Literarische Dimensionen der Menschenwürde

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II.5. Ästhetische Menschenwürde: Karl Philipp MoritzMoritz, Karl Philipp

Karl Philipp MoritzʼMoritz, Karl Philipp Beiträge zum Menschenwürdediskurs sind insofern von grundlegender Bedeutung, als der vielseitige, produktive Autor unterschiedliche, mitunter konfligierende Positionen artikuliert und so beispielhaft für die geistes- und literaturgeschichtlichen Strömungen zwischen Aufklärung und Weimarer Klassik und darüber hinaus steht.1

MoritzʼMoritz, Karl Philipp Magazin zur Erfahrungsseelenkunde (1783–1793) war die erste deutsche psychologische Zeitschrift. In einer Ankündigung seines Projekts skizziert er das Menschenbild, das das Interesse an den „Krankheiten der Seele“2 rechtfertigt – und verbindet damit auch programmatische Aussagen zur Literatur. Methodisch setzt Moritz bei seinem Unternehmen, das er als ein dezidiert moralisches mit „praktischem Nutzen“ versteht, auf „Beobachtungen und Erfahrungen“ (MW 1, 794) statt auf ein apriorisches System.3 Das IndividuumIndividuum als Objekt der Beobachtung, als Nutznießer der erfahrungsseelenkundlerischen Praxis, aber auch als Subjekt von MoralMoral, Moralität, erhält eine emphatische Aufwertung4 – zunächst unabhängig von normativen Vorstellungen des Menschlichen. Gerade vermeintlich Würdelose wie Verbrecher, Selbstmörder, sozial Benachteiligte, Charakterschwache, Lasterhafte, Verrückte, wie auch immer Beeinträchtigte – d.h. all jene Menschen, die von der ‚Norm‘ abweichen oder menschliche Grenzbereiche und Dysfunktionen verkörpern – rücken in den Fokus der Beobachtung. Auch „Karaktere und Gesinnungen aus vorzüglich guten Romanen und dramatischen Stücken, […] welche ein Beitrag zur innern Geschichte des Menschen sind“, lässt Moritz als Erkenntnisquelle gelten, freilich mit der Einschränkung, dass der „praktische Wert“ von „Beobachtungen aus der wirklichen Welt“ um ein Vielfaches höher sei (MW 1, 796). Tatsächlich formuliert Moritz ein anthropologisches Realismuspostulat;5 den Hang zur Idealisierung des Menschen gerade in der Fiktion kritisiert er als realitätsfern und -verfälschend.6 Vielmehr solle – und dies ist eine Bestimmung von zentraler Bedeutung – „auch den geringsten Individuis“ ihr Wert bewusst gemacht werden (MW 1, 804). Denn obwohl Moritz sowohl in der Natur als Ganzem als auch innerhalb der Menschheit von natürlichen Rangunterschieden ausgeht, ist der Mensch trotz aller „Verschiedenheit“ stets ein würdevolles Wesen: „Der Allerunterste auf der Staffel der Menschheit bliebe doch noch immer ein Meisterstück auf Erden, wenn er der einzige in seiner Art wäre“ (MW 1, 807).7 Diesen „Gedanke[n]“ – nämlich die „Würde“ bzw. den „Wert der Menschheit“ (MW 1, 808 bzw. 809) – bezeichnet Moritz als „versöhn[end]“; er stiftet das „Herz“ zu „Liebe“ an, statt „Haß und Verachtung“ gegenüber menschlichen Pathologien und Deformationen hervorzurufen (MW 1, 808). Zwei Aspekte sind auffällig: Die Würde der Menschheit ist in diesem Text zum einen etwas, das, wie bereits bei HerderHerder, Johann Gottfried und LenzLenz, Jakob Michael Reinhold,8 „[ge]fühl[t]“ (MW 1, 808), mithin sinnlichSinnlichkeit empfunden wird, also ein durchaus ästhetisches Konzept – und nicht (nur) Inhalt philosophischer oder theologischer Überlegungen. Zum anderen erscheint Menschenwürde an dieser Stelle als eine von ethischen Bestimmungen unabhängige Qualität.9

Das Verhältnis von Erfahrungsseelenkunde und Literatur ist für MoritzMoritz, Karl Philipp klar definiert. Literatur als solche ist nur bedingt geeignet, die Kenntnisse vom Menschen zu erweitern. Gerade deshalb muss sie sich zwingend an der neuen Disziplin orientieren: „[Der] Dichter und Romanenschreiber wird sich genötigt sehn, erst vorher Erfahrungsseelenlehre zu studieren, ehe er sich an eigene Ausarbeitungen wagt“ (MW 1, 798). Diese nicht nur wissenschaftlich-philosophische, sondern indirekt auch literarische Aufwertung des vermeintlich Würdelosen, die bereits bei LenzLenz, Jakob Michael Reinhold vorbereitet ist, weist voraus auf BüchnerBüchner, Georg, der seine Figur Lenz im Kunstgespräch postulieren lässt, dass „einem keiner zu gering“ sein dürfe, aber auch auf den Naturalismus und den Expressionismus10 – jedoch besteht ein entscheidender Unterschied: Das Bestehen auf der Menschenwürde auch des Geringsten bleibt im Endeffekt doch stets untrennbar an das Ziel der VervollkommnungPerfektibilität, Vervollkommnung der Menschheit als Gattung gekoppelt. Sein Magazin, so Moritz, sei deshalb ein „wichtiges Werk für die Menschheit“, weil durch ein solches Projekt „das menschliche Geschlecht durch sich selber mit sich selber bekannter werden, und sich zu einem höhern Grade der Vollkommenheit empor schwingen könnte“ (MW 1, 797).11 Würde ist demnach noch kein eindeutig absoluter Wert.

Gleichwohl ist MoritzMoritz, Karl Philipp ein „radikale[r] Anthropozentriker“,12 der mit dem Hinweis auf die Menschenwürde bisweilen scharfe Gesellschaftskritik übt. Explizit problematisiert und missbilligt er etwa die Vorstellung kontingenter sozialer Würde;13 sein reges Interesse gilt den sozial Benachteiligten und den Unterdrückten. Nachdrücklich postuliert Moritz die AutonomieAutonomie und die freie SelbstbestimmungSelbstbestimmung14 des IndividuumsIndividuum als unmittelbar mit der Menschenwürde verbundene Wesenszüge; als EntwürdigungEntwürdigung geißelt er deren Einschränkung oder Negation durch Gesellschaftsordnung und Staat.15

In seinem moralphilosophischen Essay Das Edelste in der Natur (1786)16 begründet MoritzMoritz, Karl Philipp – freilich ohne den Begriff zu benutzen – die Menschenwürde als (auch) ästhetische Qualität:

Was gibt es Edleres und Schöneres in der ganzen Natur, als den Geist des Menschen, auf dessen VervollkommnungPerfektibilität, Vervollkommnung alles übrige unablässig hinarbeitet, und in welchem sich die Natur gleichsam selbst zu übertreffen strebt. (MW 2, 15)

MoritzʼMoritz, Karl Philipp Bestimmung der Würde des Menschen stützt sich hier gleich auf mehrere Motive: Es ist die ratioVernunft – und nicht der KörperKörper –, die den Menschen aus dem übrigen Naturzusammenhang heraushebt, deren „VervollkommnungPerfektibilität, Vervollkommnung“ gleichzeitig auch das Telos der Natur darstellt. Den Geist belegt Moritz mit Epitheta, die ihn als ethisch („edel“) und ästhetisch („schön“) auszeichnen. Darüber hinaus ist der menschliche Geist ein zweiter Schöpfer, der nicht nur die ihm untertane Natur formt und transformiert, sondern künstlerischKunst, Künstler „im Kleinen“ nachahmt und so „ihre Schönheiten im verjüngten Maßstabe dar[stellt]“ (MW 2, 16). Der Künstler17 schafft das die Schönheit der in sich vollendeten Natur spiegelnd aktualisierende Kunstwerk und ist deshalb der Gipfel der SchöpfungSchöpfung, der Würdigste unter allen Würdigen (vgl. MW 2, 17);18 durch die „Betrachtung [der] Kunstwerke“ kann wiederum der „menschliche Geist“ „veredelt und verfeinert werden“ (MW 2, 18).19 Zudem nimmt Moritz die von KantKant, Immanuel kurz zuvor formulierte Selbstzweckformel auf: „Der einzelne Mensch muß schlechterdings niemals als ein bloß nützliches sondern zugleich als ein edles Wesen betrachtet werden, das seinen eigentümlichen Wert in sich selbst hat […]“ (MW 2, 19; Herv. i.O.). Die Selbstzweckhaftigkeit aller „denkenden Wesen“, die wiederum eine prinzipielle Gleichheit aller Menschen insinuiert, muss der Mensch „empfinden“ und „fühlen“ (!) (MW 2, 18). Grund dieser Selbstzweckhaftigkeit ist die Tatsache, dass der menschliche Geist „ein in sich selbst vollendetes Ganze [sic]“ ist (MW 2, 19) – und genau das ist Moritzʼ Definition der genuin ästhetischen, von allen Nützlichkeitsabwägungen freien Qualität eines Kunstwerks.20

MoritzMoritz, Karl Philipp parallelisiert somit die Würde des Menschen mit der Würde des Kunstwerks. Noch deutlicher als oben wird die Menschenwürde zu einem ästhetischen Begriff: Zwar wird sie argumentativ begründet und definiert als Selbstzweckhaftigkeit des rationalenRationalität und schöpferischen Menschen, der – in seiner Rationalität! – ein in sich selbst vollendetes Ganzes ist, vom Einzelnen jedoch soll sie mit den unteren Erkenntnisvermögen sinnlichSinnlichkeit empfunden werden. In seiner großen ästhetischen Programmschrift Über die bildende Nachahmung des Schönen, während Moritzʼ Italienreise entstanden und 1788 publiziert, erhält das Verhältnis von Schönheit, KunstKunst, Künstler und Menschenwürde schließlich eine folgenschwere Präzision. Der Text, eine für die Weimarer Klassik grundlegende ästhetische Positionierung, postuliert die AutonomieAutonomie der Kunst sowie die Zweckfreiheit des Schönen und explizitiert die bereits in Moritzʼ früheren Schriften umrissene Vorstellung, dass das Schöne ein nicht rational, sondern ausschließlich mit den unteren Erkenntnisvermögen erfassbares Phänomen ist.21

Zunächst taucht die Vokabel „Würde“ auf, als MoritzMoritz, Karl Philipp das Verhältnis zwischen den Begriffen „schön“ und „edel“ untersucht. Zwar beziehe sich dieser auf die „innre Seelenschönheit“, jener auf die „Schönheit auf der Oberfläche“, und deshalb bedürfe der Mensch, „um edel zu sein, der körperlichenKörper Schönheit nicht“. Trotzdem sei – eine Art physiognomische Gleichung – die äußere ein Spiegel innerer Schönheit, die Moritz auch als „innere Seelenwürde“ bezeichnet. Diese Korrelation dient sogar als Erklärung des „edlen Stils in Kunstwerken“; diesen bestimmt Moritz als Schönheit, die zugleich die „innre Seelenwürde des hervorbringenden Genies“ sichtbar macht (MW 2, 961). Diese eigentlich recht konventionelle Argumentation in der Tradition Winckelmanns und der Antikerezeption des 18. Jahrhunderts22 weist dem Begriff der Würde im Kontext der Ästhetik einen bestimmten Rang zu: Die Seelenwürde als Synonym des Edlen bezeichnet eine Art erhabene Würde, eine ethische Grundhaltung, die innere Größe – oder, um einen strapazierten Begriff zu benutzen: die HumanitätHumanität – eines Menschen. Durch diesen „Mittelbegriff des Edeln“, so Moritz, „wird der Begriff des Schönen […] zum Moralischen hinübergezogen und gleichsam daran festgekettet“ (MW 2, 962). Dieser enge Würdebegriff hat Auswirkungen darauf, was als schön gelten darf. Gleichzeitig ist er mit einem ganz konkreten Ideal verbunden: Die „höchste[] Mischung“ von äußerer und innerer Schönheit, „da wo das äußere Schöne ganz in Ausdruck innrer Würde und Hoheit übergeht“ (MW 2, 968), kennzeichnet Moritz als das „Majestätische“. Dieses ist der Gipfel der Schönheit und, realiter, der SchöpfungSchöpfung, mithin auch der Menschheit. Von dem tendenziell integrativen Würdebegriff des Erfahrungsseelenkundlers unterscheidet sich diese Würde merklich.

 

Doch von viel größerer Tragweite als die Bedeutungsverengung an dieser Stelle ist die Verbindung von Ästhetik und Geschichtsphilosophie, die den Schluss des Textes prägt und die Vorstellung der Menschenwürde und der unbedingten Hochschätzung des IndividuumsIndividuum und seiner Selbstzweckhaftigkeit vollkommen zu kompromittieren scheint. Ausgangspunkt ist die Idee eines universellen Naturzusammenhangs, in dem alle Dinge und Wesen verkettet sind und den ein ständiger Vollendungsprozess in Bewegung hält. Dieser Vollendungs- oder Vervollkommnungsprozess basiert auf den Prinzipien Zerstörung und Bildung: „Daher ergreift jede höhere Organisation, ihrer Natur nach, die ihr untergeordnete, und trägt sie in ihr Wesen über“ (MW 2, 979).23 Von diesem Naturgesetz ist der Mensch nicht ausgenommen. Entsprechend rücken das Leiden und die Zerstörung des Individuums in den Fokus – und ihre mögliche ästhetische Rechtfertigung.24 „[D]as Individuum muß dulden, wenn die Gattung sich erheben soll“; letzteres ist notwendig, weil sie ihren „Endzweck […] nicht mehr außer sich, sondern in sich hat“ und deshalb „bis zur Empfindung und Hervorbringung des Schönen, sich in sich selber vollenden muß“ (MW 2, 985; Herv. i.O.). Die Selbstzweckhaftigkeit des Individuums überlagert der Endzweck der Gattung; diesen Endzweck beschreibt MoritzMoritz, Karl Philipp zum einen anhand seines eigenen Schönheitsbegriffs, nämlich des in sich selbst Vollendeten, zum anderen definiert er die Vollendung in Bezug auf die künstlerischKunst, Künstler-ästhetische Affinität und Produktivität der Menschheit. Für die Vollendung der Gattung ist „das duldende Individuum“ notwendig;25 in der (künstlerischen) „Darstellung“ aber, so Moritz, wenn das Leiden des Einzelnen in die „Erscheinung“ überführt wird und sich „dem höchsten Vollendungspunkt des Schönen“ annähert, „löst“ es sich „auf“ (MW 2, 985). Durch die Darstellung werde auch die individuelle Dimension überhöht: Sie zeitigt das „erhabnere MitleidenMitleid“, das wiederum die Vollendung der Gattung fördert (MW 2, 985). Das Mitleid stellt nämlich eine Verbindung zwischen dem Leiden und einem Rezipienten her – und garantiert so die Überhöhung.26 Die sowohl als ästhetisch vermittelt gedachte als auch ästhetisch konzeptualisierte VervollkommnungPerfektibilität, Vervollkommnung der Gattung hat demnach absoluten Vorrang vor der Wirklichkeit des Individuums und seines Leidens27 – doch was bedeutet dies für die Vorstellung einer besonderen, individuellen Menschenwürde?

Die „Zerstörung des Einzelnen“ – als „Zerstörung des Schwächern durch das Stärkre, und des Unvollkommnern, durch das Vollkommnere“ – ist geradezu die Voraussetzung für die GattungsvervollkommnungPerfektibilität, Vervollkommnung, für das Schöne – und für die KunstKunst, Künstler.28 Für die „Nachwelt“ hebt diese den „Jammer der Vorwelt […] wie ein köstliches Kleinod“ auf, integriert es und sichert dadurch den „Wert“ der Menschheit; ebenso löst sich der tragische Stoff der Dichtkunst „in der Veredlung unsres Wesens durch das MitleidMitleid“ auf (MW 2, 987). Anders formuliert: Die reale EntwürdigungEntwürdigung des IndividuumsIndividuum wird nicht nur akzeptiert, sondern gerechtfertigt, insofern ihre künstlerische Sublimierung im Dienst der Gattung steht;29 deren schöne Vollendung ist der höchste Wert – und keineswegs das Individuum selbst. Diese hochproblematische Sicht auf den Menschen versucht MoritzMoritz, Karl Philipp nun am Ende des Textes mit einer kühnen Wendung ins Ontologische30 zu legitimieren. Das „Schöne, in welches die Zerstörung selbst sich wieder auflöst“, verweist, im Einklang mit Moritzʼ früheren Schriften, auf die dem Menschen weder rationalRationalität noch sinnlichSinnlichkeit zugängliche Vollkommenheit der Natur, des ‚großen Ganzen‘,31 und jene utopische „HarmonieHarmonie, in welche Bildung und Zerstörung einst Hand in Hand, hinüber gehn“ (MW 2, 990; m. H.). Die „immerwährende Zerstörung“ des schwachen, unvollkommenen Individuums scheint somit „dem ewigen“ – d.h. dem Menschen unerreichbaren – „Schönen nachzuahmen“, das „über Zerstörung und Bildung selbst erhaben“ ist (MW 2, 990; Herv. i.O.). Dies ist die Prämisse für Moritzʼ exaltierte Schlussbetrachtung:32

Tod und Zerstörung selbst verlieren sich in den Begriff der ewig bildenden Nachahmung des über die Bildung selbst erhabnen Schönen, dem nicht anders als, durch immerwährend sich verjüngendes Dasein, nachgeahmt werden kann.

Durch dies sich stets verjüngende Dasein, sind wir selber.

Daß wir selber sind, ist unser höchster und edelster Gedanke. –

Und von sterblichen Lippen, läßt sich kein erhabneres Wort vom Schönen sagen, als: es ist! (MW 2, 991; Herv. i.O.)

Die Überführung von Zerstörung und Leiden des IndividuumsIndividuum in KunstKunst, Künstler, deren ästhetische Transformation, ist, insofern sie die Vollendung des Daseins an sich spiegelt, gleichzeitig überhaupt erst Garant für den Gedanken, dass eine solche VervollkommnungPerfektibilität, Vervollkommnung möglich ist. Mehr noch: Das menschliche Dasein – jenes der Gattung, nicht des einzelnen Menschen, denn MoritzMoritz, Karl Philipp benutzt hier auffälligerweise das Pluralpronomen „wir“ – ist inklusive Zerstörung und Leiden überhaupt erst dadurch gerechtfertigt, dass das autonome (!) Schöne „ist“.33 Durch dieses ontologische Postulat erlangt auch die Menschenwürde ihre Legitimation. Ein Begriff wie Menschenwürde ist erst durch das Schöne, ja im Schönen, in der Kunst denkbar34 – und zwar als genuin ästhetischer, gattungsbezogener, und nicht als realer, individueller Begriff. War Moritzʼ zuvor beschriebener Menschenwürdebegriff insofern ästhetisch, als er Menschenwürde und Schönheit parallelisierte und jene wie diese als zu empfindende, zu fühlende Qualität definierte, kommt es hier zu einer epochalen Verschiebung: Menschenwürde ist ästhetisch, weil die Ästhetik und das Schöne die Bedingungen ihrer Möglichkeit sind.

Statt um die Würde des Menschen geht es MoritzMoritz, Karl Philipp nun um die Würde der Menschheit.35 Man könnte dies eine ästhetisch motivierte, idealisierende Radikalisierung nennen: Moritzʼ früherer Begriff der Selbstzweckhaftigkeit des IndividuumsIndividuum, der trotzdem stets auf die Vollendung der Menschheit an sich bezogen war, wird zu einem durch die KunstKunst, Künstler vermittelten und zu vermittelnden Ideal der Würde der menschlichen Gattung, das vom Individuum abstrahiert und dessen Zerstörung als notwendiges, zu billigendes Übel ansieht.36 Auch wenn die Kunst somit auf jeglichen direkten Nutzen, d.h. wirkästhetische Überlegungen zu Bewegung, Belehrung und Besserung des Rezipienten u.Ä. verzichtet,37 ist ihr Stellenwert als grundlegender anthropologischer Faktor enorm. Moritz vollzieht in der Bildenden Nachahmung, auch in Bezug auf den Menschenwürdebegriff, den Übergang von der aufklärerischen zur klassischen Ästhetik.

Dass MoritzMoritz, Karl Philipp damit einer inhumanen Ästhetik Bahn bricht, die den Wert des IndividuumsIndividuum vollends aufgibt, indem sie gleichsam eine Flucht vor der Realität des Leidens und der MenschenwürdeverletzungMenschenwürdeverletzung in die KunstKunst, Künstler postuliert, die noch dazu jeden unmittelbaren Einfluss auf die soziale Realität und jede außerästhetische Wirkung verweigert,38 wirkt besonders im Hinblick auf seine früheren moralphilosophischen und pädagogischen Schriften überraschend und unbefriedigend. Die Forschung hat diese Deutung bisweilen relativiert: Die „Verklärung des Leidens im Schein“ sei „zugleich Protest“, da das ‚scheinhaft Schöne‘ auf die Missstände in der Wirklichkeit verweise;39 den „inhumanen Grundgedanken seiner Ästhetik“ entschärfe Moritz „wenigstens teilweise“ dadurch, dass sein Vollendungsgedanke nicht den historischen Fortschritt der Menschheit meine, sondern den Fortschritt der unzerstörbaren Geisterwelt;40 das „rigoristische Autonomie-Postulat“ erscheine „als eine emanzipatorische regulative Utopie“, die Moritz – keineswegs eskapistisch, sondern mit dem Impetus des Veränderungswillens – „der schlechten zeitgeschichtlichen Wirklichkeit entgegensetzt“.41 Aus einer solchen Sicht sind es letztlich das Schöne und das Ideal der Würde der Menschheit, die, gleichsam über den Umweg der Zerstörung des Einzelnen, die Möglichkeit individueller Würde garantieren können. Wenn jedoch Menschenwürde entweder ausschließlich als ästhetische Qualität vorstellbar ist und nur im ästhetischen Bereich uneingeschränkte Gültigkeit besitzt oder einer derart schmerzhaften ästhetischen Vermittlung bedarf, dann bleibt sie eine hochgradig prekäre Konstruktion.42

II.6. Dimensionen der Menschenwürde bei SchillerSchiller, Friedrich

SchillersSchiller, Friedrich philosophische, kunsttheoretische und literarische Werke umkreisen immer wieder die (Menschen-)Würde, sowohl das konkrete Wort als auch den Begriff.1 Definitorisch einheitlich sind seine Ausführungen freilich nicht; vielmehr erhält der Kern der Vorstellung unterschiedliche Nuancierungen. Stellung und Bedeutung der Menschenwürde bei Schiller erschließen sich erst nach dem Blick auf einige Prämissen.

1. Die Auseinandersetzung mit der Philosophie KantsKant, Immanuel2 hat SchillerSchiller, Friedrich zweifellos die Grundzüge von dessen Würdebegriff vermittelt, der auf den Feststellungen beruht, dass der Mensch als Vernunftwesen in der Lage ist, sich selbst jene Gesetze aufzuerlegen, nach denen er autonomAutonomie sittlich handelt, er deshalb einen absoluten inneren Wert hat und von sich selbst und anderen als Selbstzweck zu achten ist.3 Schon vor der Kant-Lektüre artikuliert Schiller ein streng dualistisches Menschenbild, das den Menschen als Misch- und mittleres Wesen konzeptualisiert.4 Die ‚Natur‘ des Menschen ist tierisch und geistig – diese grundlegende Vorstellung prägt Schillers dritte medizinische Dissertation genauso wie die frühe Schaubühnen-Rede und die späteren ästhetischen Schriften.5 Die Bestimmung des Verhältnisses dieser beiden getrennten und doch untrennbar miteinander verbundenen menschlichen Sphären durchzieht Schillers Anthropologie, Philosophie und Ästhetik. In Anlehnung an den dichtenden Mediziner Albrecht von HallerHaller, Albrecht von situiert Schiller den Menschen zudem hierarchisch als „das unseelige Mittelding von Vieh und Engel“ (NA 20, 47).6 In dieser Zwischenstellung muss der Mensch seine Menschlichkeit und seine Würde selbstbewusstSelbstbewusstsein verwirklichen: „Zwingt doch der thierische Gefährte / Den gottgebornen Geist in Sklavenmauren ein – / Er wehrt mir, daß ich Engel werde; / Ich will ihm folgen Mensch zu seyn“ (An einen Moralisten; NA 1, 87).

2. SchillerSchiller, Friedrich analysiert die zeitgenössische Realität kultur- und zivilisationskritisch mit einem Gestus der Diagnose, die er auf den Begriff der Würde fokussiert.7 In Die KünstlerKunst, Künstler (1789; s.o.) erscheint die Würde der Menschheit als prekär, da die HarmonieHarmonie zwischen Wahrheit und Schönheit (und somit das menschheitsgeschichtliche Ziel) kompromittiert wurde. Zwei Jahre zuvor, in Don Karlos, hatte Schiller den Marquis von Posa seine Diagnose menschlicher Erniedrigung und „Verstümmelung“ als politisches Problem formulieren lassen.8 Mit Blick auf den ernüchternden Verlauf der Französischen Revolution9 wird die Frage nach FreiheitFreiheit und menschlichem Fortschritt virulent. In einem Brief an den Prinzen von Augustenburg (Juli 1793) klagt Schiller:

Der Versuch des Französischen Volks, sich in seine heiligen MenschenrechteMenschenrechte einzusetzen, und eine politische FreiheitFreiheit zu erringen, hat bloß das Unvermögen und die Unwürdigkeit desselben an den Tag gebracht, und nicht nur dieses unglückliche Volk, sondern mit ihm auch einen beträchtlichen Theil Europens, und ein ganzes Jahrhundert, in Barbarey und Knechtschaft zurückgeschleudert. (NA 26, 262)

Dass die hehren Ziele der Revolution letztlich in blutige GewaltGewalt umschlagen, ist Symptom der menschlichen „Unwürdigkeit“;10 der Mensch ist noch nicht in der Lage, seine sinnlichSinnlichkeit-tierische Natur auf der einen und seine geistig-vernünftigeVernunft auf der anderen Seite in ein Verhältnis zu setzen, das wahre sittliche wie politische FreiheitFreiheit ermöglicht. Die Lösung liegt in SchillersSchiller, Friedrich Augen in der Förderung der „ästhetische[n] Kultur“ (NA 26, 266). In den Briefen Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen (1795), die die Gedanken der Augustenburger Briefe systematisieren, formuliert Schiller wieder eine Diagnose der menschlichen WürdelosigkeitWürdelosigkeit, diesmal nicht so sehr mit Blick auf die konkreten politisch-historischen Ereignisse, sondern aus allgemeinerer Perspektive. Im fünften und sechsten Brief zeichnet Schiller sein Zeitalter als würdelos, seiner Bestimmung entfremdet und degeneriert.11 Die „gegenwärtigen Ereignisse“ in Frankreich entlarven „Verwilderung“ und „Erschlaffung“ der Menschen, „die zwey Aeussersten des menschlichen Verfalls“ (5. Brief; NA 20, 319).12 Grund sei der Verlust an „Totalität“ (NA 20, 322), sowohl innerhalb der Gattung als auch innerhalb des IndividuumsIndividuum. Die Folge menschlichen Fortschritts und wissenschaftlicher Spezialisierung ist eine GesellschaftGesellschaft, in der der einzelne Mensch nur ein „Bruchstück“ des Ganzen ist (6. Brief; NA 20, 323) und auch seine eigene Natur nur noch fragmentarisch ausbildet.13 Solange diese „Trennung in dem innern Menschen“ nicht „aufgehoben“ ist, muss jede politische Revolution scheitern (7. Brief; NA 20, 329). Anthropologische Voraussetzung jeder Verbesserung ist daher die Überwindung dieser „tiefen EntwürdigungEntwürdigung“,14 die den „Charakter der Zeit“ ausmacht (NA 20, 329). Um die „Totalität in unserer Natur, welche die KunstKunst, Künstler“ – gemeint sind weniger die schönen Künste als vielmehr Wissenschaft, Technik, Handwerk usw. – „zerstört hat“, wiederherzustellen, bedarf es einer „höheren Kunst“ (6. Brief; NA 20, 328). Die „schöne Kunst“ ist das „Werkzeug“ (9. Brief; NA 20, 332), das heilend und erziehend wirken soll; dem Künstler, wie im erwähnten Gedicht emphatisch apostrophiert, kommt die Aufgabe zu, der Menschheit, die „ihre Würde verloren [hat]“ (NA 20, 334), die „Richtung zum Guten“ vorzugeben (NA 20, 335).15

 

3. Der Topos der diagnostizierten menschlichen WürdelosigkeitWürdelosigkeit, der bereits bei HerderHerder, Johann Gottfried und LenzLenz, Jakob Michael Reinhold zu beobachten war und der sich später unter anderen Voraussetzungen im Naturalismus, im Expressionismus, bei FalladaFallada, Hans und bei JelinekJelinek, Elfriede findet,16 ist für SchillerSchiller, Friedrich der programmatische Ausgangspunkt seiner anthropologisch-ästhetischen Antwort. Schillers theoretische Schriften entfalten, wie es Carsten Zelle genannt hat, eine „doppelte Ästhetik“ des Schönen und des Erhabenen.17 Zelle argumentiert, dass eine einseitige Bestimmung seiner Ästhetik als utopische Versöhnung des entzweiten Menschen durch das Schöne und im Spiel unterschlägt, dass die Kategorie der Erhabenheit jede Möglichkeit von HarmonieHarmonie und Versöhnung negiert und die bedingungslose Unterordnung der sinnlichenSinnlichkeit unter die vernünftigeVernunft Natur fordert.18 Nur die Berücksichtigung dieser „gegenläufige[n] Bewegung“19 beschreibt Schillers Ästhetik adäquat und erklärt die parallelen dichotomischen Begriffsreihen, die die einzelnen Texte wie das theoretische Werk als Ganzes prägen. Auf der einen Seite zielt Schiller auf die Schönheit ab, die mit der Vorstellung des ganzen, in sich ausgeglichenen Menschen sowie den Begriffen Anmut, schmelzende Schönheit und Naivität verbunden ist, auf der anderen setzt er auf die Kategorie der Erhabenheit, die den „zerrissenen Menschen“ sowie die Begriffe Würde, energische Schönheit und Sentimentalität in den Blick nimmt.20 Diese doppelte Ästhetik hat nun einen doppelten Freiheitsbegriff – FreiheitFreiheit als harmonisches Dasein im schönen Spiel und Freiheit als „Entschluß, gegen die Sinne zu handeln“21 – und eine doppelte Anthropologie, nämlich eine utopische und eine tragische, zur Folge.22 Dies ist deshalb so entscheidend, weil Schillers Würdebegriff keineswegs nur das beinhaltet, was er auch tatsächlich „Würde“ im Sinne der beschriebenen Dichotomie nennt; vielmehr beschreiben die beiden Argumentationsstränge unterschiedliche Dimensionen der Menschenwürde bei Schiller.

*

Diese Dimensionen der Menschenwürde hat Udo Ebert prägnant herausgearbeitet. Ebert unterscheidet nicht weniger als zehn Nuancierungen des Würdebegriffs in SchillersSchiller, Friedrich Werk: „Anthropologische Würde“, „Würde des Ausdrucks“, „[m]oralische Würde“, „[e]rhabene Würde“, „[g]esellschaftliche Würde“, „Subjektwürde“, „[p]olitische Würde“, „Würden“, „[ä]sthetische Würde“, schließlich „[l]eibliche Bedingungen der Würde“.23

Was den Menschen vom TierTier, Vertierlichung, Theriomorphisierung abgrenzt, so SchillerSchiller, Friedrich in Ueber Anmuth und Würde, ist der WilleWille, freier Wille, der verhindert, dass sein Handeln und Verhalten dem „Gesetz der Natur“ (NA 20, 290) unterliegen. Der „Geschlechtscharakter des Menschen“ (Ueber das Erhabene; NA 21, 38) – seine anthropologische Würde – ist demnach seine Fähigkeit, den natürlichen Trieben mithilfe seines Willens zu begegnen.24 Der autonomeAutonomie Wille des Menschen macht ihn zur Person; als solche ist der Mensch „selbst Ursache, und zwar absolut letzte Ursache seiner Zustände“ (Ueber Anmuth und Würde; NA 20, 262) – der Nachhall der Würdedefinition KantsKant, Immanuel ist unüberhörbar. Zudem säkularisiert Schiller einen Renaissance-Topos: Der Mensch könne nur als „Schöpfer“ – aufklärerisch aufgefasst als „Selbsturheber seines Zustandes“ – und nicht als „Geschöpf[]“ „ehrwürdig“ sein (NA 20, 277). Diese anthropologische Würde wird sichtbar in der Würde des Ausdrucks, jener „Würde“, die Schiller der „Anmuth“ entgegenstellt. Diese ist „die Schönheit der Gestalt unter dem Einfluß der Freyheit“ (NA 20, 264), wie sie sich etwa in „willkürlichen“ Bewegungen äußert: „Grazie ist […] die Schönheit der durch FreiheitFreiheit bewegten Gestalt“ (NA 20, 265).25 Würde hingegen ist der „Ausdruck einer erhabenen Gesinnung“ (NA 20, 289), das äußere Signum der Fähigkeit des menschlichen Willens, die „Triebe durch die moralische Kraft“ zu beherrschen (NA 20, 294).26 In der Würde triumphiert der Mensch über die sinnlichenSinnlichkeit Affekte: „Anmuth liegt also in der Freyheit der willkührlichen Bewegungen; Würde in der Beherrschung der unwillkührlichen“ (NA 20, 297). Die Würde des Ausdrucks definiert Schiller zudem als „Ruhe im Leiden“ (NA 20, 296), die die Überlegenheit der vernünftigVernunft-sittlichen Natur des Menschen widerspiegelt.27

Anthropologische Würde und Würde des Ausdrucks sind moralisch wertfrei. Bewirkt nun aber der freie WilleWille, freier Wille ein sittliches Verhalten, so garantiert er die moralische Würde des Menschen, eine Art „Steigerung“28 der anthropologischen Würde: „Schon der bloße Wille erhebt den Menschen über die Thierheit; der moralische erhebt ihn zur Gottheit“ (NA 20, 290). Eine „Anlage zum Sittlichen“ (Ueber naive und sentimentale Dichtung; NA 20, 415) besitzt jeder Mensch – nur muss dieses Potential auch aktiviert werden. Indem SchillerSchiller, Friedrich diese Würde an sittliches Handeln knüpft, nähert er sich KantsKant, Immanuel Würdebegriff an.29