weiterer Unterschied: Kritiken können mit einer Überschrift in Form einer Schlagzeile versehen sein, die eine wesentliche Information des Haupttextes vorwegnimmt. Es geht aber auch ohne diesen Baustein, wie der Beispieltext beweist.

Der Haupttext von Rezension und Literaturkritik wird zum Träger der eigentlichen TexthandlungTexthandlung, die im BEURTEILENBEURTEILEN des wissenschaftlichen oder poetischenPoetizität/poetisch Werts einer Publikation besteht. Ein textarchitektonisches Merkmal ist der ungleiche Umfang der Bausteine. Das BEURTEILEN beansprucht fast die gesamte Textfläche.

Erwähnenswert sind ferner textarchitektonische Gestaltungsweisen, die besonders markant in Erscheinung treten, z.B. das Basilika-LayoutBasilika-Layout und der Cluster-Text.

a) Basilika-LayoutBasilika-Layout


Beispieltext 19 : Hypertext (Startseite)

https://finanzamt-marburg-biedenkopf.hessen.de (17.01.2017, 13:30 Uhr).

Die GestalteinheitenGestalteinheit bestehen hier aus einer breiten Mittelspalte, die von zwei schmalen Spalten flankiert wird. Das LayoutLayout trägt eine metaphorische Bezeichnung, inspiriert von der Basilikaform vieler Kirchen. Die Gestaltungsweise ist aber auch Ergebnis einer Anpassung an das horizontale Bildschirmrechteck, das an die Stelle des vertikalen Rechtecks von Printerzeugnissen getreten ist (vgl. Große 2001: 112f.). Wir finden dieses Layout u.a. im Online-Journalismus und auf den Service-Portalen von Behörden.

b) ClustertextClustertext


Beispieltext 20 : Medienbericht

Berliner Zeitung, 02.–04.10.2015, 5.

ClustertexteClustertext werden sowohl im Print- als auch im Online-Journalismus produziert. Kennzeichnend für das Clusterprinzip ist die SegmentierungSegmentieren eines journalistischen Langtextes in mehrere kurze Texte. Dabei gibt es verschiedene Möglichkeiten (vgl. Bucher 1996: 44ff.):

 die thematische SegmentierungSegmentieren (die Clustereinheiten werden zum Träger von Teil- bzw. Subthemen);

 die funktionale, d.h. pragmatischePragmatik/pragmatisch SegmentierungSegmentieren (die Clustereinheiten werden zum Träger verschiedener TexthandlungenTexthandlung);

 die perspektivische SegmentierungSegmentieren (die Clustereinheiten werden zum Träger verschiedener Sichtweisen auf ein und dasselbe Thema).

 

Auf den Beispieltext trifft die thematische SegmentierungSegmentieren zu: die Segmentierung des Themas ‚Ergebnisse einer Studie zur Inklusion behinderter Kinder‘ in mehrere Teilthemen. An die Stelle eines journalistischen Langtextes sind elf Clustereinheiten getreten:

 Ein Einleitungsblock: Genannt werden der Titel der Studie („Jedes Kind ist anders“), der Auftraggeber (Konrad-Adenauer-Stiftung), der Untersuchungsgegenstand (Einstellungen von Eltern behinderter Kinder) u.a.m.

 Sechs Frage-Antwort-Komplexe: Die Ergebnisse der Studie werden in einer interviewähnlichen Frage-Antwort-Struktur präsentiert. Solche Strukturen sind Gestaltungsprodukte des DialogisierensDialogisieren (vgl. Sandig 2006: 212).

 Drei Diagramme: Sie veranschaulichen Ergebnisse der Studie. Das Teilthema ‚Exklusionsquoten‘ wird in der Form eines Säulendiagramms präsentiert, das Teilthema ‚Vorteile gemeinsamen Lernens‘ in der Form eines Balkendiagramms und das Teilthema ‚Förderschwerpunkte‘ in der Form eines Tortendiagramms.

 Ein Textkasten mit angedeuteterAndeuten Umrandung: Er enthält ein Zitat aus der Studie, zusätzlich typographischTypographie/typographisch hervorgehoben mittels größerer und kursivierter Schrift.

Der ClustertextClustertext umfasst fünf Zeitungsspalten. In der sechsten Spalte rechts findet sich ein Kurzbericht über den Stand der Diskussion zum Thema ‚Inklusion‘ in der Hauptstadt Berlin (siehe Spaltentitel BERLIN). Dieser Text gehört nicht zum Clustertext i.e.S., hat einen anderen Autor, steht aber in einem engen thematischen Zusammenhang mit dem Clustertext. Verbindendes ThemawortThemawort ist Inklusion. Der Lead ragt über die fünfte Spalte hinaus, in die sechste Spalte hinein und stellt die Zusammengehörigkeit her.

Abschließend sei vermerkt, dass der Zusammenhang zwischen den einzelnen textarchitektonischen Einheiten auch mittels StilfigurenStilfigur hergestellt werden kann. So können aufeinander folgende Absätze, Abschnitte, Strophen, Kapitel eines Textes mit dem gleichen Wortlaut beginnen und/oder eine parallele Satzstruktur aufweisen. Man spricht dann von einer architektonischen AnapherAnapher bzw. einem architektonischen ParallelismusParallelismus (vgl. Riesel/Schendels 1975: 268f.).

2.5 Motiviertheit
2.5.1 GestaltungsmotiveGestaltungsmotiv

Stil ist interpretierbar im Hinblick auf ein Wozu, lesen wir bei Barbara Sandig (1995: 28). Die bisherigen Beispielanalysen haben eine Reihe von GestaltungsideenGestaltungsidee und GestaltungsprinzipienGestaltungsprinzip zutage gefördert, zuletzt das Clusterprinzip (Text 20). Die Frage nach dem Wozu von Gestaltungsweisen haben wir noch nicht gestellt: Zu welchem Zweck wurde die TexthandlungTexthandlung oder das TextthemaTextthema oder die TextarchitekturTextarchitektur so und nicht anders gestaltet? Oder anders gefragt: Welches Motiv liegt der Gestaltung zugrunde? Welchen Sinn hat die Gestaltung? Welchen Sinn hat es z.B., einen journalistischen Langtext in mehrere Kurztexte zu segmentieren? Der Sinn liegt hierbei offensichtlich in der Einflussnahme auf den Rezeptionsprozess. ClustertexteClustertext sind gegenüber Langtexten rezeptionsstimulierende Texte. Sie kommen dem Rezeptionsverhalten der Leserschaft in der gegenwärtigen Medienwelt entgegen. „Während der Langtext den Leser vor eine Alles-oder-Nichts-Entscheidung stellt – durchlesen oder weiterblättern – macht ihm die Clusterpräsentation ein Selektionsangebot.“ (Bucher 1996: 44)

Bei jeder GestaltungsideeGestaltungsidee, bei jedem GestaltungsprinzipGestaltungsprinzip kann nach dem stilistischen Sinn bzw. nach dem Gestaltungszweck oder -motiv gefragt werden. So liegt dem Prinzip KnappheitKnappheit (siehe u.a. Text 1) u.a. das Motiv zugrunde, Platz und damit Geld zu sparen, und dem Prinzip AnpreisungAnpreisung (siehe Text 2) das Motiv, Rezipienten persuasiv zu beeinflussen. Die Frage nach den Motiven des Gestaltens ist außerhalb eines konkreten Gestaltungsrahmens kaum zu beantworten. Fragt man z.B. nach dem Motiv hinter dem Prinzip AnschaulichkeitAnschaulichkeit, erkennt man schnell, dass die Antwort von der Textsortengebundenheit des Einzeltextes abhängt. Anschaulichkeit dient in Lehrbuchtexten sicher der ErkenntniserleichterungErkenntniserleichterung. In Reportagen hingegen hat Anschaulichkeit den Zweck, plastische Vorstellungen vom Schauplatz und von den Menschen vor Ort hervorzurufen (siehe Text 5). In epischen Texten (z.B. Romanen) wird mit Anschaulichkeit u.a. bezweckt, Figuren zu charakterisieren (siehe Text 6).

Es mag nicht vordergründig wichtig sein, wie man das stilistische Wozu bezeichnet, ob als Gestaltungszweck, als GestaltungsmotivGestaltungsmotiv oder als stilistischen Sinn. Wichtig ist aber auf jeden Fall, dass die Frage nach dem Wozu stiltheoretisch berücksichtigt und stilanalytisch gestellt wird, dass Wie-Wozu-Relationen hergestellt werden, denn ohne sie erschiene die Zielausrichtung von GestaltungsaktenGestaltungsakt als Selbstzweck. Wir haben indes zu berücksichtigen, dass sich Formgebung immer mit Sinngebung verbindet, und müssen demzufolge das allgemeine Muster Gestalten (siehe 2.2.1) vervollständigen, indem wir eine gestaltungsmotivische Komponente aufnehmen (siehe Tab. 8).


MotivischeKomponenteFinale KomponenteProzeduraleKomponenteInstrumentaleKomponente
GestaltungsmotiveGestaltungsmotivGestaltungsprinzipienGestaltungsprinzipGestaltungsideenGestaltungsidee

Tab. 8: Komponenten des Musters Gestalten (ergänzt)

Bei der systematischen Erfassung stilistischer Wie-Wozu-Relationen kann insbesondere die pragmatischePragmatik/pragmatisch Stilistik, die GestaltungsakteGestaltungsakt und Gestaltungsweisen in den Kontext textkommunikativen Handelns stellt, einige Ergebnisse vorweisen (vgl. Sandig 1986: Kap. 2; dies. 2006: Kap. 1; auch Hoffmann 1987a). GestaltungsmotiveGestaltungsmotiv, die dem Stil von pragmatischen Texten zugrunde liegen, können jedoch nicht ohne weiteres auf poetischePoetizität/poetisch Texte übertragen werden. In der poetischen Textkommunikation gelten auch in gestaltungsmotivischer Hinsicht andere Regularitäten (Näheres in 2.5.3f.). Dies wird von der pragmatischen Stilistik gemeinhin ausgeblendet.

Die folgenden Abschnitte haben zum Ziel, eine Reihe von GestaltungsmotivenGestaltungsmotiv anhand von Beispielanalysen zu beschreiben. Zunächst wird die gestaltungsmotivische Seite von pragmatischenPragmatik/pragmatisch Texten beleuchtet.

2.5.2 GestaltungsmotiveGestaltungsmotiv in der pragmatischenPragmatik/pragmatisch Textkommunikation

In der pragmatischenPragmatik/pragmatisch Textkommunikation leitet sich ein generelles GestaltungsmotivGestaltungsmotiv aus dem SituationskontextSituationskontext eines Textes ab. Stil – so hatten wir festgestellt (siehe 2.4.1) – kann an situative Kontexte angepasst, auf sie zugeschnitten werden. Und das heißt auch: Stil kann sich den Kommunikationsteilnehmern anpassen, auf sie zugeschnitten werden, die mit ihrer Kommunikationspartnerschaft zugleich einen Situationsrahmen konstituieren. Neben diesem generellen Gestaltungsmotiv gibt es besondere Motive, je nachdem, ob der Stil auf den Textproduzenten, den Textrezipienten (bzw. Adressaten) oder die Beziehung zwischen Textproduzent und Textrezipient (Adressat) zugeschnitten wird.

2.5.2.1 SelbstpräsentationSelbstpräsentation des Textproduzenten: RollengestaltungRollengestaltung, ImagepflegeImagepflege, IndividualitätsbekundungIndividualitätsbekundung

Bei der SelbstpräsentationSelbstpräsentation des Textproduzenten lassen sich verschiedene Aspekte unterscheiden. Vordergründig kann die soziale bzw. kommunikative Rolle werden, die der Textproduzent einnimmt bzw. einzunehmen hat, aber auch dessen Selbstbild (Image) und nicht zuletzt dessen Individualität.

a) RollengestaltungRollengestaltung

Die Frage lautet: In welcher sozialen bzw. kommunikativen Rolle präsentiert sich der Textproduzent, und wie wird die jeweilige Rolle durch den Stil angezeigt? In der institutionellen Kommunikation z.B. ist es üblich, dass der Textproduzent seinen vollständigen Namen nennt und seinen Amtstitel hinzufügt. Als Beispiel: Manfred Stolpe / Ministerpräsident (Text 14). Allein durch diese Verfahren wird ein amtlicher Stil hergestellt. Der Textproduzent präsentiert sich als Amtsperson (und nicht als Privatperson). Ein weiteres Verfahren zum Erzeugen von AmtlichkeitAmtlichkeit besteht darin, dass Personennamen durch die Namen von Institutionen ersetzt werden. Als Beispiel: Finanzamt Marburg-Biedenkopf (Text 19). Der Textproduzent präsentiert sich als Institution (und nicht als Einzelperson).

RollengestaltungRollengestaltung ist für alle rituellen Zeremonien (Gottesdienst, Staatsbesuch, Amtseinführung u.a.) von großer BedeutungSemantik/semantisch. Die Teilnehmer sind verpflichtet, streng entsprechend den ihnen zugewiesenen Rollen zu agieren. Sie greifen dabei auch auf Muster ritueller TextsortenTextsorte (Gebet, Tischrede, Amtseid u.a.) zurück. Amtseid-Leistende in Deutschland (Bundespräsident, Bundeskanzler, Bundesminister) werden ihrer Rolle bei der Durchführung der TexthandlungTexthandlung SCHWÖRENSCHWÖREN nur dann gerecht, wenn sie die vorgeschriebene EidesformelEidesformel (siehe Text 21) unverändert nachsprechen, dabei die vorgeschriebenen Gesten beachten (Heben der rechten Hand, Emporstrecken zweier Finger) und bei der sprecherischen Umsetzung einen ernsten und möglichst feierlichen Ton anschlagen. Zum Muster der Textsorte gehört also zum einen, dass der gesamte Text vorformuliert (gebrauchsfertig) zur Verfügung steht und auf einen formelhaftFormelhaftigkeit/Formelhaft-Machen-rituellen StilStilritueller festgelegt ist, zum anderen, dass GestikGestik und ProsodieProsodie/prosodisch am GestaltungsaktGestaltungsakt des Ritualisierens teilhaben. Trotz des Personalpronomens ich am Anfang der Eidesformel (Ich schwöre …) wird ein entindividualisierter Stil produziert, da der Textproduzent seine Individualität völlig zurückstellen muss. Eine Wahlmöglichkeit gibt es nur bei der BeteuerungsformelBeteuerungsformel So wahr mir Gott helfe. am Textende. Sie kann hinzugefügtHinzufügen oder weggelassen werden. Wird sie hinzugefügt, wird damit zugleich ein religiöses Bekenntnis abgelegt.

Ich schwöre, daß ich meine Kraft dem Wohle des deutschen Volkes widmen, seinen Nutzen mehren, Schaden von ihm wenden, das Grundgesetz und die Gesetze des Bundes wahren und verteidigen, meine Pflichten gewissenhaft erfüllen und Gerechtigkeit gegen jedermann üben werde. So wahr mir Gott helfe.

Beispieltext 21 : Amtseid

Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Art. 56.

b) ImagepflegeImagepflege

Bei diesem GestaltungsmotivGestaltungsmotiv lohnt sich zunächst ein Blick auf Texte der kommerziellen Werbung. In dem Bestreben, auf dem Markt mit einem eigenständigen Profil präsent zu sein, fällt dem Stil u.a. die Aufgabe zu, ein positives Image des Anbieters zu vermitteln – erkennbar an Gestaltungsweisen, durch die besondere, auch spezifische Vorzüge des Anbieters (Exklusivität, Kompetenz, ProfessionalitätProfessionalität, Tradition, Ehrlichkeit) hervortreten. Wir gehen darauf im Abschnitt 3.3.2 näher ein.

ImagepflegeImagepflege kann auch zum Gestaltungsmotiv in Stellenanzeigen werden (siehe Text 22):


Beispieltext 22 : Stellenanzeige

Der Vergleich mit dem Stil von Beispieltext 1 lässt auf den ersten Blick erkennen, dass es dem Textproduzenten nicht auf RezeptionsbeschleunigungRezeptionsbeschleunigung (und auch nicht auf Kostenersparnis) ankommt. Die Sätze sind ausgeformt, mit bewertendem Wortschatz, auch in Form von Aufzählungsgliedern gefüllt und variationsreich strukturiert. Die Ausformung und Komplexität der Sätze verweist auf das Gegenstück zum GestaltungsprinzipGestaltungsprinzip KnappheitKnappheit, und das ist stilistische BreiteBreite.

 

Mit dem VariierenVariieren von Satzstrukturen wird das GestaltungsprinzipGestaltungsprinzip AbwechslungAbwechslung realisiert. Wir registrieren

 verschiedene Satzformen: einfache Sätze (Unser Klient ist Gründer und Vorstand eines bedeutenden Unternehmens in Norddeutschland.), zusammengezogene Sätze (Durch ihre Freude an Betreuung, Erziehung und Fürsorge tragen Sie wesentlich zur Entlastung der Mutter bei und steuern den Tagesablauf selbständig.) und zusammengesetzte Sätze (Englische und französische Sprachkenntnisse wären vorteilhaft, da Sie die Familie im Urlaub zu nicht alltäglichen Reisezielen begleiten.);

 verschiedene VorfeldbesetzungVorfeldbesetzungen: die Besetzung des Vorfelds durch das Subjekt des Satzes (unser Klient), auch in pronominaler Form (Sie), durch ein Akkusativobjekt (Ihre aussagefähigen Bewerbungsunterlagen senden Sie …), einen infiniten Prädikatsteil (Unterstützt werden Sie …) oder eine Adverbialbestimmung (Durch Ihre Freude an Betreuung, Erziehung und Fürsorge tragen Sie …);

 verschiedene Konstruktionen hypotaktischerHypotaxe/hypotaktisch Satzbildung: Nebensätze (da Sie die Familie zu nicht alltäglichen Reisezielen begleiten) und eine Partizipialkonstruktion anstelle eines Nebensatzes (bedingt durch häufige Auslandsaufenthalte des Unternehmerehepaares statt was durch häufige Auslandsaufenthalte des Unternehmerehepaares bedingt ist).

Mit der lexikalischen Füllung der Sätze wird ein anderes GestaltungsprinzipGestaltungsprinzip realisiert. Wir richten unsere Aufmerksamkeit auf den bewertenden Wortschatz und bemerken, dass hier prononciert sozial abgehoben formuliert worden ist. Mit Beiwörtern wie bedeutend (bedeutendes Unternehmen), nicht alltäglich (nicht alltägliche Reiseziele) und repräsentativ (repräsentativer Haushalt) gibt sich der Textproduzent als Vertreter der Oberschicht zu erkennen. Das Anforderungsprofil der zu besetzenden Stelle Erzieherin ist darauf ausgerichtet, der Etikette dieser sozialen Schicht zu entsprechen. Bei der Beschreibung des Stellenprofils erweisen sich Adjektive in attributiver oder prädikativer Position als SchlüsselwörterSchlüsselwort: eine aufgeschlossene, seriöse Dame mit gepflegter äußerer Erscheinung; ein hohes persönliches Niveau und ein sicheres Auftreten; unabhängig und kultiviert. Die attributiven Adjektive sind keine schmückenden Beiwörter (EpithetonEpitheta); sie sind nicht dekorativ hinzugefügt; sie sind oberschichtgemäß ausgewähltAuswählen und aneinandergereiht. Als Gestaltungsprinzip können wir DistinguiertheitDistinguiertheit (VornehmheitVornehmheitDistinguiertheit) notieren. Insgesamt gesehen weist der Text eine gewählte (elaborierte) Ausdrucksweise auf. Syntaktische AbwechslungAbwechslung und lexikalische Distinguiertheit sind Indikatoren von ElaboriertheitElaboriertheit.

Zur ImagepflegeImagepflege als GestaltungsmotivGestaltungsmotiv gehört noch einiges mehr. Erwähnt sei noch, dass man sich sprachmedial als gebildet, belesen und bildmedial als sportlich, muskulös, durchtrainiert präsentieren und damit das eigene Image aufwerten kann.

c) IndividualitätsbekundungIndividualitätsbekundung

IndividualitätsbekundungenIndividualitätsbekundung (als stilistisches Wozu) stehen mit dem GestaltungsaktGestaltungsakt des Originalisierens (als stilistischem Wie) in einem unmittelbaren Zusammenhang. Man erkennt diesen Gestaltungsakt i.d.R. an der Realisierung einer GestaltungsideeGestaltungsidee. So können wir auch Kontaktanzeigen OriginalitätOriginalität bescheinigen, wenn sie – wie in Text 3 – eine partnerschaftliche Beziehung als Segelschifffahrt erscheinen lassen oder wenn sie – wie in Text 4 – Partnersuche in Märchenform kommunizieren. Zur Realisierung dieser Gestaltungsideen werden – wie wir gesehen haben – AnspielungenAllusion auf andere Texte gemacht und Muster gemischt. Um auf eine Gestaltungsidee zu kommen, bedarf es der Inspiration, eines schöpferischen Impulses. Man kann sich beispielsweise von anderen Texten inspirieren lassen, um den eigenen Text zu originalisieren. Man kann sich aber auch vom Stil eines anderen Textes inspirieren lassen, wie das folgende Beispiel zeigt.

Komm auf den Punkt!

Neue Bandwurmsätze von Javier Marías – eine Romanbesprechung im Stile des Autors

von tobias lehmkuhl

Nicht allzu lang ist es her, dass ich diese Geschichte las – weniger lang als ein Wochenende gewöhnlich dauert, und wie gering ist ein Wochenende, wenn es vorüber ist, sich in ein paar Sätzen erzählen lässt und im Gedächtnis nur noch Asche bleibt, die sich beim kleinsten Beben löst, davonfliegt beim geringsten Windstoß –, und doch wäre es heute unmöglich, diese Geschichte wirklich präzise wiederzugeben, und damit ist nicht gemeint, was den beiden, Eduardo Muriel und seiner Frau Beatriz Noguera, als jungen Menschen geschehen war, und nicht so sehr das – obwohl auch das – was mit ihnen geschah, als der Erzähler dieser Geschichte ein junger Mann und ihre Ehe ein unauflösliches Unglück war.

Dabei hat es solche Figuren wohl immer gegeben, sie sterben nicht aus, es wird sie weiter geben, bestimmte Figuren wandeln sich nie, ob in der Wirklichkeit oder in der Fiktion, ihrer Zwillingsschwester, sie wiederholen sich im Laufe der Jahrhunderte, als mangelte es beiden Sphären an Fantasie oder als wäre es unausweichlich, ja man könnte meinen, wir erfreuten uns an einem einzigen Schauspiel, einer einzigen fortlaufenden Erzählung, wie kleine Kinder, mit unendlichen Varianten, in altmodischem oder modernem Kostüm, aber im Grunde immer die gleiche Geschichte. Das gilt auch für die Romane von Javier Marías, der eine Vorliebe für den Klang bestimmter Namen hat, für Jaime Deza oder Juan de Vere, junge Männer noch oder doch schon Männer im besten Alter, die in seinen Fiktionen die seltsam undurchsichtigen Erzählinstanzen darstellen. Dabei sind diese Fiktionen vielleicht gar nicht für die Öffentlichkeit bestimmt, sondern Geschichten, die er sich vielmehr selbst erzählt, Geschichten, die er erzählen muss, um in dieser Welt existieren zu können, Geschichten, die aus ihm herausströmen wie der Atem und die es ihm, der ein tiefer Melancholiker ist, erträglich machen zu leben. […]

Beispieltext 23 : Literaturkritik (Textanfang)

Süddeutsche Zeitung, 02.-04.10.2015, 22.

Die GestaltungsideeGestaltungsidee muss in diesem Text nicht entdeckt werden, sie wird im Titelgefüge des Textes verraten. Unter der Schlagzeile (Komm auf den Punkt!) ist Folgendes zu lesen: Neue BandwurmsätzeBandwurmsatz von Javier Marías – eine Romanbesprechung im Stile des Autors. Die Gestaltungsidee besteht also darin, den Stil des zu besprechenden Romans in der Besprechung zu imitieren, eine ÄhnlichkeitsbeziehungÄhnlichkeitsbeziehung zwischen beiden Stilen herzustellen, und zwar durch das Konstruieren von Bandwurmsätzen. Das sind im vorliegenden Fall nicht einfach lange Sätze, sondern extrem lange, überlange Sätze. Allein der erste Satz der Kritik umfasst 109 Wörter. In der Stilistik spricht man jedoch nicht von Bandwurmsätzen, sondern von Satzperioden, d.h. mehrfach zusammengesetzten Sätzen. Die Häufung von Wörtern und die Mehrfachzusammensetzung von Sätzen sind noch keine ausreichenden Merkmale des PeriodenstilsPeriodenstil. Kennzeichnend für diesen Stil ist ein syntaktisches Merkmalsbündel:

 die Kombination von parataktischerParataxe/parataktisch und hypotaktischerHypotaxe/hypotaktisch Teilsatzverknüpfung;

 der fortwährende Wechsel von ParataxeParataxe/parataktisch und HypotaxeHypotaxe/hypotaktisch;

 die mehrstufige Subordination von Nebensätzen und satzwertigen Konstruktionen;

 das Anhängen weiterführender Nebensätze;

 die Erweiterung von Teilsätzen durch AufzählungenAufzählen;

 die Unterbrechung von Satzkonstruktionen durch ParenthesenParenthese u.a.m.

Dem Leser wird abverlangt, auf den Stufen der Periode ständig auf- und niederzusteigen (vgl. Schneider 1959: 455). Originell ist nicht der Stil des besprochenen Romans („So fängt das Schlimme an“), denn im PeriodenstilPeriodenstil haben auch schon Johann Wolfgang Goethe, Heinrich von Kleist und viele andere geschrieben, der Stil der Besprechung hingegen ist es schon. Der Textproduzent weicht dezidiert von der kommunikativen NormalformNormalform einer Literaturkritik ab, sodass es dem Leser schwerfällt, die beurteilenden Elemente des Textes herauszufiltern und sich selbst ein Urteil zu bilden.