Schneesturm im Hochsommer

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Schneesturm im Hochsommer
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Über dieses Buch

Meinrad Inglin ist einer der bekanntesten Unbekannten, seinen Namen kennen fast alle, seine Werke die we­­nigs­ten. Dabei ist er ein grosser Könner in einem grossen Spektrum unterschiedlicher literarischer Genres, sti­lis­tisch abwechs­lungsreich und sprachlich wohlkomponiert.

«Schneesturm im Hochsommer» versucht, sein vielfältiges Schaffen ­abzubilden und damit einen literarisch hoch­­interessanten und oft überraschend aktuellen Schweizer Klassiker wieder breiter bekanntzumachen.

«Inglin ist seit Jahren genau der, von dem viele sagen, man hätte ihn ‹nicht auf dem Schirm› und der deshalb allen so präsent ist. Die Frage ist doch vielmehr: Was macht den Kerl so interessant, dass er nicht verschwindet? Er hat nie auf Effekt geschrieben. Er hat versucht, Verhältnis­se zu beschreiben, wie sie sind. Eine Hal­tung, die nach dem ganzen postmodernen Klimbim auf eine neue Art interessant ist.» Peter von Matt


Foto © Keystone / Photopress Archiv

Meinrad Inglin (1893–1971) Sohn eines Goldschmieds, Uhr­ma­chers und Jägers, wurde mit siebzehn Jahren Vollwaise. Uhrma­cher- und Kellnerausbildung, trotz fehlender Matura Studium der Literaturgeschichte und Psy­chologie in Bern, Genf und Neuenburg. Tätig­keit als Zeitungsredaktor, während des Ersten und Zweiten Weltkriegs Offizier im Grenzdienst. 1922 als Journalist in Berlin, danach als freier Schriftsteller in Schwyz.

Meinrad Inglin

Schneesturm im Hochsommer

Erzählungen

Herausgegeben von Ulrich Niederer

Nachwort von Usama Al Shahmani

Limmat Verlag

Zürich

Die entzauberte Insel

Am Rande des Inselgehölzes, unter verwachsenen wilden Laubbäumen, von denen ein paar Äste fast bis auf das Wasser herabhingen, schob sich ein junges Gesicht durch das niedere Gesträuch, ein nackter Arm folgte behutsam und stützte sich auf einen bemoosten Block des schmalen felsigen Ufers. Eine Wasserjungfer hielt in der Luft vor dem Gesichte zitternd an und flitzte wieder weg. Der Jüngling schaute in eine Lücke des dünnen Schilfgürtels hinein auf frisch erblühte weiße Seerosen und spähend in das klare Wasser hinab. Er sah dort unten zwischen den langen weichen Blattstengeln und weiter draußen gegen den abfallenden Grund einen Schwarm fremdartiger Fische; sie glichen großen, auf der Kante ruhenden Silberhänden, und es kam ihm geheimnisvoll vor, wie sie, gegen Osten gerichtet, unter den Seerosen und ihren schwimmenden grünen Blättern in verschiedener Tiefe regungslos verharrten. Nach einer Weile blickte er auf und sah draußen den See im heißen Sonnenlichte flimmern, während dieser Uferstreifen im Schatten lag, er sah das grüne Dach der überhängenden Äste, die schneeweißen Blüten auf dem klaren Wasser, darunter wieder die ruhenden Fische, und er begann mit seinem stillen Gesichte wie in einem wunderbaren Traum erstaunt und glücklich zu lächeln.

Ein Anruf weckte ihn. «Baschi, Baschi!», rief eine jugendliche Stimme, und damit war er gemeint, er hieß Sebastian. Langsam kroch er zurück, stand auf und ging in seiner verwaschenen roten Badehose durch das Unterholz des Inselwäldchens an das gegenüberliegende Ufer. Dort hatten seine drei Kameraden, mit denen er gelandet war, das entlie­hene, geräumige Stehruderboot des alten Fischers in einer Fels­nische festgebunden und machten am Ufer unter Tannen und Buchen ihre Angelruten bereit. Sie fragten ihn, wo er die Würmer verstaut habe. Er gab flüchtig Antwort, teilte ihnen aufgeregt seine Entdeckung mit und griff nach seiner Angelrute.

Da bekamen sie glänzende Augen vor Unternehmungslust und beeilten sich mit ihren Vorbereitungen. Sie waren sechzehn Jahre alt, Lateinschüler, die manchen freien Nachmittag fischend oder badend auf dieser einsamen Insel verbrachten, in einem heiteren Frieden, den sie vor allen Schulsorgen, vor Gewissensängsten, Weltanschauungsfragen und anderen Gespenstern bewahrten. Sie erlitten, wie ihre brü­chi­gen Stimmen, den schwierigen Wechsel, der sie aus Knaben zu jungen Männern machte; hier fanden sie, ohne es recht zu wissen, als Knaben eine letzte Zuflucht und widerstanden auch meistens der eitlen Versuchung, sich untereinander wie Erwachsene zu benehmen. Während sie mit ge­­übten Fingern den Angelhaken in den Regenwurm steckten, meinte der naturkundige Anselm, dass Baschi wahrscheinlich Brachsen gesehen habe, schöne, aber hier nicht eben seltene Fische.

«Ganz klar!», sagte Karl, ein stämmiger, lebhafter kleiner Bursche, dem alles schlüssig über die Zunge kam und dessen Stimmbruch auch am weitesten fortgeschritten war. «Übrigens sind sämtliche Fische in diesem See so genau bekannt, dass von fremdartigen keine Rede sein kann. Und nach deiner Beschreibung, Baschi, können es nur Brachsen sein …»

Robert, ein hübscher, kräftiger Junge in einer keilförmigen, knallroten Badehose, die an seinem wohlgenährten Körper etwas spärlich aussah, schloß die Beratung recht einfach: «Brachsen oder nicht, wenn wir sie nur erwischen. Los!»

Sie gingen, ihre Angelruten hochhaltend, durch das Gestrüpp zum Schattenufer, wo Robert, Karl und Anselm erregt flüsternd ihre Schnüre dicht nebeneinander vorsichtig zwischen die Seerosen hinabgleiten ließen.

Für Sebastian war kein Platz mehr, und er drängte sich nicht hinzu, er hatte die Fische entdeckt und als Erster betrachtet, das genügte ihm, mochten nun die andern die Entdeckung nützen. So ging es ihm oft, und er fand sich damit ab, ja er ahnte auch schon, dass mit diesem Los in Zukunft höhere Dinge zu erwerben waren als die handgreiflichen, die etwa Robert im Sinn hatte. Er war ein tiefgründiger, schüchterner Bursche, der neben seinen nur zum Teil geliebten Schulfächern Gedichte las und geigen lernte, indes die andern sich vorläufig mit Indianergeschichten begnügten. Hier aber lebte er wie seine Kameraden und mit ihnen übereinstimmend, froh, unbefangen und noch ohne Richtung. Er trug die Angelrute an den Platz zurück, den sie Schifflände nannten, und streifte zu seinem Vergnügen ein wenig herum.

Der See mit seinen stillen, von Schilf, Ried und Wald begrenzten, von Bergen hoch umgebenen Ufern glänzte im frühsommerlichen Nachmittagslichte. Die Insel lag dem westlichen Waldufer gegenüber auf einer Klippe, einem unregelmäßig aus dem Wasser ragenden Felskopf, den seit Menschengedenken eine kleine Wildnis bedeckte. Sie war nicht größer als ein mittlerer Dorfplatz, aber voll heimlicher Winkel und Schlüpfe. Sebastian stieg auf eine von jungen Tannen, Kiefern und Stechpalmen bewachsene Kuppe und drüben zu einer Uferstelle hinab, wo zwischen bemoosten Blöcken eine Wildente im Mai zwölf Eier ausgebrütet hatte. Er fand im weich gepolsterten Nest noch Reste der Eierschalen und flaumige Federchen, von denen er sich einige hinter die Ohren steckte. Er kletterte dem Ufer entlang zur Eglibucht und sah einem kleinen Barsch zu, der schwänzelnd halbwegs auf dem Kopfe stand und sein Maul heftig in den kiesigen Grund stieß, dann drang er zwischen Weiden- und Haselbüschen wieder ins Innere, wo Buchen, Eschen, Eichen verschiedenen Alters sich gegenseitig in die Kronen gerieten, und trat zuletzt auf eine sonnige Ufernase hinaus, die sie Hechtekap nannten. Sie fiel mit goldgelb blühendem Ginster schräg ins Wasser hinab; ihr war auf Schritteslänge eine kleine Felsbank vorgelagert, die sich knapp über die Oberfläche erhob. Mit einem weiteren Schritt über das untiefe Wasser erreichte man einen kahlen Buckel, der zu dieser Jahreszeit schon bei leichtem Wellenschlag überspült wurde, aber jetzt zwei Füßen eben noch trockenen Stand gewährte. Diesen Buckel betrat Sebastian, reckte sich in der strahlenden Sonne, blickte auf den See hinaus und blieb da stehen.

Indessen spähten die Übrigen zu den Fischen hinab, die nicht anbeißen wollten. Es waren junge Brachsen, im Vergleich zu gewissen fingerlangen Beutestücken schon recht ansehnliche und daher begehrte Fische, obwohl man ihrer vielen groben Gräten wegen zu Hause die Nase rümpfte, wenn die jungen Fischer großartig mit einem pfündigen Muster davon anrückten. Robert wurde ungeduldig und erklärte, wenn keiner dieser offenbar schon vollen Fresssäcke beißen wolle, so werde er auf andere Art dennoch einen erwischen. Er versuchte nun mit dem leeren Angelhaken einen der Brachsen am Bauche anzureißen.

Anselm runzelte die Stirn. «Hör auf!», rief er. «Das ist nichts, das ist keine Fischerei! Außerdem verscheuchst du sie nur … da, bitte, da ziehen sie ab, kannst ihnen jetzt nachsehen, du Oberfischer!»

Anselm, ein schlanker, sehniger Junge in blauer Badehose, war sehr darauf bedacht, dass mit den Fischen, mit den Tieren überhaupt, keine Schindluderei getrieben wurde, und er duldete zum Beispiel nicht, dass man zwecklos, nur so zum Vergnügen, kleine Fische fing, um sie nachher wegzuwerfen. Er hatte ein längliches Gesicht mit klugen, dunklen Augen, die ausnahmsweise sowohl vor Heiterkeit wie vor Entrüstung sprühen konnten, aber sonst mit einem freundlichen Ernst ins Leben blickten und eine Art verrieten, der man nichts Unedles zutraute. Er verurteilte das unsportliche Benehmen Roberts, doch ihn selber mochte er aus anderen Gründen wieder gut leiden und nahm ihm seinen Verstoß jetzt auch nicht übel, wie denn auf dieser Insel überhaupt nichts übel oder schwer genommen und auch kein triftiger Anlass dazu geboten wurde.

Sie gingen auf andere Plätze, fingen ein paar Gründlinge und kleine Barsche, die sie als Köder an dreifache Angeln steckten, und verteilten sich gespannt zum Hechtfang. Als sich auch dabei vorläufig nichts ereignete, «setzte» jeder die Angelrute, indem er ihre Mitte auf einen Steinblock oder eine Astgabel legte, ihren Schaft in ein Loch steckte oder mit Steinen beschwerte; geduldig stand er dann da, beobachtete den unruhigen Korkschwimmer und ergriff die Rute nur noch, um das ängstlich zum Ufer strebende Köderfischchen behutsam wieder ins tiefere Wasser hinauszuschwingen.

 

Eine Stunde lang war es still auf der Insel, die Baumkronen standen regungslos im wärmeren Lichte des vorrückenden Nachmittags, ihre Schatten auf dem ruhigen Wasser verschoben sich unmerklich, und im vielfältigen Grün des Ufer­gehölzes schimmerte da und dort der helle Körper eines jugendlichen Fischers. Ein langschnabliger, wunderbar bunter Vogel, der unversehens aus den Bäumen flog und die Insel umkreiste, brachte wieder alle in Bewegung. Anselm kam hastig dem Ufer entlang zu Sebastian, der, in die laubigen Äste spähend, seinen Platz eben auch verließ, und rief gedämpft: «Ein Eisvogel, ein Königsfischer!» Sebastian hatte ihn gesehen, wie er vom Ufer wieder unter die Bäume geflogen war, sie gingen ihm nach und trafen Karl und Robert, die ihnen wie aus einem Munde zuriefen: «Habt ihr den Eisvogel gesehen?» Sie alle hatten ihn gesehen, einen kleinen rotfüßigen Vogel mit blaugebändertem Nacken, bläulich-grün schillernden Flügeln und seidig glänzender rostroter Brust, und sie zerstreuten sich suchend, um ihn noch einmal vor Augen zu bekommen, doch er war und blieb verschwunden wie im Traum ein flüchtiger schöner Gedanke.

Sie trafen sich wieder und stellten fest, dass heute das Wetter zum Fischen nicht günstig sei. Keiner hatte etwas gefangen. Das verdross sie nicht, sie zogen die Angelruten ein, stiegen ins Wasser und schwammen voller Wohlgefühl herum, bis die Schattenspitze des waldigen Abendberges die Insel streifte, dann brachen sie auf.

Am nächsten freien Nachmittag betraten sie die Insel aber­mals, gespannt und neugierig wie je, da hier kein Nachmittag ganz dem andern glich. Karl fing denn auch im Verlauf einer Stunde mit Gründlingen zwei viertelpfündige Barsche, worauf alle den Barschen nachstellen wollten und den bewölkten Himmel priesen, der baldigen Regen verhieß. Während sie nun zwischen ihren Fangplätzen und der Schiff­lände, wo ein Kessel mit Gründlingen und eine Wurmbüchse standen, geschäftig hin und her gingen, kam aber Anselm, Schweigen gebietend, mit erhobenen Brauen und geheimnisvoller Miene aus einem Ufergebüsch und winkte ihnen. «Die Alte kommt», flüsterte er. «Die Schlange.» Sie folgten ihm leise ans westliche Ufer und spähten stumm aus dem Unterholz.

Eine Schlange schwamm auf die Insel zu; den dunklen Kopf über das Wasser erhoben, doch mit den Windungen des geschmeidigen Leibes kaum einmal die Oberfläche berührend, nahte sie rasch und unauffällig. Sie züngelte, als sie landete, man sah ihre gespaltene, fadendünne Zunge und ihre gelben Backenflecken, dann tauchte lang wie ein Menschenarm ihr schwarzgefleckter graubrauner Rücken auf; sie kroch, eine feuchte Spur hinterlassend, über eine schräge Steinplatte und verschwand am Ufer. Es war eine Ringel­natter, die Jünglinge kannten sie und empfanden keinen Abscheu, sie alle hatten schon Nattern aufgehoben, wenn auch nicht ohne einen geheimen leisen Schauder; sie waren übereingekommen, diese alte Schlange, die schon vor ihnen die Insel besucht, ja zu ihr gehört und Unberufene ferngehalten hatte, zu dulden und auch dann nicht zu stören, wenn sie sich nach ihrer Gewohnheit auf den warmen Steinen eines Fangplatzes sonnte. Am Anfang hatten sie freilich noch geschwankt, ob sie die Natter töten wollten oder nicht, dann war dank Anselms Fürsprache und gewissen rätselhaften Andeutungen Sebastians in ihrem unentschieden dämmernden Innern eine achtungsvolle Scheu erwacht, die Scheu vor dem Unheimlichen, Abgründigen, das sie als etwas Wirkliches wenigstens ahnten, obwohl sie nichts darüber aussagen konnten, und für das sie die Schlange heimlich als natur­gegebenes Zeichen anzusehen begannen. Sie forschten jetzt nicht nach, wohin sie verschwunden war, sie gingen leise an ihre Plätze zurück, fischten ruhig weiter, ruhiger als vorher, als ob nun sie geduldet würden, doch heiter wie immer, und ruderten am Ende still von dannen.

Oft fuhren auch nur ihrer zwei oder drei zur Insel, manchmal aber kamen wieder andere Eingeweihte mit, Xaver zum Beispiel, ihr ältester Klassenkamerad, siebzehnjährig, ihnen allen ein wenig überlegen um die Erfahrungen dieses einen, entscheidungsreichen siebzehnten Jahres, und dann benützten sie neben dem alten Fischerkahn noch ein kleines Ruderboot.

Als endlich mit heißem Glanz und grell durchblitzten schwülen Nächten ihr Feriensommer anbrach, betraten sie die Uferklippe schon eines frühen Morgens hochbeglückt wie Entdecker ein märchenhaftes Eiland. Anselm schwang als Erster auf der Felsbank des Hechtekaps den kleinen Barsch an der Dreiangel hinaus, und kaum hatte der Korkschwimmer die vom Frühwind gekräuselte Wasserfläche berührt, als er zum freudigen Schreck des Fischers jäh in die Tiefe fuhr. Karl und Robert rannten auf Anselms Ruf herbei und erkannten beim ersten Blick auf die Schnur erregt, dass ein Fisch gebissen hatte. «Warten, warten!», rief Karl. «Nur nicht zu früh ziehen! Gib Schnur!» Anselm tat dies gespannt und schweigend schon selber, er bedurfte keiner Ratschläge. Sie alle hatten als Anfänger erfahren, dass man höchstens die leere Angel aus dem Wasser riss, wenn man zu früh anzog, und sie wussten jetzt, dass der Hecht mit dem lebenden ­Köder in eine gewisse Tiefe fuhr, nachdem er ihn gepackt hatte, um ihn erst dort unten zu verschlingen. Sie waren nur nicht einig, wie lang man warten müsse, der eine zählte klopfenden Herzens auf zehn, der andere auf fünfzehn oder gar auf zwanzig. «Jetzt!», rief Karl. «Zieh!» Anselm hörte nicht auf ihn, er rollte zuerst noch ein Stück lose Schnur auf, dann aber, während Robert schon draußen auf dem Felsbuckel kauerte, um die Beute in Empfang zu nehmen, dann riss er mit einem Ruck an, und die Rutenspitze bog sich so, dass die drei Fischer in Rufe des Erstaunens ausbrachen und die Größe des Gefangenen bewunderten, eh sie ihn sahen. Anselm zog mit gestraffter Schnur und gebogener Rute den Fisch behutsam und stetig heran, und alle erwarteten atemlos sein Auftauchen; er tauchte auf, verblüfft, wie es schien, ohne Widerstand, ein großer Fisch, ein Hecht. Erst als Robert nach ihm griff, schlug er mit dem Schwanze kräftig aus. Robert fuhr ihm mit der Rechten wie mit einem Raubvogelfang ins Genick und drückte ihm Daumen und Zeigefinger in die Kiemenspalten; er packte ihn so, dass er beim wildesten Zappeln nicht mehr entschlüpfen konnte, und es war zu erwarten, dass dieser entschlossene Junge dereinst auch im Leben nicht anders zupacken würde. Er hob ihn hoch empor und trug ihn lachend ans Ufer. Karl öffnete dem Räuber das scharf be­zahnte weite Maul, und Anselm löste ihm die Angel aus dem Schlund, dann stellten sie Gewichtsschätzungen an, die zwischen zwei und drei Pfund schwankten, trugen ihn zum Fischkasten ins Boot und brachen sogleich zu neuen Taten auf.

Sebastian und Xaver beugten sich über den Fischkasten und betrachteten den Hecht. «Er hat ein Gesicht wie ein böser alter Wucherer», sagte Sebastian. «Ich habe einen abgebildet gesehen mit flachem Schädel, tückischen Augen und grämlich vorgeschobener Unterlippe, der hatte diesen Ausdruck.»

«Jawohl, das gibt’s auch im Leben», stimmte Xaver zu. «Leute, die so aussehen, sollte man angeln dürfen; die würden auf jeden Dreck anbeißen.»

Sie schlenderten lachend weg.

Ein blauer Sommermorgen strahlte über dem See, auf der Insel war es still, an ihren laubgrünen, bemoosten und steingrauen Ufersäumen stand da und dort ein ruhig fischender Jüngling, oder einer trat aus dem Schatten der Bäume ins Licht und leuchtete auf, ein anderer wandelte im Innern her­um, und es schimmerte von ihm aus Gebüschlücken wie aus der Tiefe des Waldes von Spänen frischgeschälter Stämme. Sie fischten geduldig, wechselten manchmal ihre Plätze und blieben heiter und glücklich, obwohl sie nichts mehr fingen. Um Mittag schwammen sie in den See hinaus, alle in dersel­ben Richtung und leise, um keine Fische zu stören, dann machten sie bei der Schifflände ein Feuerchen, brieten Käse, bähten Brot und kochten Tee, nachmittags fischten sie wieder oder taten nichts, und abends, später als sonst, ruderten sie still von dannen. Hinter ihnen glühte der Abendhimmel gewaltig auf, glühte sie an und glühte goldrot aus dem Wasserspiegel wider, zwei Reiher flogen über sie hin, und vom östlichen Berghang blitzten wie große feurige Sterne die Fens­­terscheiben menschlicher Wohnungen. Sie ruderten dem Ufer zu, wo sie ihre Kleider geborgen hatten, zufrieden mit dem Tag und freudig schon den nächsten bedenkend, in einem tieferen Frieden, als sie bei ihrer Unkenntnis der lauten Welt ermessen konnten, und durch ihre ungebrochene Jugend noch in einem letzten Einklang damit.

Eines Nachmittags aber, als sie geduldig hinter ihren Angelruten standen, kam Xaver dahergerudert, und auf dem vorderen Rand des kleinen Bootes saß ein Mädchen im Badekleid, Ilse, seine Base. Sie kannten sie nicht, hatten aber von ihr gehört und wussten, dass sie aus der Stadt, wo sie wohnte, zu Xavers Eltern in die Ferien gekommen war. Xaver hatte ihnen angekündigt, dass er sie auf die Insel mitbringen werde, und das tat er nun also. Es war seine Sache, es ging sie nichts an, die Insel war groß genug, um auch einem Mädchen noch Platz zu bieten. Sie sahen dem Besuche kühl entgegen und wollten sich nicht stören lassen.

Vetter und Base kehrten einander den Rücken. Die Base ließ ihre nackten Beine über den vorderen Bootsrand hinabhängen und schleifte die Zehen durch das laue Wasser. In der Nähe der Insel wandte sie sich nach Xaver um, schaute dann lächelnd auf die Fischer am Hechtekap, schwang die Beine ins Boot, zog Badeschuhe an und setzte sich ordentlich hin. Sie war fünfzehn Jahre alt.

Die Fischer, Robert und Anselm, standen ruhig da und schienen nichts anderes zu beachten als den Korkschwimmer. Sie fanden es immerhin ungewöhnlich, dass sie im Badekleid kam; sie hatten noch kein badendes Mädchen in der Nähe gesehen, da in der hiesigen Badeanstalt die Geschlechter streng getrennt waren. In der Stadt aber gab es natürlich Strandbäder, wo alles kunterbunt durcheinander badete, das war ganz natürlich, und sie brauchten kein Wort darüber zu verlieren.

Xaver ruderte in einem wohl bedachten Abstand am Kap vorbei zur Schifflände, legte an, ließ die Base aussteigen und machte das Boot fest. Niemand war zum Empfang da.

«Du, das ist aber reizend hier», sagte Ilse.

«Hab ich dir ja gesagt. Geh nur ein bisschen herum und schau alles an! Ich mache jetzt die Fischrute bereit.»

Ilse ging leise ins Gehölz hinein, sah sich neugierig lächelnd um und stieg drüben auf eine Uferklippe der Eglibucht, wo sie verblüfft mit der Hand zum Munde fuhr, um einen Laut zu unterdrücken. Unter ihr kletterte ein Junge in einer verwaschenen rötlichen Badehose auf den Steinen herum, er hatte ein Haselrütchen in der Hand und blickte an verschiedenen Stellen aufmerksam ins Wasser hinein. Sie schaute ihm erheitert zu, gespannt und jeden Augenblick gewärtig, entdeckt zu werden.

Sebastian, der hier kleinen Barschen nachstellte, sah sie denn auch plötzlich, verharrte wie gebannt in seiner kauernden Haltung und staunte zu ihr hinauf. Er hatte gewusst, dass Xaver mit der Base dahergerudert kam, aber nun sah er ein schönes Mädchen in einem leuchtend blauen Stoff, der den leicht gebeugten schlanken Körper nicht verhehlte, mit nackten Beinen, Armen und Schultern, mit einem braungelockten Kopf und heiteren Augen. Er sah sie wie eine märchenhafte Erscheinung im blättergrün gedämpften Sonnenlicht dort oben stehen und zu ihm hinablächeln, und sein empfängliches Herz begann heftig zu schlagen.

Ilse sah das gutmütige Jungengesicht mit der Stumpfnase, das schweigend zu ihr hinauf staunte, und fand auch ihrerseits kein passendes Wort, sie lachte nur in leisen, hohen ­Tönen auf, belustigt von der Überraschung des regungslos Kauernden, und trat zurück.

Sebastian setzte sich offenen Mundes auf einen Stein, und sein Herz schlug heftig weiter. Er sah sie noch greifbar vor sich, und sie war ganz anders, als man sich die Base eines Kameraden vorstellt, sie stand ihm vielmehr vor Augen wie im Traum eine heitere junge Halbgöttin, von der man augenblicklich bezaubert wird, ohne sie im Einzelnen genau zu sehen und den Grund des Zaubers zu erkennen. Sie war süß und vollkommen, schöner als jedes andere Wunder dieser geliebten kleinen Insel. Langsam erhob er sich und schaute auf der Uferklippe die Stelle an, wo sie gestanden hatte, dann blickte er vorsichtig herum, ob niemand zusehe, und legte seine Hände auf die Stelle. Von einer ihm unbekannten verwirrenden Wärme durchhaucht, stieg er auf die Klippe und schlich spähend in das Gehölz hinein, bis er Stimmen hörte. Er sah gegen das Hechtekap hin die Halbgöttin in Begleitung ihres Vetters aus dem Grünen schimmern und erkannte Roberts brennend rote Keilhose, die sich ihr vom Kap her zögernd näherte. Scheu blieb er im Gebüsche stehen und sah zu.

 

Xaver stellte dort den Kameraden seine Base vor. «Das ist nun also meine Kusine, Fräulein Ilse», sagte er und nannte dar­auf die Namen der jungen Herren. Anselm nickte nur errötend, ohne ihre Hand zu ergreifen, trat einen Schritt zurück und blieb mit einem scheuen, ungläubigen Blick auf das halbnackte Fräulein befangen stehen. Robert errötete ebenfalls und griff mit der Rechten vor Verlegenheit oder Aufregung zuerst fehl, aber dann erwischte er die schmale Hand und umschloß sie fest wie einen Fisch. Karl, der auch hinzugekommen war, benahm sich auffallend gewandt, obwohl er als der kleinste Mann hier wenig vorstellte, er rückte stramm die Fußballen zusammen, verbeugte sich leicht und sagte, dass er sich freue, Fräulein Ilse als Gast auf dieser Insel begrüßen zu dürfen; darauf trat er ein wenig zurück und schwieg.

Ilse selber blieb unbefangen und lächelte jeden der Herren mit derselben freundlichen Neugier an.

Xaver, der die Befangenheit seiner Kameraden erkannte und ihnen darüber hinweghelfen wollte, schloss die Vorstellung scherzhaft, aber offenbar ganz unangebracht: «Bei uns zu Hause hat das Fräulein natürlich einen Rock an.»

Ilse stieß einen schnippisch missbilligenden Laut aus und schüttelte den Kopf gegen ihren Vetter, dann fragte sie: «Habt ihr schon etwas gefangen?»

Karl trat vor und erklärte: «Heute noch nicht. Das Wetter ist nicht besonders günstig zum Fischen. Es kommt nämlich sehr auf das Wetter an. Vielleicht wird es gegen Abend besser. Aber es ist noch nicht lange her, da habe ich zum Beispiel nacheinander zwei halbpfündige Barsche herausgezogen. Und kürzlich haben wir einen großen Hecht gefangen. Dann gibt es hier noch Brachsen, Haseln, Rotteln …»

Anselm ließ Karl reden und kehrte an seinen Fangplatz zurück. Robert folgte ihm, statt seinen eigenen Platz aufzusuchen, sah sich mehrmals nach Ilse um und sagte leise: «Verdammt noch mal! So hab ich sie mir nicht vorgestellt.»

Anselm nahm schweigend die Hechtrute auf und begann zu fischen.

«Hast du gesehen, was für Beine sie hat?», fuhr Robert fort. «Klassische Beine, kann ich dir sagen. Überhaupt, wie sie gewachsen ist! Und ein Badkleid hat sie, so etwas gibt’s bei uns nicht. Es liegt ganz eng an, hast du das gesehen?»

Anselm hatte es nicht geradezu übersehen, doch er hatte vor allem den unländlichen schmalen Schnitt ihres kindlich beseelten Gesichtes bemerkt und einen so freundlichen, klugen und offenen Blick auf sich gefühlt, wie ihn die einheimischen Mädchen in ihrer spröden Befangenheit nicht besaßen. Er zuckte über Roberts Wahrnehmungen die Achsel.

Robert merkte das kaum, er hatte auf seine Art Feuer gefangen und musste reden. «Sie ist ein Jahr jünger als wir, aber du, sie hat schon ganz reizende kleine Brüste, ist dir das nicht aufgefallen?»

«Sieh du lieber einmal nach, wie’s mit deiner Fischrute steht!»

Robert winkte ab, als ob ihm das Fischen gleichgültig geworden wäre, er hatte dagegen noch dies und jenes zu erwähnen und ging erst, als er durchaus kein Gehör dafür fand; leicht befremdet und nun seinerseits die Achseln zuckend, begann er vor sich hin zu pfeifen, ging und strich dem Mädchen nach.

Ilse blieb nicht lange, sie wollte noch ein wenig herumfahren, und Xaver ruderte sie weg. Sie kehrte der Insel den Rücken, aber dann wandte sie sich auf ihrem Sitz anmutig um und winkte. Karl und Robert standen auf dem Hechtekap und winkten auch, Anselm stand, ohne zu winken, hinter ihnen im Gebüsch, und noch weiter hinten schaute Sebastian aus dem Schatten der Bäume mit traumverlorener Miene dem ruhig fortgleitenden Boote nach.

Wenige Tage darauf betrat Ilse die Insel zum zweiten Mal. Hoch­sommerschwüle lag auf dem See, die Mücken tanzten dicht über dem Wasserspiegel, die Fische sprangen, und hoch im flimmernd blauen Himmelsgrunde standen gewaltige weiße Wolkenballen. Die jungen Fischer kannten die Gunst dieses gewitterverheißenden Nachmittags, sie hatten un­tereinander den bevorstehenden Besuch mit keinem Worte erwähnt und schienen nun eifrig beschäftigt. Karl aber konnte sich nicht enthalten, das Fräulein auf seinen Fangplatz einzuladen. «Fräulein Ilse, jetzt passen Sie auf», sagte er, «jetzt werde ich Ihnen einmal etwas vorfischen.» Ilse sah, wie der stramme und eifrige Bursche den Köder an der langen Rute weit hinausschwang, und hörte eine Weile gutmütig seinen Erläuterungen des Hechtfangs zu, aber als der Hecht nicht beißen wollte, begann sie sich zurückzuziehen. «Wenn Sie noch einen Augenblick Geduld hätten …», rief Karl, «ich werde es jetzt mit einem Egli versuchen, mein Gründeli da ist schon zu matt …»

Ilse hörte nicht recht darauf, sie ging ein wenig spazieren und traf an der Schifflände ihren Vetter Xaver. «Ich möchte am liebsten baden», sagte sie. «Aber wenn sie hier alle fischen …»

«Ja, es ist ein fabelhaftes Fischwetter, weißt du», erwiderte Xaver und suchte sich im Kessel ein Köderfischchen aus.

«Ach ja! Eben war ich bei diesem … wie heißt der Kleine, der so viel schwatzt?»

«Karl?»

«Ja, der. Er wolle mir etwas vorfischen, sagte er, und dann schwatzte er mir nur die Ohren voll. Er hat krumme Beine. Ich finde ihn komisch …»

Karl stand zu seinem Unglück ein paar Schritte hinter ­ihnen und hörte es, er war hierhergekommen, um den Köder auszuwechseln, und hatte nur darauf gewartet, dass Xaver den Kessel freigab. Jetzt wartete er nicht länger, er ging mit geröteter Stirn an seinen Platz zurück und blieb dort stehen, tief gekränkt, ja erbittert und im Augenblick unfähig, sich aus diesem Wirrsal von Weh und Zorn herauszufinden.

«Du solltest nicht auf die Beine sehen», entgegnete indessen Xaver seiner Base. «Übrigens gibt es noch krümmere. Karl spielt sich ja ein wenig auf, aber das tun die Kleinen meistens, wenn sie Rasse haben. Und was sein geöltes Maul betrifft, das kann er später brauchen, er will Advokat werden. Er ist ein ganz patenter Bursche.»

«Ja, kann schon sein … Aber dann ist da noch einer, den du mir noch gar nicht vorgestellt hast …»

«Baschi, jawohl! Ein feiner Typ und sehr intelligent. Er ist etwas scheu … aber vielleicht macht er sich nichts aus dir, du kannst nicht verlangen, dass dir hier alle den Hof machen wie Robert …»

«Pf! Ich weiß nicht, was er von mir will … Aber jetzt geh’ ich diesen Baschi suchen.»

Sebastian saß auf einem Stein zwischen Fels und Gestrüpp einer verborgenen Uferstelle. Er hatte die Hechtrute gesetzt, aber der Korkschwimmer lag still, und an der Angel war kein Köder mehr. Er blickte ins Wasser hinein und sah kleine Weißfische nach Mücken schnappen, er sah zwischen schlamm­grauen Steinen einen Barsch auftauchen und sah eine Wasserjungfer auf dem grünen Teller eines Nixblumenblattes landen, aber er freute sich nicht darüber. Er empfand mit seinen äußeren Sinnen den Frieden, die Stille und Wärme des Inseltages, aber in seinem Innern hatte er nichts mehr damit zu tun, dort zitterte alles vor Spannung und strahlte eine sanfte Glut aus, die noch auf seinen Wangen widerschien. Er stand unruhig auf und spähte über die Böschung weg durch Buschlücken ins Wäldchen hinein, er setzte sich wieder, schaute ins Wasser und spürte von neuem, dass die Wunder der Insel ihn nicht mehr lockten. Er allein wusste, was seine Kameraden erst ahnten, dass hier der alte Zauber gewichen war, in dessen Bann sie gestanden hatten, und er trauerte darüber. Aber vom Grunde dieser leisen Trauer ­lohte sein Herz wie eine Flamme vom Opferaltar dem halbgöttlichen Mädchen entgegen, das die Insel entzaubert und alle ihre Eigenschaften in einer geheimnisvollen süßen Steigerung auf sich vereinigt hatte. Er wagte nicht, ihr selber zu begegnen, er hätte denn fähig sein müssen, zu singen, zu knien oder zu schweben; mit dem Reste seiner Vernunft stellte er fest, dass dies nicht anging, da zwischen seinem Entzücken und der wirklichen Lage ein Unterschied bestehen könnte. Ein Schimmer ihrer nackten Schultern, die Anmut einer flüchtig wahrgenommenen Bewegung oder ein verwehender Silberklang ihres Lachens genügten, ihm Herz und Seele berauschend mit ihrer Gegenwart zu erfüllen.

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