Die Anbetung der Könige

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UNGEBETENE GÄSTE

Gerade als Gianni Bruzzo, der leicht übergewichtige Chefportier des Opificio delle Pietre Dure, damit beschäftigt war, in der Besucherliste zu vermerken, dass Darren Hammond das OPD verlassen hatte, betraten zwei Männer mit einer Hartplastikkiste, die in etwa die Ausmaße eines Mikrowellenherdes hatte, das Gebäude. Die beiden stellten sich als Angestellte einer Tierhandlung in Prato in der Nähe von Florenz vor und erklärten, dass sie eine Lieferung für Signore Massimo Poletti hätten. Man solle Poletti doch bitte rasch rufen, erklärte der eine der beiden, da die eben vor der Portiersloge abgestellte Transportkiste möglicherweise einen Sprung habe, man könne für nichts garantieren. Bruzzo hatte in seinem Portiersdasein schon vieles erlebt und rief gelassen Poletti an, der natürlich prompt nicht in seinem Büro war, sondern irgendwo im Haus umherschwirrte. Nein, sein Mobiltelefon habe Poletti nicht mitgenommen, das liege auf seinem Schreibtisch, erklärte man Bruzzo. »Na, bestens!«, schoss es dem Portier durch den Kopf.

Die beiden Männer von der Tierhandlung Mondo ­Animali beäugten die Transportkiste inzwischen von allen Seiten, schienen aber mit ihrer Grobanalyse der Situation zufrieden.

»Signore Poletti wird in ein paar Minuten hier sein«, erklärte Bruzzo den beiden Männern und fragte beiläufig: »Was ist denn überhaupt in der Kiste drin?«

»Eine Boa constrictor. Aber eine kleine. Keine Sorge«, erwiderte der Größere der beiden.

Von Sorglosigkeit angesichts einer lateinamerikanischen Würgeschlange war Portier Buzzo ungefähr so weit entfernt wie von einer Beförderung zum Direktor des Opificio delle Pietre Dure. Nicht nur seiner Angst vor Schlangen wegen, sondern auch, weil er sich gar nicht ausmalen wollte, was einer seiner Vorgesetzten sagen würde, wenn dieser wüsste, dass im Eingangsbereich des Hauses eine Riesenschlange in einer vermutlich angebrochenen Transportkiste lauerte. ­Poletti musste her, und zwar schnell.

Angespannt griff Bruzzo zum Telefon und machte sich daran, die Telefonliste von oben nach unten abzuarbeiten. Er war gerade bei »G« angelangt, genauer bei Signora Gentile aus der Buchhaltung, die ebenfalls keine Ahnung hatte, wo sich der kaufmännische Direktor aufhielt, als Darren Hammond, der Journalist von eben, wieder vor der Portiersloge auftauchte. Er habe sein Aufnahmegerät oben in der Werkstätte liegen lassen, erklärte er. Bruzzo war bewusst, dass es nicht den Vorschriften entsprach, aber er hatte jetzt wirklich andere Sorgen, und so gestattete er Hammond, alleine zur Werkstätte hochzugehen, nicht jedoch ohne den Journalisten vorher oben in der Werkstatt anzukündigen und im selben Atemzug nachzufragen, wo denn Poletti verblieben sei. Der sei eben noch dagewesen, habe die Werkstätte aber vor drei Minuten verlassen, erklärte man ihm. Möglicherweise spaziere er noch mit der Delegation vom Chinesischen Nationalmuseum in Peking durch das Gebäude, schließlich träume Poletti vom ganz großen Geschäft mit den Chinesen.

Dass es in der grünen Transportkiste plötzlich raschelte und unrhythmisch klopfte, trug nicht gerade dazu bei, dass sich Bruzzo entspannte. Bei seinem Telefonrundruf war er mittlerweile bei Cesare Rizzoli, dem Sekretär von Direktor Collocini, gelandet. Doch auch der wusste nicht, wo sich Poletti aufhielt. Man möge ihn bitte nicht mit derartigen Dingen belästigen, er habe Wichtigeres zu tun. Und selbst wenn sich Poletti einen lebendigen Säbelzahntiger liefern ließe, würde es ihn, Rizzoli, nicht im Geringsten interessieren. Damit legte er grußlos auf.

Bruzzo rollte die Augen und wischte sich mit dem Handrücken ein wenig Schweiß von der Stirn. Er konnte und wollte sich jetzt nicht mit diesem aufgeplusterten Pfau aufhalten. Vielmehr wollte er diese Riesenschlage aus seinem Einflussbereich befördert wissen. Die beiden Männer von der Tierhandlung, die er während des Telefonats durch die Glasscheibe sehen konnte, bedeuteten Bruzzo gestikulierend, dass sie weiterfahren müssten. Der eine der beiden hatte bereits ein Formular und einen Stift in der Hand und drängte Bruzzo, die Lieferbestätigung zu unterfertigen, schließlich hätten sie noch zwei weitere Lieferungen zu erledigen.

»Und was soll ich Ihrer Ansicht nach tun, wenn die Schlange aus der Kiste kriecht?«, fragte Bruzzo die beiden Lieferanten.

»Dann rufen Sie uns an! Hier ist unsere Telefonnummer«, meinte der mit dem Lieferschein.

Damit machten sich die beiden auf den Weg zum Ausgang. Bruzzo wollte sie gerade noch zurückhalten, als das Telefon in der Portiersloge läutete. Es war Poletti. Was denn so wichtig sei, dass das ganze Haus nach ihm suche, wollte Poletti, der im Opificio delle Pietre Dure für die möglichst gewinnbringenden Beziehungen zu Museen und anderen Kultureinrichtungen zuständig war, wissen. Als Bruzzo in seinen Schilderungen beim Wort Riesenschlange angelangt war, brüllte Poletti »Ich komme!« ins Telefon und knallte den Hörer auf die Gabel. Aus dem Augenwinkel bemerkte der Portier, wie sich die Hartplastikkiste mit der Schlange mehrmals sanft hob und wieder senkte.

Im nächsten Moment kam Massimo Poletti mit der chinesischen Delegation langsam die Treppe herab, blieb mitten im Eingangsbereich kurz stehen und ging dann, ohne ­Bruzzo eines Blickes zu würdigen, auf die Hartplastikkiste zu. »Mondo Animali« stand auf der Kiste in grünen Lettern zu lesen, und dann war da noch ein Sticker mit seinem Namen: »Sign. Massimo Poletti, Opificio delle Pietre Dure, Fortezza da Basso«.

»Wer hat die Kiste hergebracht? Und warum haben Sie mich nicht gleich gerufen?«, zischte Poletti, nachdem er sich in einem gefühlt zehn Minuten dauernden Ritual von der sechsköpfigen Delegation aus China verabschiedet hatte.

»Vorsicht«, ereiferte sich Bruzzo, als Poletti die Kiste auf die Seite drehte, wo nun Luftschlitze erkennbar waren.

»Bruzzo, bitte, was soll schon sein? Es ist eine Babyschlange, haben Sie doch gesagt«, schnaubte der studierte Zoologe verächtlich.

Die Kiste war auffällig leicht, fand Poletti, und dann sah er den rund 40 Zentimeter langen Sprung quer über die Luftschlitze. Ohne zu zögern, hob er die Kiste in die Höhe und schüttelte sie. Ein wenig Stroh rieselte heraus, ansonsten bewegte sich nichts.

Vorwurfsvoll blickte er zum Portier: »Bruzzo, bei allem Respekt: Zuerst lassen Sie mich im ganzen Haus suchen wie einen Schwerverbrecher. Und jetzt das! Wo, zum Henker, ist die Schlange? In der Kiste ist sie nämlich nicht!«

EINE EREIGNISREICHE NACHT

Es war knapp nach halb elf. Die Dunkelheit legte sich über die Restaurationswerkstatt im Zentrum von Florenz. Der Nachtportier Giovanni Fiore hatte um zehn nach zehn den letzten noch im Haus befindlichen Mitarbeiter verabschiedet und seine Runde durch das Gebäude vollendet. Boa constrictor hatte er, nicht anders als vermutet, keine gesehen. Der Schürhaken in seiner rechten Faust war nicht zum Einsatz gekommen. Soll sich doch Bruzzo tagsüber darum kümmern, dachte sich der schmächtige Enddreißiger, der von seinen Kollegen oft als »unser Philosoph« tituliert wurde, weil er stets mit dicken Schmökern zur Arbeit erschien. Der Chef der Portierstruppe war ganz aufgelöst gewesen, als Fiore sich um 21.50 Uhr zum neunstündigen Nachtdienst bei der Portiersloge eingefunden hatte. Die auch gegenüber Bruzzo mehrfach geäußerte Theorie von Fiore lautete: »Es handelt sich um einen üblen Scherz, und in der Kiste war gar keine Schlange.« Und nachdem die Belegschaft in einer improvisierten Mitarbeiterversammlung über die angebliche Babyriesenschlange informiert und zu Vorsicht sowie Stillschweigen gegenüber der Presse angehalten worden war, war man wieder zur Tagesordnung übergegangen. Die lokale Tierrettung und ein Riesenschlangenexperte aus Rom waren jedenfalls für den kommenden Morgen um acht Uhr ins OPD bestellt worden. Er, Fiore, würde dann allerdings bereits im Land der Träume weilen, seine Schicht endete schließlich um sieben Uhr, inklusive Übergabe spätestens um 7.15 Uhr. Schon erstaunlich, wofür es alles Experten gibt, schoss es ihm durch den Kopf. Ein Riesenschlangenexperte in Italien. Absurd. Vielleicht sollte er auch Experte für irgendetwas werden und saftige Honorare kassieren, dann müsste er nicht vier Tage in der Woche als Nachtportier im Opificio delle Pietre Dure schuften. Experte für Alarmanlagen war er ja schon, murmelte Fiore zu sich selbst, während er die Anlage kontrollierte. Er registrierte keine Unregelmäßigkeiten und machte es sich darauf mit der von Bruzzo hinterlassenen »Gazzetta dello Sport« in der Portiersloge bequem.

Zuvor warf er noch einen kurzen Blick auf das interne Memo, in dem die Geschäftsführung nachdrücklich darauf hinwies, dass unternehmensfremde Personen – auch Angehörige – unter keinen Umständen von der Boa constrictor erfahren dürften, auch und vor allem, weil man sich angesichts der Konkurrenz aus Turin keine negativen Presseberichte leisten könne. Unterzeichnet hatte das Memo Direttore Collocini, der nicht nur unter den Portieren weitaus beliebter war als der mitunter pedantische kaufmännische Direttore Poletti. Fiore würde jetzt noch eine Stunde Zeitung lesen, danach einen Rundgang machen – mit dem Schürhaken bewaffnet – und sich anschließend aufs Ohr hauen.

Zur gleichen Zeit setzte sich zwei Stockwerke oberhalb der Portiersloge in einem Raum mit Putzutensilien ein Mann in einem dunkelgrünen Overall eine Schirmkappe auf. Sowohl der Overall als auch die Kappe wiesen ihn als Mitarbeiter von Mondo Animali aus. »Lorenzo Di Pasquali« stand auf einem Namensschild mit Logo zu lesen. Die vergangenen Stunden hatte der Mann unter anderem damit zugebracht, aus Kunststoffstäben und Steckvorrichtungen sowie einer Kunststoffplane eine 30 Zentimeter tiefe, 260 Zentimeter lange und 260 Zentimeter breite Transportkiste zu basteln. Die Vorderseite zierte das grüne Logo von Mondo ­Animali, auf der Rückseite prangte in großen Lettern »Attenzione, Serpente soffocato!« – »Achtung, Würgenschlange!«

 

Di Pasquali, der Baumwollhandschuhe trug, öffnete nun vorsichtig die Tür der Putzkammer, trat auf den Gang hinaus, versicherte sich noch einmal, dass sein Tun von keiner Sicherheitskamera und keinem Bewegungsmelder verfolgt wurde, und warf einen prüfenden Blick auf die verschlossene Tür des Labors, hinter der die Gemälde auf Leinwand und Holz restauriert wurden. Die überdimensionale Transportkiste hatte er in der Putzkammer zurückgelassen. Er zog einen walnussgroßen Stein aus der Jackentasche, zielte und traf. Als das Türglas zerbarst, hatte der Stein ein Loch von rund vier Zentimeter Durchmesser hinterlassen, und zwei Stockwerke tiefer schlug, um exakt 22.40 Uhr, in der Portiersloge die Alarmanlage an. Di Pasquali hatte sich unterdessen gleich wieder in sein Putzkämmerchen verzogen und wartete nun, dass der Nachtportier auf den Plan trat.

Giovanni Fiore wollte sich gerade den Vorbericht zum morgigen Meisterschaftsspiel von Florentina gegen Bologna durchlesen, da heulte die Sirene los. In weniger als drei Sekunden landete die »Gazzetta dello Sport« auf dem Tisch, und Fiore hatte den Entwarnungsknopf für die Eingangstür zur Restaurationswerkstatt an der Alarmanlage gedrückt. Dass die Carabinieri ausgerechnet heute bei ihm aufkreuzten, musste er unter allen Umständen vermeiden: Erstens wäre das mit mühseliger Schreibarbeit verbunden, zweitens würde ihn Chefportier Bruzzo elendslang befragen, warum es notwendig gewesen sei, die Polizei ins Haus zu holen, und drittens durfte die Geschichte mit der abhanden gekommenen Boa constrictor keinesfalls an die Öffentlichkeit dringen. War die Polizei erst mal im Haus, würde die lokale Presse in Windeseile von der entkommenen Boa erfahren, und das Opificio delle Pietre Dure wäre zumindest für einen Tag das Gespött von ganz Florenz. Mit diesen wenig erquicklichen Gedanken machte sich Fiore auf den Weg zum Labor in die zweite Etage: Bewaffnet mit einer Taschenlampe in der linken und dem Schürhaken in der rechten Hand, nahm er jeweils drei Stufen auf einmal. Diesem Biest würde er es zeigen! Ihm die Nachtruhe stehlen und Arbeit ohne Ende aufbürden! Diese verdammte Boa! Fiore schnaubte entschlossen und nahm den Schürhaken noch etwas fester in die Hand.

Als das Licht der Taschenlampe die Tür zum Labor für die Gemälderestaurierung erfasste, sah Fiore sofort das golfballgroße Loch in der Milchglasscheibe. Im Nu hatte er seinen Schlüsselbund hervorgekramt, die Tür geöffnet und sämtliche Lichtschalter betätigt. In Türnähe war der Boden mit Glassplittern übersät, aber sonst schien alles normal zu sein. Das Da-Vinci-Gemälde, dessen Inhalte in den vergangenen Monaten von Tag zu Tag deutlicher zum Vorschein gekommen waren, befand sich noch immer in seinem Holzrahmen. Und auch sonst gab es nichts, was Fiore, der nun immer weiter ins Labor vordrang, verdächtig schien. Ein Knacken hinter seinem Rücken ließ ihn herumfahren. Er bog um eine Staffelei, umrundete einen Schreibtisch, und da lag sie: eine Maus, deren Zustand mit mausetot ziemlich treffsicher beschrieben werden konnte. Ein, zwei Schritte noch, und Fiore war wieder bei der Tür angelangt. War da nicht was? Diese Boa kann was erleben, fluchte er vor sich hin, während seine Faust den Schürhaken so fest umklammerte, dass die Adern auf dem Handrücken hervortraten. Fiore warf einen Blick nach links und rechts und entschied sich, den Gang nach rechts zu nehmen. Zwanzig Meter weiter lag erneut eine T-Kreuzung vor ihm. Noch bevor er sich ein weiteres Mal mit der Links-oder-rechts-Frage auseinandersetzen konnte, schrillte erneut die Alarmanlage. Fiore machte auf dem Absatz kehrt, hetzte an der noch immer offenstehenden Tür zur Restaurationswerkstätte vorbei und nahm im Stiegenhaus drei Stufen auf einmal, inständig hoffend, seine Portiersloge rechtzeitig zu erreichen, bevor der verdammte Alarm an die Carabinieri und den Securitydienstleister des Opificio delle Pietre Dure weitergeleitet wurde.

Zwei Etagen höher machte sich unterdessen der Mann in der Mondo-Animali-Uniform daran, die »Anbetung der Könige« mit flinken und routinierten Handgriffen aus dem Holzrahmen zu entfernen. Behutsam berührte er das jahrhundertealte Gemälde mit seinen Baumwollhandschuhen, genau dort, wo dies auch die Restauratoren des OPD tun würden, und beförderte es in weniger als sechs Minuten in die Transportbox von Mondo Animali. Vorbereitung ist die halbe Miete, wusste Di Pasquali: Er hatte nichts dem Zufall überlassen und Eckenschoner aus Styropor mitgebracht, die das Bild in der mit Rädern ausgestatteten Transportbox schützen und zugleich stabilisieren sollten. Weitere 45 Sekunden benötigte er, um einen maßstabgetreuen Farbdruck der »Anbetung der Könige« so am Holzrahmen zu befestigen, dass man bei hastigem Hinsehen annehmen konnte, das Original hänge ebendort. Kurz darauf war die Restaurationswerkstätte wieder menschenleer, Di Pasquali hatte den Ort des Geschehens verlassen und sich mit dem in der Kunststoffbox verstauten Gemälde in die Putzkammer zurückgezogen.

Fiore hatte im allerletzten Moment die Portiersloge erreicht und schaltete jetzt den neuerlichen Alarm ab, der von einem Bewegungsmelder im zweiten Stock ausgelöst worden war. Eine Sekunde lang überlegte er, den Chef der Portiertruppe anzurufen, entschied sich dann aber dagegen. Er würde die Sache selbst in Ordnung bringen und sich nicht von einer Babyschlange aus dem Konzept bringen lassen. Bruzzo mochte keine nächtlichen Störungen, und der Gedanke an Bruzzos mögliche Sticheleien über seine Jagd nach der Boa bestärkte Fiore außerdem darin, die Sache selbst in die Hand zu nehmen. Die Kopie des Lieferscheins von Mondo Animali war schnell zur Hand, und Fiore schnappte sich den Telefonhörer. Wie erwartet, hob bei Mondo Animali niemand ab, schließlich war es 45 Minuten vor Mitternacht. Eine freundliche Frauenstimme forderte den Anrufer auf, eine Nachricht zu hinterlassen. Fiore schilderte das Problem in wenigen Worten, betonte die Bedrohlichkeit der Lage und bat dringend um ehestbaldigen Rückruf.

Seinen Plan von einem Schläfchen hatte er für diese Nacht längst begraben. Der Bericht der Ereignisse für die Unternehmensleitung und Bruzzo war zwar bereits fertig, aber es stand ihm noch ein letzter halbstündiger Rundgang bevor. Doch der brachte keine neuen Erkenntnisse. Sollen sich doch die Kollegen am Tag mit der blöden Schlange auseinandersetzen, dachte sich Fiore, der nun, gegen Ende seines Dienstes, angesichts des Schlafmangels deutlich müder war als sonst. Während aus dem Transistorradio Frankie Valli mit »Oh, What A Night« erklang, wünschte sich Fiore nur mehr eines: sein kuscheliges, warmes Bett.

DER SCHLANGE AUF DER SPUR

Aber die Leute von Mondo Animali sind doch schon im Haus, oder?«, meinte Stefano Gasperini, Fiores Kollege vom Tagdienst, nachdem der ­Nachtportier die Ereignisse des Vortages und der Nachtstunden in den buntesten Farben geschildert hatte.

»Wie kommst du denn darauf?«, entgegnete Fiore verwirrt.

»Weil ein Lieferwagen von Mondo Animali gleich um die Ecke steht«, erklärte der muskelbepackte 39-Jährige mit Vollglatze.

Der nun schon etwas übernächtigte Fiore atmete einmal tief durch und ging kurz nach draußen. An der Häuserecke links vom Opificio delle Pietre Dure sah Fiore tatsächlich einen grünen Lieferwagen von Mondo Animali. Das Auto war allerdings, soweit er sehen konnte, leer. Er blickte auf sein Smartphone. Es war 7.10 Uhr und damit wirklich allerhöchste Zeit, den Heimweg anzutreten. Genug Stress für einen Arbeitstag.

»Keine Ahnung, wo die Typen von Mondo Animali stecken. Vielleicht schauen Sie sich ja schon mal draußen um, wo die Schlange ist«, meinte Fiore, während er in der Portiersloge seine Sachen zusammenpackte. »Und tut mir bitte einen Gefallen: Sorgt dafür, dass die Schlange heute Abend zu meinem Dienstantritt nicht mehr da ist. Wir sehen uns morgen früh um sieben Uhr.«

Zehn Minuten später, Stefano Gasperini war gerade damit beschäftigt, Milch in seinen Kaffee zu gießen, klopfte es an der Scheibe der Portiersloge. Gasperini erblickte einen in einem grünen Overall gekleideten Mitarbeiter von Mondo Animali, neben dem ein kastengroßer, mit kleinen Rädern ausgestatteter Kunststoffbehälter mit der Aufschrift »Attenzione, Serpente soffocato!« stand. Der Mann mit dem Wohlstandsbäuchlein stellte sich als Lorenzo Di Pasquali von Mondo Animali vor.

»Wir sind wegen der entkommenen Boa constrictor hier. Ist denn mein Kollege schon bei Ihnen gewesen?«

»Also ich bin erst seit 20 Minuten hier, aber mein Kollege vom Nachtdienst hat niemanden von euch hereingelassen. Wir haben uns schon gewundert, wo ihr bleibt.«

Der Mann im grünen Overall blickte kurz auf seine Uhr und schien nachzudenken.

»Na gut, dann schau ich kurz nach draußen. Der Kollege wollte schnell Zigaretten kaufen. Vielleicht hat er außerhalb des Gebäudes mit der Suche begonnen. Die Schlangenfalle nehme ich wieder mit.«

Und schon rollte Di Pasquali den Kunststoffbehälter in Richtung Ausgang. Eine sonderbare Truppe, dachte sich Gasperini, rührte seinen Kaffee um und trug Lorenzo Di Pasquali in die Besucherliste ein. Dann machte er sich an die Lektüre von Fiores Bericht vom Nachtdienst und stellte sich seufzend auf einen ereignisreichen Tag ein.

Gerade als Gasperini 15 Minuten später die eben eingetroffenen Mitarbeiter des Reinigungsdienstes von der Babyriesenschlange unterrichtete, trafen ein angespannt wirkender Chefportier Bruzzo, der aus Rom angereiste Riesenschlangenexperte Alessio Bianchi und zwei junge Mitarbeiter der Florentiner Tierrettung bei der Portiersloge ein. Bruzzo bat den kräftigen, unausgeschlafen wirkenden Bianchi, einen Mitdreißiger mit Dreitagesbart, sowie die beiden jungen Tierretter nach einer kurzen Unterredung mit Gasperini in sein Büro. Mit Fiores Bericht unter dem Arm nahm Bruzzo Platz und schilderte den Anwesenden, was sich seit dem Nachmittag des Vortages im OPD abgespielt hatte und dass er sich nichts mehr wünsche, als dass der Spuk endlich ein Ende habe.

»Das oberste Gebot lautet: Kein Wort an die Presse! Das können wir uns nicht leisten, meine Herren«, beendete ­Bruzzo seine Ausführungen.

Die beiden Burschen von der Tierrettung hatten keine weiteren Fragen und begaben sich zu ihrem Van, um die Ausrüstung zum Einfangen und den Transport von Schlangen zu holen. Bianchi warf einen Blick auf den Lieferschein von Mondo Animali. Neue Aufschlüsse über das angeblich entwichene Tier bot ihm dieser allerdings nicht. Ob er die beschädigte Transportkiste noch kurz inspizieren dürfe, bevor er sich an die Arbeit mache, wollte Bianchi wissen. ­Bruzzo nickte, wiewohl er sich insgeheim wünschte, dass Bianchi endlich zur Tat schreiten und ihm dieses verdammte Tier aus dem Haus schaffe möge.

Nachdem er Bianchi die Transportkiste überreicht hatte, wandte Bruzzo sich Gasperini zu: »Ich bin sofort wieder da. Ich zeige Signore Bianchi das Labor, damit er die Fährte aufnehmen kann. Schick die beiden Herren von der Tierrettung bitte hinauf. Danke!«

Genau in dem Moment, als Bruzzo zwei Etagen höher dem Schlangenexperten Bianchi die Tür zur Restaurationswerkstatt aufsperrte, läutete das Telefon in der Portiersloge, und eine Dame von Mondo Animali meldete sich.

»Wir haben Ihren Anruf von vergangener Nacht abgehört. Die zwei Kollegen von gestern sind in 45 Minuten bei Ihnen.«

Gasperini verschlug es kurz die Sprache. Dann erklärte er der Telefonistin, dass die Herren von Mondo Animali bereits seit sieben Uhr vor Ort seien und offenbar entlang der Außenmauern nach der Schlange suchten.

»Davon weiß ich nichts«, erwiderte die Dame: »Wie heißen denn die beiden Kollegen?«

»Einer der beiden heißt Di Pasquali. Den anderen habe ich noch gar nicht …«

Die Stimme am anderen Ende der Leitung unterbrach ihn.

»Di Pasquali? Di Pasquali arbeitet schon seit zwei Jahren nicht mehr bei uns. Wieso sollte der bei Ihnen sein und eine Schlange einfangen wollen?«

Gasperini erklärte der Dame von Mondo Animali, dass er sie sofort zurückrufen werde, und machte sich daran, die Fortezza da Basso durch den Vordereingang zu verlassen. Auf dem Weg nach draußen wählte er Bruzzos Mobiltelefonnummer, aber sein Chef schien beschäftigt zu sein, denn er nahm das Gespräch nicht an. Während sich Gasperini noch darüber wunderte, was seinen Chef wohl davon abhielt, ans Telefon zu gehen, musste er feststellen, dass der grüne Lieferwagen mit dem markanten Schriftzug, der noch vor einer Stunde vor der Fortezza die Basso gestanden hatte, verschwunden war. Gasperini wurde plötzlich heiß und kalt zugleich.