Literarische Dimensionen der Menschenwürde

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Die erhabene Würde ist eine genuin dramenpoetische Kategorie, die dramenpoetische Anwendung der anthropologischen Würde und der Würde des Ausdrucks. Im Konzept des Pathetisch-Erhabenen konkretisiert SchillerSchiller, Friedrich seine Vorstellung der negativen Darstellung erhabener FreiheitFreiheit als Zweck der Tragödie.30 Die dramatische Darstellung großer physischer Bedrohung und überwältigenden Leids dient dazu, die Fähigkeit moralischen Widerstands der übersinnlichenSinnlichkeit Natur des Menschen zu demonstrieren und so dem Rezipienten die Spielräume des freien WillensWille, freier Wille und der freien Handlungsmacht in Extremsituationen aufzuzeigen – meist effektvoll inszeniert in einem Monolog des HeldenHeld.31 „[A]lles Erhabene stammt nur aus der VernunftVernunft“ (Ueber das Pathetische; NA 20, 201) – die erhabene Würde resultiert aus dem Widerstand des „eindrucksvoll starken und freien Wille[ns]“, der „moralischen oder Vernunftkräfte“ gegen die „sinnliche Natur des Menschen“,32 wenn der Mensch seine „moralische Selbstständigkeit“ (NA 20, 205) beweist. Um die Überlegenheit des freien Willens gegenüber der Sinnlichkeit vorzuführen, sind sogar Figuren, die willentlich unsittlich handeln, ästhetisch (nicht: moralisch) gerechtfertigt und können ästhetisch (nicht: moralisch) gefallen – solange sie geeignet sind, die (in diesem Fall ausschließlich ästhetisch gültige) erhabene Würde des Menschen zu illustrieren.33 Der Unterschied zwischen der anthropologischen und der erhabenen Würde ist, wie Ebert bemerkt, jener „zwischen Potentialität und Aktualität“34 – man könnte ergänzen: zwischen Potentialität und dramatisch-fiktional vermittelter Aktualität.

Die gesellschaftliche Würde und die an den antiken dignitas-Begriff erinnernden Würden sind rein kontingente Formen der Würde. Sie bezeichnen das gesellschaftliche Ansehen eines Menschen, seine Stellung, sein Verhalten, seine Ehre – und können daher, wie in der Erzählung vom Sonnenwirt Christian Wolf, eingebüßt werden.35 Der Verlust gesellschaftlicher Würde tangiert jedoch nicht die Subjektwürde des einzelnen Menschen. Wird der Mensch nicht als Selbstzweck betrachtet, so SchillerSchiller, Friedrich in seiner historischen Abhandlung Die Gesetzgebung des Lykurgus und Solon, werden die „Grundveste des Naturrechts und der Sittlichkeit“ (NA 17, 425) zerstört.36 An diesem Punkt berührt Schiller am unmittelbarsten KantsKant, Immanuel Würdebegriff: Nicht nur nimmt er die Selbstzweckformel auf,37 sondern auch die Vorstellung der Würde als eines absoluten, unbedingt zu achtenden Werts des IndividuumsIndividuum. Die Subjektwürde erhält als politische Würde eine dezidiert staatstheoretisch-politische Akzentuierung. Den Staat definiert Schiller lediglich als „Bedingung, unter welcher der Zweck der Menschheit erfüllt werden kann“, und dieser Zweck ist „die Ausbildung aller Kräfte des Menschen“ (NA 17, 423). Wenn also der Marquis von Posa von König Philipp „Gedankenfreyheit“ fordert und dass der Bürger „der KroneKrone (der Schöpfung) Zweck“ sei, der „seiner Brüder gleich ehrwürdʼge Rechte“ genieße (NA 5, 191 bzw. 193), dann leitet Schiller aus der Menschenwürde des Einzelnen politische und Freiheitsrechte ab.38

In seiner theoretischen Hauptschrift, den nach dem desillusionierenden Verlauf der Revolution entstandenen Briefen Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen, vollzieht SchillerSchiller, Friedrich einen radikalen Perspektivwechsel. Er knüpft nun nicht mehr politische Forderungen an die Menschenwürde; Ziel seines Erziehungsprogramms ist vielmehr, die verlorene Würde durch die Ästhetik, in der ästhetischen Erfahrung zu restituieren. Die ästhetische Würde39 ist demnach die angestrebte Überwindung des diagnostizierten Totalitätsverlusts mit dem Ziel „wahre[r] politische[r] Freyheit“ (NA 20, 311).40 Die Ästhetik ist dabei zwar nicht unbedingt ein Ersatz für die historische Wirklichkeit, aber doch ein notwendiger Umweg (2. Brief; vgl. NA 20, 312). Um den Extremen menschlicher Entzweiung, den exzessiv sinnlichSinnlichkeit getriebenen „Wilde[n]“ und den exzessiv von reinen Vernunftgesetzen geleiteten „Barbar[en]“ (4. Brief; NA 20, 318) gleichermaßen entgegenzuwirken, will Schiller das menschliche „Empfindungsvermögen[]“ ausbilden (8. Brief; NA 20, 332) – durch die „schöne Kultur“, die „zugleich anspannen und auflösen“ (10. Brief; NA 20, 336) soll. Um die beiden menschlichen Pole zu harmonisieren und in ein reziprokes, sich gegenseitig befruchtendes Verhältnis zu bringen, postuliert Schiller einen „mittleren Zustand“ bzw. eine „mittlere Stimmung“ (18. bzw. 20. Brief; NA 20, 366 bzw. 375).41 Der vermittelnde Spieltrieb hebt den Antagonismus zwischen sinnlichem Stofftrieb und Formtrieb (vgl. 12.–15. Brief; NA 20, 344–360), zwischen Neigung und moralischem Pflichtgefühl (vgl. 12. Brief; NA 20, 346), zwischen Sinnlichkeit und VernunftVernunft (vgl. 20. Brief; NA 20, 375) zumindest zeitweise auf. Nur im Spiel, d.h. im freien ästhetischen Erlebnis, das dem Menschen die Schönheit „in weitester Bedeutung“ (NA 20, 355) zugänglich macht und „seine doppelte Natur auf einmal entfaltet“ (NA 20, 358), ist er „ganz Mensch“ (NA 20, 359).42 Diese Vereinigung der Gegensätze konzeptualisiert Schiller als Vollendung des „Begriff[s] der Menschheit“ (15. Brief; NA 20, 356), als Annäherung an die „Idee seiner [i.e. des Menschen] Menschheit“ (14. Brief; NA 20, 353). Die ästhetische Kultur vermag, dieses menschliche Potential zu aktivieren, mithin den Menschen in die Lage zu versetzen, seine – durchaus normativ gedachte – Würde wiederzuerlangen:

Durch die ästhetische Kultur bleibt also der persönliche Werth eines Menschen, oder seine Würde, insofern diese nur von ihm selbst abhängen kann, noch völlig unbestimmt, und es ist weiter nichts erreicht, als daß es ihm nunmehr, von Natur wegen möglich gemacht ist, aus sich selbst zu machen, was er will – daß ihm die Freyheit, zu seyn, was er seyn soll, vollkommen zurückgegeben ist. (21. Brief; NA 20, 377–378; m. H.)43

Die ästhetische Würde ist die Fähigkeit zur vollkommen freien SelbstbestimmungSelbstbestimmung des mit sich versöhnten, ‚totalen‘ Menschen.44 SchillersSchiller, Friedrich Projekt der ästhetischen Erziehung wird so zum Garanten von FreiheitFreiheit und Menschenwürde, zunächst in anthropologischer, ultimativ jedoch auch in politischer Hinsicht, soll der ästhetische Mensch doch Bürger des ästhetischen Staats werden, eines Staats der Freiheit, in dem sich der „WilleWille, freier Wille[] des Ganzen durch die Natur des IndividuumsIndividuum vollzieht“ (27. Brief; NA 20, 410).45

Die letzte Facette der Würde, die Ebert in seiner Analyse nennt, zielt auf ihre leiblichen Bedingungen und zeigt den Idealisten und Ästhetiker SchillerSchiller, Friedrich als pragmatischen Realisten, ja Materialisten.46 In Würde des Menschen, einem Distichon von bemerkenswerter Lakonik, ‚erdet‘ er seine komplexen theoretischen Ausführungen – und zwar 1796, also nach Fertigstellung der Ästhetischen Erziehung: „Nichts mehr davon, ich bitt euch. Zu essen gebt ihm, zu wohnen, / Habt ihr die Blöße bedeckt, giebt sich die Würde von selbst“ (NA 1, 278).47 Rezeptionsgeschichtlich wird diese Dimension des Schillerschen Würdebegriffs jedoch eindeutig von anderen überlagert.48

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Grundsätzlich – und darin ist SchillerSchiller, Friedrich voll und ganz ein Sohn des 18. Jahrhunderts49 – ist die Menschenwürde auf zwei Arten bestimmt. Sie ist einerseits naturrechtlich grundierte Eigenschaft des Menschen als potentiell vernünftigemVernunft Nicht-TierTier, Vertierlichung, Theriomorphisierung, die ihm Rechte und AchtungAchtung garantiert. Andererseits aber ist sie auch bei Schiller noch ein anthropologisches Ideal, und als eben solches wird sie zu einer ästhetischen Grundkategorie, die sich wiederum durch einen doppelten Impetus, eine grundlegende begriffliche Ambivalenz kennzeichnet: die erhabene Würde auf der einen, die ästhetische Würde auf der anderen Seite. Jene bezieht sich einseitig auf den vernünftig-sittlichen Menschen und seine freie, selbstbestimmte, natürliche Affekte negierende Handlungsmacht. Wenn Schiller das Wort „Würde“ benutzt, meint er überwiegend diese erhabene Würde. Die ästhetische Würde jedoch ist genau jenes Ideal, das Schillers Diagnosen der menschlichen WürdelosigkeitWürdelosigkeit zugrunde liegt; der ‚verlorenen Würde‘ entspricht die ästhetische Totalität des Menschen. Welches ist demnach das Verhältnis zwischen erhabener und ästhetischer Würde?

Wenn SchillerSchiller, Friedrich im 23. der Briefe Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen als Ziel der ästhetischen Kultur eine Menschheitsstufe vorschwebt, auf der der Mensch gelernt hat, „edler [zu] begehren, damit er nicht nöthig habe, erhaben zu wollen“ (NA 20, 388), dann erscheint die erhabene Würde als ein nur vorläufig notwendiges Konzept, das irgendwann obsolet werden soll – nämlich dann, wenn der Mensch aus freien Stücken und ohne Willensanstrengung stets moralisch handelt. Diese Vorstellung nähert sich der „schönen Seele“ an, die Schiller in Ueber Anmuth und Würde als „das Siegel der vollendeten Menschheit“ bezeichnet, da in ihr „SinnlichkeitSinnlichkeit und VernunftVernunft, Pflicht und Neigung harmoniren“ (NA 20, 287–288).50 Diese „reifste Frucht [der] HumanitätHumanität“ kennzeichnet er jedoch ausdrücklich als „bloß eine Idee“, nach der der Mensch zwar „mit anhaltender Wachsamkeit streben“ soll, die er aber explizit „bey aller Anstrengung nie ganz erreichen kann“ (NA 20, 289).51 Im 24. Brief der Ästhetischen Erziehung variiert Schiller diesen Gedanken sowohl logisch als auch begrifflich, ohne jedoch das Verhältnis von erhabener und ästhetischer Würde grundlegend zu revidieren:

Es ist dem Menschen einmal eigen, das Höchste und das Niedrigste in seiner Natur zu vereinigen, und wenn seine Würde auf einer strengen Unterscheidung des einen von dem andern beruht, so beruht auf einer geschickten Aufhebung dieses Unterschieds seine Glückseligkeit. Die Kultur, welche seine Würde mit seiner Glückseligkeit in Uebereinstimmung bringen soll, wird also für die höchste Reinheit jener beyden Principien in ihrer innigsten Vermischung zu sorgen haben. (NA 20, 392)

 

SchillerSchiller, Friedrich umreißt noch einmal die zwei Optionen, mit denen er das Verhältnis der beiden Naturen des Menschen konzeptualisiert: Das, was Schiller hier „Würde“ nennt – und was in der vorangegangen Analyse als erhabene Würde bezeichnet wurde –, meint den absoluten Primat des „Höchste[n]“, der vernünftigenVernunft Natur. Die HarmonieHarmonie, der Ausgleich der Doppelnatur – die ästhetische Würde – figuriert hier (bezeichnenderweise in typisch aufklärerischer Terminologie) als „Glückseligkeit“. Das anvisierte Telos der Menschheitsgeschichte, das Schiller an dieser Stelle keineswegs als per se unerreichbares Ideal beschreibt, sondern indikativisch formuliert, ist hier aber nicht die Ablösung der erhabenen durch die ästhetische Würde, sondern deren Zusammenführung – auch wenn Schiller keine nähere Bestimmung dieser Zusammenführung liefert.52 Gleichwohl bleibt die Aussage des vierten Briefes, dass jeder Mensch „einen reinen idealischen“ – oder: einen würdigen – „Menschen in sich“ trage (NA 20, 316), gültig; Aufgabe der KunstKunst, Künstler ist es, diesen hervorzubringen.

Zusammengefasst und auf die Frage nach der Menschenwürde zugespitzt hieße das: Die ästhetische Würde bleibt tendenziell eine utopische Kategorie, die die eminente gesellschaftliche Stellung und politische Bedeutung der KunstKunst, Künstler und des Dichters53 legitimiert. In der literarischen Praxis bleibt jedoch die erhabene Würde die entscheidendere Kategorie, die mit einer klaren (dramen)poetischen Wirkabsicht verbunden ist.54

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SchillersSchiller, Friedrich Betonung der ästhetischen Würde des Menschen sowie der erhabenen Würde und ihrer ästhetischen Implikationen birgt die Gefahr einer idealistischen Verkürzung des Menschenwürdebegriffs, die vom IndividuumIndividuum, seinem sozialen Kontext und seiner sozialen Bedingtheit zugunsten des normativen Ideals abstrahiert.55 Obwohl Schiller die Menschenwürde durchaus auch als inhärente Qualität denkt, besteht das Risiko, dass sie nur noch als Ideal, als menschliche Potentialität, als Auftrag erscheint, in demselben Maße, in dem KunstKunst, Künstler zu einer eskapistischen, elitären, auf jeden Anspruch auf realgesellschaftliche Relevanz verzichtenden Ersatzwelt zu werden droht.56 Genau diese Vorstellung – Würde als rein ästhetisches Ideal57 – und ihre bildungsbürgerliche Aneignung werden zur Angriffsfläche für radikal antiklassische literarische Gegenentwürfe, u.a. bei BüchnerBüchner, Georg, Kleist, den Naturalisten und Expressionisten.

II.7. Ausblick: Die Menschenwürde bei GoetheGoethe, Johann Wolfgang

Dem Lexem ‚(Menschen-)Würde‘ kommt bei GoetheGoethe, Johann Wolfgang nicht der zentrale gedanklich-programmatische Stellenwert zu, den es in SchillersSchiller, Friedrich Werk einnimmt.1 Dabei sind jene Fragen, die Schillers Auseinandersetzung mit der Würde fundieren, natürlich auch Goethes Themen: die persönliche AutonomieAutonomie des Menschen, Konflikte von RationalitätRationalität und Gefühl, von Sollen und Wollen, die Bedingungen der Möglichkeit freier Sittlichkeit, die Stellung des Subjekts und sein Verhältnis zur Natur usw. – nur fokussiert Goethe diese nicht wie Schiller auf den Begriff der Menschenwürde. Auch die Goethe-Philologie hat ihre Analysen meist auf andere Termini zugespitzt: HumanitätHumanität, Bildung, Geselligkeit, Entsagung.2 Besonders die Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten, teilweise parallel zu Schillers Briefen Über die ästhetische Erziehung des Menschen in den Horen publiziert, wurden als „Gegenentwurf“ gelesen,3 der statt geschichtsphilosophisch perspektivierter Erziehung durch die KunstKunst, Künstler das Ideal individueller Bildung, auch des Dichters, propagiert, gleichsam eine Pragmatisierung und Konkretisierung des Schillerschen Projekts, seiner Sicht auf Rolle und Einflussmöglichkeit des Künstlers – und nicht zuletzt seines Würdeideals. Goethes bereits 1783 in Das Göttliche formulierter Imperativ: „Edel sei der Mensch, / Hülfreich und gut!“ ist programmatisch. Die menschliche Fähigkeit zur MoralitätMoral, Moralität ist zwar auch an ein Ideal gebunden, doch weiß das Gedicht genau um den ‚Ort‘ des Menschen: „Nach ewigen, ehrnen, / Großen Gesetzen / Müssen wir alle / Unseres Daseins / Kreise vollenden“, der „unfühlend[en] / […] Natur“ und dem „Glück“ ausgeliefert. Nur in diesen engen, innerweltlichen ‚Grenzen‘ kann der Mensch versuchen, ein „Vorbild / Jener geahndeten Wesen“ zu sein.4 Wenn AdornoAdorno, Theodor W. an Goethes Humanitätsdrama Iphigenie auf Tauris mit Blick auf die Taurer bemängelt, dass „[d]ie Opfer des zivilisatorischen Prozesses, die, welche er herabdrückt und welche die Zeche der Zivilisation zu bezahlen haben, […] um deren Früchte geprellt worden [sind], gefangen im vorzivilisatorischen Zustand“, dann verweist er auf eine Diskrepanz zwischen dem Anspruch des Humanitätsideals und seiner Anwendbarkeit auf die soziohistorische Realität;5 wenn nun Goethe, wenn auch unter anderen Vorzeichen, gegenüber Schillers ästhetischem Erziehungsprojekt ähnliche Vorbehalte hat, dass nämlich Humanität und Menschenwürde als utopische Ideale, reine Abstraktionen oder gedankliche Konstruktionen nur schwer in die Realität zu transponieren sind, entbehrt dies nicht einer gewissen Ironie. Und doch ist diese Konstellation bezeichnend und in einem doppelten Sinne entscheidend für die Bewertung der Menschenwürde in der Zeit der Weimarer Klassik. Ist sie ein ästhetisches Problem in dem Sinne, dass sie durch die Kunst und die Literatur hervorzubringen oder zu fördern ist, stellt sich die Frage nach ihrer konkreten literarischen Inszenierung – etwa durch ‚lebensechte‘ Figuren, die eben nicht nur reine Ideenträger sind wie Iphigenie. Ist Menschenwürde insofern ein ästhetisches Problem, als sie überhaupt nur in der und durch die Kunst denkbar ist, etwa weil es dem Theoretiker (Schiller, MoritzMoritz, Karl Philipp) primär um die Kunst an sich, ihren Rang und ihre Apologie geht, dann rückt die Frage nach Praktikabilität und Relevanz der Menschenwürde in der ‚Wirklichkeit‘ in den Hintergrund. Diese Aporien des klassischen Humanitäts- und Menschenwürdediskurses gewinnen vor der Folie der noch zu untersuchenden Texte KotzebuesKotzebue, August von und v.a. BüchnersBüchner, Georg umso schärfere Gestalt.

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Zwei Forschungsstimmen zielen pointiert auf den Begriff der Menschenwürde ab; sie nehmen die angedeuteten Aporien in den Blick und zeigen Ansätze ihrer Überwindung auf. Michael Hofmann beschreibt, wie GoetheGoethe, Johann Wolfgang und SchillerSchiller, Friedrich gegen Ende der Weimarer Klassik das „Humanitäts-HumanitätParadigma“ erneuern – indem sie den Menschenwürdebegriff ausweiten:

Ein wesentliches Problem des konventionellen Humanitäts-HumanitätDenkens erkennen SchillerSchiller, Friedrich und GoetheGoethe, Johann Wolfgang […] in der Unterordnung des Einzelnen unter Allgemeines, unter eine teleologisch verstandene Entwicklung der Menschheit oder unter ein objektivistisch verstandenes Ganzes der Natur. Die Würde des einzelnen Menschen wurde in der Aufklärung und in den Humanitäts-Entwürfen der frühen Weimarer Klassik als Teilhabe an dem Prozess der ‚Erziehung des Menschengeschlechts‘ oder in seiner Integration in ein sinnvoll geordnetes Naturganzes gesehen.6

In ihrem Spätwerk entwickelten die Weimarer Dioskuren dagegen einen integrativen Menschenwürdebegriff, der auf vier „Aporien der ‚HumanitätHumanität‘“ reagiere: die „Aporie eines ‚Despotismus der FreiheitFreiheit‘“, der den einzelnen Menschen einer übergeordneten Idee opfere; die „Aporie der ‚schönen Seele‘“, die die Frau gleichzeitig idealisiert und reduziert; die „Aporie des ausgeschlossenen Barbaren“; schließlich die „Aporie einer Ästhetik des ausgeschlossenen Verdrängten“.7 Korrigierende Tendenzen sieht Hofmann im Faust, in der Jungfrau von Orleans, im West-Östlichen Divan bzw. in der Nänie: „Was vom Humanitäts-Denken bleibt und was stärker gemacht wird als vorher, ist der Gedanke der Menschenwürde, der in einem neuen Sinne universalisiert wird, indem er auch gegenüber dem Fremden, Bedrohlichen geöffnet wird.“8 Freilich sollte man von einer Universalisierung in Ansätzen sprechen, die alles andere als radikal ist, zumindest aber ein Bewusstsein für die Inkommensurabilität von Würdeideal und politisch-sozialer Realität zeigt.

Thomas Weitin interpretiert GoethesGoethe, Johann Wolfgang Faust als Schlüsseldokument des Menschenwürdediskurses, als „Gründungstext[], der für die Selbstbehauptung der Menschenwürde am Beginn der normativen Moderne ausschlaggebend ist“.9 Fausts Ausspruch während des Osterspaziergangs: „Hier bin ich Mensch, hier darf ichʼs sein“ deutet Weitin als performativen Sprechakt, als „Selbstbeobachtung eines seiner Menschlichkeit gewahr werdenden Subjekts, das sich als solches erkennt, benennt und in der sprachlichen Bezugnahme auf sich augenblicklich aufersteht“ und somit „die Menschenwürde hervorbringt“.10 Für Weitins Lektüre sind die Begriffe „Selbstbehauptung“, „Selbstschöpfung“ und „Selbstgesetzgebung“ zentral; gleichwohl sieht er Faust mitnichten als Sympathie weckende „Ideal-Figur“.11 Ebenso wenig kann Menschenwürde in Weitins Argumentation dramatisiert, d.h. durch eine Figur verkörpert werden:

Die universelle Würde hat nichts Repräsentatives, keine ästhetische Anmut, sie tritt nicht auf und ‚ist‘ überhaupt nur für den, der sie, wie Faust im Osterspaziergang, beobachtet. Die Menschenwürde ist eine Konstruktion menschlicher Selbstbezüglichkeit, deren Universalität daher rührt, dass sie jedem auf die gleiche Weise möglich ist und möglich sein soll. Sie kommt ohne Unterschied jedem zu. […] Personale AutonomieAutonomie garantiert sie, weil ihrem Konzept nach im Hier und Jetzt jeder sagen kann: Ich bin ein Mensch. Und weil auch jeder so behandelt werden muss. Das gilt für alle – eben auch für den, der sich so würdelosWürdelosigkeit verhält wie Faust.12

Durch eine „Übertragungsleistung, die die wörtliche Würde, die auftreten muss, zur Metapher der Menschenwürde emanzipiert“, erhalte die Menschenwürde in GoethesGoethe, Johann Wolfgang epochalem Text ihre spezifisch neue Qualität;13 „im Zeichen der absoluten Metapher Menschenwürde“ muss am Ende sogar Faust, „der würdeloseste Mensch, […] dem nichts heilig ist und der seine grausamen Taten nicht einmal bereut, erlöst werden […], wenn die Würde des Menschen unantastbar sein soll“.14 Aus dieser Perspektive erhält der Menschenwürdebegriff im Faust tatsächlich eine signifikante Erweiterung: Nicht nur umfasst er das (moralisch wie ästhetisch) HässlicheHässliche, sondern er wird auf eine geradezu moderne Art und Weise universalisiert: Menschenwürde als das, „was noch das Menschsein des letzten Menschen ausmacht“.15 Radikalisiert und ästhetisch-literarisch innovativ gestaltet wird dieser Gedanke freilich erst bei BüchnerBüchner, Georg oder den Naturalisten.