Stil und Text

Tekst
0
Recenzje
Przeczytaj fragment
Oznacz jako przeczytane
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa

1.2.2 VisualisierungskompetenzVisualisierungskompetenz

Ob mündliche oder schriftliche Texte – Stil muss nicht ausschließlich eine Formulierungsleistung sein. Bei mündlichen Texten können ProsodieProsodie/prosodisch, Mimik und GestikGestik, Geräusche und Musik als sprachbegleitende, -ergänzende oder -ersetzende Zeichen gestaltungsrelevant werden. Bei schriftlichen Texten kommen gegebenenfalls graphische und typographischTypographie/typographische GestaltungsmittelGestaltungsmittel, Farben und Bilder hinzu. Mündliche und schriftliche Texte gibt es auch in Kombination. Beispiele sind Werbespots, Vorträge mit Handouts und/oder (digitaler) Folienpräsentation sowie Nachrichtensendungen im Fernsehen.

Der Begriff VisualisierungVisualisierung erfasst in stilistischer Hinsicht v.a. die VeranschaulichungVeranschaulichen von Informationseinheiten des Textes mit Hilfe von Abbildungen (Fotos), Nachbildungen (Zeichnungen) oder Bildern anderen Typs. ‚VisualisierungskompetenzVisualisierungskompetenz‘ schließt Kenntnisse über Visualisierungsmittel (als Gestaltungsressourcen) ein und die Fähigkeit, verfügbare Visualisierungsmittel in einen Sinn- und Gestaltungszusammenhang mit sprachlichen Zeichen zu bringen.

Visualisierungen sind auf verschiedene Arten textkommunikativer Erträge beziehbar. In der wissenschaftlichen Kommunikation (Erzielen intellektueller ErträgeErtragintellektueller) treten sie erkenntniserleichternd in Erscheinung. VisualisiertVisualisierung werden Kernelemente von Theorien und Experimenten. Als rezeptionsbeschleunigende GestaltungsmittelGestaltungsmittel im Dienste lebenspraktischer ErträgeErtragpraktischer kommen z.B. Piktogramme auf Wetterkarten zum Einsatz: meteorologische Symbole für ‚sonnig‘, ‚regnerisch‘, ‚heiter bis wolkig‘ u.a. Ein Beispiel für die Visualisierung von Gefühlen (Erzielen emotionalEmotionalität/Emotionalisieren-psychischer ErträgeErtragemotional-psychischer) sind Bilder mit religiöser Symbolik in Traueranzeigen: Schwalben stehen sinnbildlich für ‚Auferstehung‘, Rosen für ‚das Blut Christi‘. Die schwarze Umrandung einer Traueranzeige ist ein graphisches Mittel der Trauerbekundung. In der Werbekommunikation (Erzielen persuasiver ErträgeErtragpersuasiver) finden wir Produktabbildungen, aber auch Bilder, die (vermeintliche) Produkteigenschaften veranschaulichen, z.B. die ‚Heimat einer Biersorte‘. Häufig verwendete Bildmotive hierzu sind Dünenlandschaften, bayrische Biergärten oder berühmte Bauwerke wie die Semperoper in Dresden. Werbekommunikative Texte zielen häufig zusätzlich auf formbezogene ErträgeErtragformbezogener. Realisiert werden GestaltungsideenGestaltungsidee, die sich zwischen Sprache und Bild entfalten. Als Beispiel eine Anzeige der „Deutschen Landgestüte“. Die Wiege der Pferdezucht lautet die Werbeschlagzeile, und sie ist mit einem außergewöhnlichen Foto (einer Fotomontage) bebildert. Gezeigt wird ein Fohlen, das in einer buntbemalten, aus Holz gefertigten Wiege liegt. Was ist daran stilistisch-formbezogen bemerkenswert? In der Schlagzeile hat das Substantiv Wiege die lexikalisierte metaphorische BedeutungSemantik ‚Ort, an dem etw. seinen Anfang nimmt‘; das Bild hingegen visualisiert die wörtliche Bedeutung ‚schwingbares Bettchen für einen Säugling‘ und wandelt sie zugleich ab. Die Stelle eines Säuglings nimmt im Bild ein Fohlen ein. Sprache und Bild treten stilistisch-formbezogen in eine phantasieanregende Beziehung zueinander. Gestaltungsideen dieser Art sind auch als textkommunikative Wort-Bild-SpieleWort-Bild-Spiel interpretierbar, und damit ist eine Überleitung zum nächsten Teilabschnitt hergestellt.

1.2.3 Sprach- und TextspielkompetenzTextspielkompetenz

Die Begriffe SprachspielSprachspiel und TextspielTextspiel erfassen kreative Experimente mit sprachlichen bzw. textuellen Einheiten. Die darauf bezogenen KompetenzenSprachspielkompetenz schließen Kenntnisse über Sprachstrukturen und TextmusterTextmuster ebenso ein wie die Fähigkeit, kreativ mit diesen Strukturen und Mustern umzugehen. Textrezipientenseitig ist es die Fähigkeit, sprach- bzw. textspielerisch realisierte GestaltungsideenGestaltungsidee zu erkennen. Im Einzelnen lassen sich – ohne Anspruch auf Vollständigkeit – folgende „Spiel-Arten“ unterscheiden:

WortspieleWortspiel: Darunter fallen textkommunikative Spiele

 mit ähnlich lautenden Wörtern, z.B. mit den Substantiven Grube und Gruppe in der satirischen Titelzeile Häschen in der Gruppe (Eulenspiegel, Nr. 3/2016, 50), die auf ein bekanntes Kinderlied anspielt;

 mit der Komponentenstruktur von PhraseologismenPhraseologismus (Redewendungen), z.B. mit der Reihenfolge von Komponenten: Tunnel am Ende des Lichts (Programmtitel des Kabaretts „Magdeburger Zwickmühle“); Schafe im Wolfspelz (Frankfurter Rundschau, 17.12.2012, Beilage S, 1);

 mit der PolysemiePolysemie (Mehrdeutigkeit) von Lexemen (Systemwörtern) – wie in der Schlagzeile Zähes Ringen bei Olympia (Focus, Nr. 8/2013, 139). Die GestaltungsideeGestaltungsidee besteht darin, die Schlagzeile unter Ausnutzung der Polysemie des Lexems Ringen (1. ‚große Anstrengungen zur Lösung eines Problems‘; 2. ‚Ringkampf‘) mit textkommunikativer Mehrdeutigkeit (AmbiguitätAmbiguität) anzureichern, indem sich beide Bedeutungsvarianten überlagern. Im Haupttext erfahren wir sowohl vom Vorhaben des IOC, die Sportart Ringen (Bedeutungsvariante 2) ab 2020 aus dem olympischen Programm zu nehmen, als auch vom internationalen Ringen (Bedeutungsvariante 1) um den Erhalt dieser Sportart bei Olympia.

WortbildungsspieleWortbildungsspiel: Es handelt sich erstens um kreative Experimente mit der Konstituentenstruktur von Wortbildungskonstruktionen. Konstituenten werden

 auf der Basis von Lautähnlichkeit ausgetauscht: Wochenschauer (Eulenspiegel, Nr. 9/2016, 65) statt Wochenschau; Hartz-Infarkt (Programmtitel des Kabaretts „Kartoon“) statt Herzinfarkt;

 auf der Basis paradigmatischer Beziehungen im Wortschatz antonymischAntonym/antonymisch hinzugefügtHinzufügen: unorganisierte Kriminalität (Eulenspiegel, Nr. 6/2016, 40) statt organisierte Kriminalität;

 auf der Basis des Wortbildungsmusters Zusammensetzung (Komposition) dekomponiert: Wahn & Sinn (Rubriktitel der Satirezeitschrift „Eulenspiegel“) statt Wahnsinn.

Spiele mit der Wortbildung haben zweitens ein spezielles Wortbildungsmuster hervorgebracht: die Kreuzung/Verschmelzung zweier Wörter (KontaminationKontamination). Das Wort Demokratur ist eine Kreuzung aus Demokratie und Diktatur, das Wort zwischendurst (Paulaner: Genuss für zwischendurst!) eine Kreuzung aus Durst und zwischendurch.

Wort-Bild-SpieleWort-Bild-Spiel: Kreative Experimente mit Wörtern und Bildern erstrecken sich zum einen auf die geistreiche VisualisierungVisualisierung von Wortbedeutungen (als Beispiel die Visualisierung von Wiege der Pferdezucht im vorhergehenden Teilabschnitt), zum anderen auf die Formung von Bildern aus Wörtern. In einer Edeka-Werbeanzeige sind 41 anpreisende Wörter, darunter Frische, Qualität und Leckerbissen, zu einem Bild geformt, das ein Herz darstellt.

TextmusterspieleTextmusterspiel: Gespielt werden kann auch mit den Mustern von TextsortenTextsorte. Auf diese Weise entstehen z.B. in der Werbekommunikation hybride Texte als Mischung von Werbeanzeige und Lexikonartikel (vgl. Sandig 1986: 201), von Werbeanzeige und Märchen (vgl. Fix 1997: 101), von Werbeanzeige und Kontaktanzeige (vgl. Keßler 1998: 279). Auch Einzeltexte wie der Dekalog (die Zehn Gebote) können die Struktur einer Werbeanzeige bestimmen (ebd.: 282).

NamenspieleNamenspiel: Sie können sprach- oder textspielerisch in Erscheinung treten. Der sprachspielerische Umgang mit Eigennamen aller Art (Personen-, Mannschafts-, Städtenamen usw.) zeigt sich z.B.

 bei der Modifikation des SprichwortsSprichwort Unverhofft kommt oft. in der Schlagzeile Unverhofft kommt Ovtcharov (Potsdamer Neueste Nachrichten, 03.08.2012, 15), wo der Familienname eines Sportlers (Sportart Tischtennis) das Adverb oft ersetzt;

 bei der Kreuzung des Mannschaftsnamens Hoffenheim (Kurzform) mit dem Wertadjektiv hoffnungslos in der Schlagzeile Neue Pleite für Hoffnungslosheim (Bild, 18.02.2013, 20), die auf eine Serie verlorener Fußballspiele Bezug nimmt;

 bei der paradoxen ZusammenrückungZusammenrückung der Verbform bog (umgangssprachlich boch) und der Präposition um zum Städtenamen Bochum in der Titelzeile Ein Mönch Bochum die Ecke (Eulenspiegel, Nr. 4/2016, Sonderseiten Literatureule, 94), mit der ein Nonsens-Text, über die Entstehung des Städtenamens Bochum Auskunft gebend, überschrieben ist.

Ein Beispiel für den textspielerischen Umgang mit Personennamen liefert ein Exemplar der journalistischen TextsorteTextsorte Porträt (vgl. Hoffmann 2012a: 242). Der Text ist nach dem poetischPoetizität/poetisch-ästhetischen Muster AkrostichonAkrostichon strukturiert. Das heißt: Jeder Buchstabe des Vor- und Familiennamens der porträtierten Person (im Beispieltext Armin Mueller-Stahl) wird der Reihe nach zum Anfangsbuchstaben eines am Anfang eines Abschnitts stehenden Wortes. Die abschnittseröffnenden Sätze zum Vornamen Armin lesen sich in diesem NamenspielNamenspiel-Porträt so (vgl. Filmspiegel, Nr. 3/1962, 16): Am Anfang war die Begeisterung für das Theater. / Recht oft ging er mit den Kindern ins Theater. / Mueller-Stahl … Dieser Name ist heute in Theaterkreisen recht gut bekannt. / In Karl-Marx-Stadt bereitet seine Schwester Dietlind als Dramaturgin jede Neuinszenierung mit vor. / Neunzehnhundertneunundvierzig hatte Armin Mueller-Stahl sein Staatsexamen bestanden – als Musiklehrer!

 

Mit Sprach- und TextspielenTextspiel verbindet sich eine breite Palette an Funktionen und Wirkungen. Das Erzielen formbezogener Erträge ist lediglich eine Funktion unter vielen anderen (vgl. u.a. Poethe 2002: 26–29; Janich 2010: 211ff.).

1.3 Stil in einer Kosten-Nutzen-Relation

Ertragsorientierte Textproduktion und -rezeption – so hatten wir gesagt (siehe 1.1) – bedeutet Ausrichtung auf einen kommunikativen Gewinn, einen kommunikativen Nutzen. Hier lässt sich eine Brücke schlagen zu Rudi Kellers Kosten-Nutzen-Rechnung, die bei der Wahl sprachlicher Mittel aufzumachen sei (1995: 216–228). Mit dem Kostenaspekt werden die kommunikativen Anstrengungen geistiger und artikulatorischer Art erfasst, mit dem Nutzenaspekt mögliche Gewinne in dreifacher Hinsicht: Anstreben lässt sich ein informativer Gewinn (z.B. die Überzeugung des Textrezipienten), ein sozialer Gewinn (z.B. die Aufrechterhaltung einer Freundschaft) und ein ästhetischer Gewinn (z.B. der Unterhaltungswert des Gesagten). Wir erkennen in dieser Dreiteilung unschwer persuasiveErtragpersuasiver, sozialeErtragsozialer und formbezogene ErträgeErtragformbezogener wieder. Die Kosten, die ein Sprecher (Textproduzent) veranschlagt, können höher oder niedriger ausfallen. Höher sind sie, wenn er anstelle einer direkten eine indirekte Ausdrucksweise wählt. Dann ist zu fragen, was ihn dazu veranlasst, den kommunikativ unbequemeren Weg einzuschlagen. Rudi Keller gibt darauf folgende Antwort: „Der Sprecher wählt den indirekten Weg genau dann, wenn er ihn als den aussichtsreicheren beurteilt.“ (Ebd.: 218) Doch was ist eigentlich unter der Direktheit bzw. Indirektheit eines Wegs zu verstehen? Gemeint ist der Unterschied zwischen der Wörtlichkeit und der Nichtwörtlichkeit des Gesagten. Letzteres ist beispielsweise der Fall, wenn sich der Sprecher (Textproduzent) metaphorischMetapher/Metaphorisieren oder ironisch äußert. So kann sich eine metaphorische Ausdrucksweise als aussichtsreicher herausstellen, einen intellektuellen ErtragErtragintellektueller zu erzielen, eben weil sie es vermag, abstrakte Sachverhalte zu veranschaulichen. Metaphorik verlangt allerdings auch dem Hörer (Textrezipienten) höhere geistige Kosten ab, denn sie impliziert die an ihn gerichtete Aufforderung, „etwas als etwas anderes zu sehen“ (ebd.: 224). Eine ironische Ausdrucksweise kann sich als aussichtsreicher herausstellen, einen emotionalEmotionalität/Emotionalisieren-psychischen ErtragErtragemotional-psychischer zu erzielen, eben weil sie es vermag, die Bewertung von Sachverhalten als distanziert-spöttisch erscheinen zu lassen, etwa im Rahmen der journalistischen TextsorteTextsorte Glosse (vgl. Lüger 1995: 137ff.). Vom Hörer (Textrezipienten) wird bei dieser Form von Indirektheit erwartet, dass er sein Wissen einbringt, um die IronieIronie/Ironisieren zu erkennen. Es wird außerdem erwartet, dass er den SpottSpott als gerechtfertigt ansieht. Auch er hat also erheblich höhere Kosten, doch der mögliche Nutzen liegt auf der Hand: Der Text kann Vergnügen bereiten.

2 Definitionsmerkmale der Textkategorie Stil
2.1 Einleitung

Vor mehr als hundert Jahren beginnt Richard M. Meyer seine „Deutsche Stilistik“ mit folgenden Worten:

Die Stilistik wird insgemein als eine Art Geheimmittellehre aufgefaßt, die allerlei Kunstgriffe zur Erzielung ästhetischer Wirkungen an die Hand geben soll. Davon kann im Ernst nicht die Rede sein; vielmehr ist sie eine wissenschaftliche Disziplin, die als solche das Verständnis vorhandener Erscheinungen zu fördern und zu verbreiten sucht. In diesem Sinn behandeln wir die Stilistik in dem folgenden Abriß als ein System theoretischer Erkenntnisse, das sich selbstverständlich praktisch verwerten läßt, gerade wie die Grammatik (im Sprachunterricht) oder jede andere Wissenschaft. (Meyer 1913: 1)

Aktuell an diesen Worten ist einiges: der Status der Stilistik als Wissenschaft, die Systemhaftigkeit theoretischer Erkenntnisse, die praktische Verwertbarkeit von Einsichten in stilistische Regularitäten. Nicht mehr aktuell ist natürlich auch einiges: Von einer Geheimmittellehre spricht heutzutage niemand mehr. Statt um Kunstgriffe geht es heute um theoretisch fundierte methodische Instrumentarien. Und schlösse man sich der Auffassung Meyers an, dass die Stilistik letztlich nichts anderes sei „als eine vergleichende Syntax“ (ebd.: 3), bliebe das Blickfeld eingeengt auf ein Teilsystem des SprachsystemsSprachsystem als Stilmittelreservoir und der Blick versperrt auf den eigentlichen Stilbereich in seiner Bindung an und seiner Einbindung in die Kommunikation. Erstaunlicherweise gelingt es dem Autor dennoch, den Blick zu weiten und Stilistisches auch im Rahmen von „Gattungen“ wie ‚Essay‘, ‚Literarisches Porträt‘ und ‚Wissenschaftliche Darstellung‘ zu beschreiben.

Vor mehr als zehn Jahren beginnt die „Einführung in die Stilistik“ von Karl-Heinz Göttert und Oliver Jungen folgendermaßen:

Das hat Stil! Oder auch: Das hat keinen Stil! – erstaunlicherweise verstehen wir solche Aussagen bestens, ohne sagen zu können, was Stil eigentlich ist. Diese definitorische Verlegenheit stellt kein kleines Manko für die Stilistik dar. Eine Einführung in die Disziplin der Stilistik hat es da etwas einfacher, weil sie das Manko nur zu benennen, nicht zu beheben braucht. (Göttert/Jungen 2004: 13)

Kritikwürdig an diesen Ausführungen ist erstens, dass das Wort Stil in den angeführten Beispieläußerungen ein ästhetisches Werturteil zum Ausdruck bringt, im Sinne von ‚ästhetischÄsthetik/ästhetisch ansprechender Gestaltung‘ verwendet wird, während die Aufgabe der Stilistik darin besteht, den Grundbegriff Stil so zu bestimmen, dass damit die Vielfalt an Gestaltungsweisen mit neutralen Kennzeichnungen (Stil der Wissenschaft, Werbestil, Märchenstil, Stil Thomas Manns usw.) erfassbar wird. Kritikwürdig an den zitierten Worten ist zweitens die Annahme, dass Einführungen in eine Wissenschaftsdisziplin ohne eine Definition des jeweiligen Gegenstands auskommen können. Der Verzicht auf eine Definition hat zwangsläufig zur Folge, dass lediglich diffuse Vorstellungen vom Gegenstand entstehen, was wenig hilfreich und letztlich unwissenschaftlich ist. So nährt der Verzicht auf eine Stildefinition berechtigte Zweifel, ob die Stilistik überhaupt zu den Wissenschaftsdisziplinen gehört. Die Zweifel daran potenzieren sich, wenn anstelle des Bemühens, zu einer Stildefinition zu gelangen, spöttische Vergleiche angestellt werden, wenn Stil z.B. mit einem Fabelwesen wie dem Ungeheuer von Loch Ness verglichenVergleichen wird: „Man spricht davon, schreibt und hält Vorträge darüber, doch über etwas, was unsichtbar bleibt.“ (Dubois u.a. 1974: 24)

Dabei ist über Stil als Grundbegriff der Stilistik wahrlich schon viel gesprochen und geschrieben worden. Der Begriff bietet unerschöpflichen Diskussionsstoff. Es gibt mittlerweile zahlreiche Stilrichtungen (Text-, Gesprächs-, Pragma-, Sozio-, Literatur-, Funktionalstilistik u.a.) und weitaus mehr Stilauffassungen, -konzepte und -definitionen. Selbst innerhalb einer Stilrichtung können verschiedene Sichtweisen zur Geltung kommen. So ist es im Rahmen der Textstilistik möglich, den Fokus auf pragmatischePragmatik/pragmatisch Aspekte des Stils zu richten: Stil wird als die Art und Weise des Vollzugs einer TexthandlungTexthandlung (z.B. ERZÄHLENERZÄHLEN/Erzählen, WERBENWERBEN, BEURKUNDENBEURKUNDEN) begriffen. Im Rahmen der Textstilistik ist es aber auch möglich, im Stil eines Textes ein mehr oder weniger komplexes kommunikatives Zeichen zu sehen, mit sprachlichen und nichtsprachlichen Komponenten, in monologischer oder dialogischer Form, mit individueller oder überindividueller Prägung, mit pragmatischer, sozialer oder ästhetischer BedeutungSemantik/semantisch, in poetischenPoetizität/poetisch oder nichtpoetischen Kommunikationszusammenhängen. Von dieser semiotischen Sichtweise (Stil als Zeichen in der Kommunikation) sind die stiltheoretischen Ausführungen im vorliegenden Buch getragen. Die Problematik vieler Stiltheorien resultiert aus einem Universalitätsanspruch bzw. aus der Verabsolutierung eines ganz bestimmten Aspekts. Eine semiotisch orientierte Textstilistik legt sich zwar auch fest, hat aber das Potential, die verschiedensten Aspekte unter einem Dach zusammenzuführen.

Bei dem hier vorzustellenden Stilkonzept gehen wir nicht von einer fertigen Stildefinition aus. Stattdessen werden Definitionsmerkmale der Textkategorie Stil in der Art eines Puzzles aneinandergelegt und an Beispieltexten erläutert, um sie am Ende in einer Stildefinition zusammenzuführen. Strittiges bleibt weitestgehend ausgeblendet, doch auf eine Diskussion stiltheoretischer Fragen wird nicht gänzlich verzichtet, denn auch die Problematisierung von Positionen kann dazu beitragen, möglichst viel Klarheit über das Phänomen Stil zu gewinnen. In diesem zweiten Kapitel wird deshalb an das Ende eines Abschnitts gelegentlich ein Block mit der Überschrift „Diskussion“ gestellt, in dem Fragen, die sich aus dem Studium der Fachliteratur ergeben, erörtert oder offene Fragen, die sich zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht befriedigend beantworten lassen, formuliert werden.

2.2 Musterbasiertheit
2.2.1 GestaltungsmusterGestaltungsmuster allgemein: Komponenten des Musters Gestalten

An unserer ersten Station auf dem Weg zu einer Stildefinition wollen wir auf die Frage eingehen, wie der Stil eines Textes eigentlich in den Text „hineinkommt“. Für die Antwort auf diese Frage erweist es sich als nützlich, wenn nicht als unumgänglich, den stilistischen Aspekt der Textproduktion mit dem Begriff Gestaltung zu erfassen. Mit Hilfe dieses Begriffs können wir Stil als ein Gestaltungsprodukt bestimmen. Wir können sagen, dass er durch einen GestaltungsaktGestaltungsakt hervorgebracht wird und dass Gestaltungsakten ein GestaltungsmusterGestaltungsmuster zugrunde liegt. Ein prägnanterPrägnanz/Prägnant-Machen stiltheoretischer Leitsatz lautet ganz in diesem Sinne: Stil beruht auf dem Muster Gestalten (vgl. Püschel 1995: 306). Da es naturgemäß viele unterschiedliche Stile gibt, müsste es eigentlich dementsprechend viele Gestaltungsmuster geben. Nun besagt der Leitsatz aber gerade, dass es ein einziges Muster gibt, nämlich das Muster Gestalten. Wie lässt sich diesem offensichtlichen Widerspruch Logik abgewinnen? Etwa so: Wenn von dem Muster Gestalten die Rede ist, dann gerät immer das Allgemeine, das allen Gestaltungsakten zugrunde liegt, in den Blick. Man kann es mit Ulrich Püschel noch deutlicher sagen und Gestalten als „das allgemeinste oder zentrale Stilmuster“ (1995: 307) bestimmen. Wenn hingegen im Plural von Gestaltungsmustern die Rede ist, dann werden einzelne, spezifizierte, konkret bestimmbare Gestaltungsakte in ihrer Musterhaftigkeit erfasst. Im Folgenden sei versucht, das Allgemeine (das Muster) und das Einzelne (die Muster) etwas ausführlicher zu beschreiben und voneinander abzugrenzen.

Gestalten heißt allgemein gesehen, einer x-beliebigen Sache (Gegenstand, Zustand, Prozess, Handlung usw.) eine bestimmte Form zu geben, und zwar – wie sogleich hinzugefügt werden muss – nach einem Formgebungsprinzip oder einer Formgebungsidee, denn nicht jede Formgebung ist per se ein GestaltungsaktGestaltungsakt. Wer eine Tasse oder einen Krug töpfert, gibt Gefäßen erst einmal eine Form, die sich als Tasse oder Krug zu erkennen gibt, ohne dass bereits ein Gestaltungsakt vollzogen sein muss. Wer einen Satz nach grammatischen Regeln produziert und Wörter nach grammatischen Regeln einbindet, gibt dem Satz und den Wörtern zweifellos einen Form, aber eben eine grammatische Form. Wer einen Text produziert, ein TextthemaTextthema abhandelt, orientiert sich bei der Textbildung zum einen an textgrammatischen Regeln, zum anderen an kommunikativen Gesichtspunkten und in diesem Zusammenhang auch an Formgebungsprinzipien. So kann man das Thema eines Textes anschaulich abhandeln (z.B. in Lehrbüchern) oder theoretisch-abstrakt (z.B. in wissenschaftlichen Aufsätzen). Vielfach ist die Gestaltung mehr oder weniger vorgeschrieben, so in Protokollen, wo es auf GenauigkeitGenauigkeit ankommt, oder in Festreden, die nach einem feierlichen Stil verlangen. AnschaulichkeitAnschaulichkeit, AbstraktheitAbstraktheit, Genauigkeit und FeierlichkeitFeierlichkeit sind Beispiele für Formgebungsprinzipien. Beispiele für Formgebungsideen findet man z.B. in Werbeanzeigen, die in Gedichtform verfasst sind, in Kontaktanzeigen, in die Märchenelemente eingeflochten sind, oder in den Laut- und Buchstabengedichten der Konkreten Poesie. Gestaltungsakte vollziehen sich nicht im luftleeren Raum. So bildet insbesondere die TextsorteTextsorte (z.B. Lehrbuch, Protokoll, Festrede, Werbeanzeige, Kontaktanzeige, Gedicht) den Rahmen für die Entfaltung von Formgebungsprinzipien und Formgebungsideen. Mit diesen beiden Stilkategorien ist eine wichtige Komponente des Musters Gestalten gewonnen: das Ziel, das anvisierte Ergebnis des Gestaltens. Um es zu erreichen, müssen geeignete Prozeduren, d.h. Formgebungsverfahren umgesetzt und geeignete Formgebungsmittel eingesetzt werden. Musterbildend sind also neben einer Zielkomponente (finalen Komponente) auch eine prozedurale und eine instrumentale Komponente. Das Muster Gestalten stellt sich mithin als eine Drei-Komponenten-Struktur dar, bei der wir, um zu verdeutlichen, dass es sich um Einheiten dieses Musters handelt, die Bezeichnung Formgebung durch die Bezeichnung Gestaltung ersetzen (siehe Tab. 1).

 

Finale KomponenteProzedurale KomponenteInstrumentale Komponente

Tab. 1: Komponenten des Musters Gestalten

Wir werden das Muster Gestalten an passender Stelle (siehe 2.5.1) zu vervollständigen haben.