Literarische Dimensionen der Menschenwürde

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II.3. LessingsLessing, Gotthold Ephraim Poetik der IdentifikationIdentifikation und des MitleidsMitleid

LessingsLessing, Gotthold Ephraim literarisches und publizistisches Schaffen kann zweifellos als Kampf für die Menschenwürde gelesen werden – als Kampf für die politische wie gesellschaftliche Emanzipation des Einzelnen, gegen den vernunftwidrigen und menschenfeindlichen religiösen Dogmatismus, für Toleranz und Menschlichkeit, für eine Erziehung des Menschen zu Selbstbestimmtheit und FreiheitFreiheit.1 Eine tatsächlich poetologische und ästhetische Bedeutung erhält die Menschenwürde jedoch in Lessings Ablehnung der Ständeklausel und in der Begründung der Mitleidspoetik.2

Die konzeptionelle Widersprüchlichkeit der Ständeklausel3 beruht auf der problematischen Tatsache, dass kontingente Würde die Voraussetzung für Tragödienfähigkeit darstellt, die Tragödie gleichzeitig aber beansprucht, für den Menschen an sich relevante moralische Lehren zu vermitteln. LessingLessing, Gotthold Ephraim und andere Theoretiker des sich als eigene Gattung etablierenden bürgerlichen Trauerspiels erkennen diese Diskrepanz – und fokussieren sie auf den Begriff der Würde. Grundlegend ist Lessings wirkästhetische Bestimmung der Tragödie: „Die Tragödie soll Leidenschaften erregen.“4 Um beim Zuschauer „Rührung“ zu provozieren, führt Lessing im 14. Stück der Hamburgischen Dramaturgie aus, sind die „Namen von Fürsten und HeldenHeld“ jedoch nicht nötig, ja sie erschweren sogar die unerlässliche IdentifikationIdentifikation mit den Bühnenfiguren: „Das Unglück derjenigen, deren Umstände den unsrigen am nächsten kommen, muß natürlicher Weise am tiefsten in unsere Seele dringen; und wenn wir mit Königen MitleidenMitleid haben, so haben wir es mit ihnen als mit Menschen, und nicht als mit Königen.“5 Dramenpoetisch relevant sind Figuren, insbesondere Helden, nicht aufgrund ihres Standes, sondern allein als Menschen. In Anlehnung an den französischen Schriftsteller Marmontel stellt Lessing fest, dass der „geheiligte[] Name[] […] des Menschen überhaupt […] pathetischer, als alles“ sei; einer in Not geratenen Familie etwa fehle nichts, „um der Tragödie würdig zu seyn“.6 Poetische oder tragische Dignität sind demnach nicht von kontingenten sozialen Formen von Würde abhängig; tragische Würde spricht Lessing vielmehr dem Menschen an sich zu.7 Den Stoff für die Tragödie liefern das Allgemeinmenschliche sowie grundlegende, ständeübergreifende menschliche Probleme und Situationen.8 Christian GarveGarve, Christian lehnt in seinen Ausführungen zum bürgerlichen Trauerspiel die Fixierung auf die vermeintlich „größre Würde der Könige“ als Voraussetzung für Tragödienfähigkeit mit einem vielsagenden Argument ab: „In der Tat, bei dem aufgeklärten edlern Teile der Zuschauer existiert diese Idee von Würde gar nicht […].“9 Garve zufolge ist in den Augen des aufgeklärten, selbstbewusstenSelbstbewusstsein – bürgerlichen – Publikums die Vorstellung einer besonderen, auf gesellschaftlicher Stellung, Herkunft oder Macht beruhenden Würde, die sich eben nicht nur in der realen politisch-sozialen Realität, sondern auch in der dramatischen Praxis manifestiert, obsolet geworden. Dies impliziert aber auch: Es existiert eine andere Idee von Würde, ein essentiell anderer Würdebegriff, eine Würde nämlich, die ‚dem Menschen‘ (im Singular!) eignet – und diese Idee der allgemeinen Menschenwürde äußert sich poetologisch im Postulat der Tragödienwürdigkeit ‚des Menschen‘.10 Diese Redefinition der Tragödienwürdigkeit, die das Moment der Identifikation des Zuschauers mit der Bühnenfigur betont, hängt nun unmittelbar mit jenem Begriff zusammen, den Lessing ins Zentrum seiner Wirkästhetik stellt: dem Mitleid.

LessingLessing, Gotthold Ephraim präzisiert seine Tragödiendefinition; diese soll nicht nur Leidenschaften erregen, sondern „sie soll unsre Fähigkeit, MitleidMitleid zu fühlen, erweitern“.11 Beim Zuschauer Mitleid hervorzurufen, ist allerdings nur möglich, wenn sich dieser mit dem Bühnengeschehen und den Bühnenfiguren identifizierenIdentifikation kann. Dies ist deshalb von entscheidender Bedeutung, weil Lessing das Mitleid und die Mitleidfähigkeit als zentrale Momente einer Idealvorstellung des Menschen definiert:

Der mitleidigste Mensch ist der beste Mensch, zu allen gesellschaftlichen TugendenTugend, zu allen Arten der Großmut der aufgelegteste. Wer uns also mitleidigMitleid macht, macht uns besser und tugendhafter, und das Trauerspiel, das jenes tut, tut auch dieses, oder – es tut jenes, um dieses tun zu können.12

Dieses vielzitierte Theorem enthält ein eindeutiges relatives Werturteil: Sowohl das MitleidMitleid als auch das Menschsein sind abstufbar; impliziert wird ein Entwicklungs-, ein VervollkommnungszielPerfektibilität, Vervollkommnung,13 das über das ästhetische Spiel erreicht werden soll. Vervollkommnungspotential eignet dem Mitleid, wenn der Zuschauer sich auf der Bühne wiedererkennt, eine Beziehung zur eigenen Existenz herstellt und deshalb Furcht empfindet: „Furcht ist das auf uns selbst bezogene Mitleid.“14 Mitleidswürdig ist eine Bühnenfigur also nur, wenn der Zuschauer sie als (Mit-)Menschen er- und anerkennt.15

Dies ist insofern ein genuin ästhetischer Beitrag zum Menschenwürdediskurs, als die vorausgesetzte mitleidendeMitleid IdentifikationIdentifikation mit der Bühnenfigur der dramatischen KunstKunst, Künstler zwei Möglichkeiten eröffnet: Im Prozess der Identifikation, die sich bei der Rezeption einstellt, steht zum einen die Menschenwürde – sowohl als abstrakte Vorstellung als auch als Eigenschaft des einzelnen Menschen – zur Diskussion.16 LessingsLessing, Gotthold Ephraim Mitleid ist reflexiv. Der Zuschauer soll nicht nur die dramatisierten Affekte nachvollziehen, sondern selbst empfinden und sich so seines Menschseins bewusst werden;17 das Mitleid ist die „sich fühlende[] Menschlichkeit“.18 Dies führt zu einer Integration vermeintlicher und tatsächlicher menschlicher Charakterschwächen, Fehler und Deformationen, die auf der Bühne thematisiert werden, in den Würdebegriff.19 Da vorausgesetzt werden kann, dass der Zuschauer seine eigene Menschenwürde ganz selbstverständlich behaupten und im Zweifelsfall auch verteidigen würde, erlaubt Lessings Bestimmung der Tragödie somit eine Verhandlung des Menschenwürdebegriffs im Bereich der Ästhetik, gleichsam in der ästhetischen Erfahrung, mit dem tendenziellen Ziel, dem Menschen als Menschen Würde zuzuschreiben und streng normative Würdevorstellungen zu transzendieren.20 Zum anderen, und durchaus in einem gewissen Widerspruch hierzu, dient das Erhöhen der Mitleidfähigkeit der VervollkommnungPerfektibilität, Vervollkommnung des Menschen (des Zuschauers!) – und ist somit doch wiederum an einem Ideal orientiert. Lessings Mitleid ist eine spontane sinnlicheSinnlichkeit, prärationale21 und genau deshalb zutiefst menschliche Empfindung, die durch die Tragödie zwingend geweckt und gefördert werden soll – und die einen a priori moralischen Charakter besitzt.22 Die aristotelische kátharsis, die Lessing als Fähigkeit der Affekte deutet, sich selbst zu reinigen und dadurch zu mäßigen, bewirkt die „Verwandlung der Leidenschaften in tugendhafteTugend Fertigkeiten“.23 Entscheidend ist, dass diese Tugendhaftigkeit ihren Ursprung in der menschlichen Sinnlichkeit hat, und genau deshalb kommt dem ästhetischen Medium, das diese Sinnlichkeit anregt, mehr als eine Vermittlerfunktion zu. Die Ästhetik, die Kunst, die Literatur – sie haben überragende anthropologische Bedeutung. Das Tugendideal, das Lessings Dramentheorie zugrunde liegt, ist somit auch kein kaltes, vernünftelnd-abstraktes, sondern das einer empfindsamen, praktisch orientierten Menschlichkeit.24

Diese Aufwertung der SinnlichkeitSinnlichkeit ist zwar bemerkenswert, doch keineswegs radikal. Zwar ist sie – im Sinne empfindsamer Menschlichkeit und Empathiefähigkeit – wesentlicher Bestandteil der Vorstellung menschlicher Würde; die menschliche SexualitätSexualität, Sex etwa und die sensualistische Triebhaftigkeit bleiben von dieser Vorstellung aber vollkommen ausgeschlossen.25

LessingsLessing, Gotthold Ephraim Poetik spiegelt die Ambivalenz des aufklärerischen Menschenwürdebegriffs: Die Ablehnung der Ständeklausel, die Betonung von IdentifikationIdentifikation und MitleidswürdigkeitMitleid deuten die Idee inhärenter Würde an; das Beharren auf der zu befördernden Mitleidfähigkeit und der daraus abgeleiteten TugendhaftigkeitTugend verweisen auf ein Würdeideal, das weiterhin als Gestaltungsauftrag verstanden wird.

II.4. Menschenwürde, SinnlichkeitSinnlichkeit und Tat bei J.M.R. LenzLenz, Jakob Michael Reinhold

Jakob Michael Reinhold LenzʼLenz, Jakob Michael Reinhold ästhetische Schriften illustrieren eine bemerkenswerte Akzentverschiebung innerhalb der aufklärerischen Auseinandersetzung mit Wesen und Würde des Menschen. In der Eingangspassage seines Textes Über Götz von Berlichingen1 formuliert Lenz eine Diagnose des zeitgenössischen Menschenlebens. „Wir werden geboren –“, und in der Folge verläuft die menschliche Existenz in festgelegten, vorhersehbaren sozialen, beruflichen und familiären Bahnen, die kaum Raum für die Entfaltung von IndividualitätIndividualität lassen: „und was bleibt nun der Mensch noch anders als eine vorzüglichkünstliche kleine MaschineMaschine, die in die große Maschine, die wir Welt, Weltbegebenheiten, Weltläufte nennen besser oder schlimmer hineinpaßt“ (LW 2, 637). Lenz beklagt die totale Entfremdung des Menschen von seiner Bestimmung, mithin seiner – aus der Sicht des Theologen letztlich von GottGott gegebenen – Würde: „Aber heißt das gelebt? heißt das seine Existenz gefühlt, seine selbstständige Existenz, den Funken von Gott?“ (LW 2, 637–638). Das Verfehlen des ‚wahren Lebens‘ stürzt den Menschen gar in eine „ewige Sklaverei“, eine „nur künstlichere, eine vernünftigeVernunft aber eben um dessentwillen desto elendere Tierschaft“ (LW 2, 638). Die sprachliche Präsentation dieser Diagnose verweist eindringlich auf für die gesamte Bewegung des Sturm und Drang leitmotivische Gedanken. Die erste Person Plural suggeriert die Unmöglichkeit von Individualität und Selbstgestaltung, das Passiv die Einbuße von Handlungsmacht,2 die den Menschen nicht zum Subjekt seiner eigenen Handlungen, sondern zum ObjektObjekt, Objektifizierung, Ding, Verdinglichung, Dinghaftigkeit von fremdgesteuerten Vorgängen macht. Die dreifach variierte Metaphorik – der Mensch als Maschine,3 als Sklave und als TierTier, Vertierlichung, Theriomorphisierung – weist in dieselbe Richtung: Sie beschreibt eine Degradierung des Menschen, ein Nicht-Erfüllen von Anlagen und Möglichkeiten. Die hieran geknüpfte Kritik ist ebenfalls eine dreifache: Zunächst zielt sie ganz allgemein auf die gesellschaftlichen Verhältnisse, die dem IndividuumIndividuum eine unabhängige Selbstverwirklichung verwehren. Konkret ist es dann die zunehmende Rationalisierung, die mechanische Organisation der Existenz, die paradoxerweise den menschlichen Handlungs- und Entscheidungsspielraum massiv beschneidet. Auf einer anthropologischen Ebene greift Lenz schließlich das mechanistische Menschenbild des französischen Materialismus an, das den Menschen zu einer dem Tier ähnlichen, determiniertenDetermination Maschine reduziert. Energisch stellt Lenz seiner Diagnose die Utopie des handelnden Menschen entgegen:

 

Was lernen wir hieraus? Das lernen wir hieraus, daß handeln, handeln die Seele der Welt sei, nicht genießen, nicht empfindeln, nicht spitzfündeln, daß wir dadurch allein GottGott ähnlich werden, der unaufhörlich handelt und unaufhörlich an seinen Werken sich ergötzt: das lernen wir daraus, daß die in uns handelnde Kraft, unser Geist, unser höchstes Anteil sei, daß die allein unserm KörperKörper mit allen seinen SinnlichkeitenSinnlichkeit und Empfindungen das wahre Leben, die wahre Konsistenz den wahren Wert gebe […]. (LW 2, 628)

Formal geschickt ist die rhetorische Gestaltung: Die subiectio sowie die zahlreichen Wiederholungsfiguren untermauern den Vortragsgestus, sodass die fundamentalen Bestimmungen in dieser Passage selbst zu einer Art (Sprech-)Handlung werden. Inhaltlich bemerkenswert sind die Kommentare zu Geist und KörperKörper. Ersteren definiert LenzLenz, Jakob Michael Reinhold hier nicht etwa als erkennende oder urteilende, sondern als im Menschen „handelnde Kraft“. Diese ist zum einen ein analogon jener Handlungs- oder Bewegungskraft,4 die die „Seele der Welt“ ist; zum anderen ist es aber auch das Handeln, und nicht primär die TugendTugend, die VernunftfähigkeitVernunft, das Denken o.Ä., das den Menschen adelt und aus der SchöpfungSchöpfung heraushebt. Der handelnde Geist schließlich verleiht nun auch dem Körper seinen „wahren Wert“. Bedeutsam ist nicht nur, wie selbstverständlich Lenz den Körper aufwertet, sondern auch, dass er ausdrücklich die SinnlichkeitenSinnlichkeit – im Plural, ja sogar „alle“ – in die Vorstellung des Menschen als wertvolles Wesen integriert sehen will.

Die Forschung beschreibt LenzʼLenz, Jakob Michael Reinhold Menschenbild, wie er es vor allem in seinen moralischen und theologischen Schriften entwickelt, meist im Hinblick auf seine Auseinandersetzung mit den französischen Materialisten Holbach, Helvétius und La Mettrie.5 Deren Apologie des KörpersKörper und der Leidenschaften nimmt Lenz auf, verwirft jedoch ihren strengen DeterminismusDeterminismus. Auch für Lenz ist Bewegung eine anthropologische Fundamentalkategorie; die Leidenschaften, das menschliche Begehren werden als gottgewollter Motor von Bewegung legitimiert. Die „Konkupiszenz“ ist somit Ursprung und Anlass jeder menschlichen Handlung – trotzdem handelt der Mensch nicht unfrei. Vielmehr ist die Konkupiszenz in ständigem Konflikt mit dem göttlichen Verbot, und genau in diesem Spannungsfeld erwächst die FreiheitFreiheit des Menschen.6 So ist das Begehren, auch und vor allem das sexuelleSexualität, Sex, gar die Voraussetzung für menschliche Freiheit. Der Trieb soll keineswegs unterdrückt, sondern muss sublimiert werden7 – dann ist moralisches Handeln möglich.8 Aus dieser Perspektive besteht kein Antagonismus zwischen Trieb und Leidenschaften auf der einen und VernunftVernunft und Verstand auf der anderen Seite; jene setzen diese erst in Bewegung.9

Unter diesen Voraussetzungen wird LenzʼLenz, Jakob Michael Reinhold enthusiasmierte Apologie der Handlung und der Tat in Über Götz von Berlichingen verständlich. Gegen das Pathos zeitgenössischer Dramen und gegen deren HeldenHeld polemisiert er heftig: „Schurken und keine Helden! was habt ihr getan, daß ihr Helden heißt?“ (LW 2, 638). Die Vehemenz erklärt sich aus der streng wirkästhetischen Argumentation; Lenz lenkt den Blick auf die „Folgen“ und die „Wirkung“ der Dramen. Von diesen verlangt er einen „lebendige[n] Eindruck, der sich in Gesinnungen, Taten und Handlungen hernach einmischt“, einen „prometheische[n] Funken“ (LW 2, 639), der auf den Zuschauer überspringt und dessen zukünftiges Verhalten beeinflusst. Genau deshalb verteidigt er GoethesGoethe, Johann Wolfgang Götz: „[D]a ist der ganze Mann, immer weg geschäftig, tätig“. Geschäftigkeit, Tätigkeit, Handeln, Bewegung – „Wer so gelebt hat, wahrlich, der hat seine Bestimmung erfüllt“ (LW 2, 640), und zwar aus folgendem Grund: „FreiheitFreiheit“ besteht für den Menschen nur dort, wo die „handelnde Kraft“ im Menschen „Platz zu handeln“ findet. Kultiviert er die handelnde Kraft in solchem Maße, dass er frei handeln kann, ahmt der Mensch GottGott nach und erreicht den Gipfel menschlichen Seins: „Seligkeit! Seligkeit! Göttergefühl das!“ (LW 2, 638). Als Handelnder erweist sich der Mensch seiner Würde würdig; genau deshalb kann das Theater, in dem „alles auf Handlung an[kommt]“ (LW 2, 641), nicht nur zu einem analogon, sondern sogar zur schönsten „Vorübung“ für das „große[] Schauspiel des Lebens“ werden (LW 2, 640). Denn hier lernt der Mensch das Handeln, wenn der „prometheische Funken“ überspringt.

In den Anmerkungen übers Theater (1774), seiner Auseinandersetzung mit Aristotelesʼ Poetik und deren Rezeption, stellt LenzLenz, Jakob Michael Reinhold – ähnlich wie später Arno HolzHolz, Arno10 – nicht so sehr die Begriffe des Handelns und der Tat, sondern jene des Charakters und des IndividuumsIndividuum in den Fokus. Zunächst liefert er eine spezifisch auf den poetischen Kontext gemünzte Definition des Menschen. Der Mensch, die „erste Sprosse auf der Leiter der freihandelnden selbstständigen Geschöpfe“ (LW 2, 645), ist, mit Aristoteles, ein zur Mimesis neigendes Wesen, ja empfindet überhaupt nur durch Nachahmung Vergnügen11 und unterscheidet sich genau dadurch vom TierTier, Vertierlichung, Theriomorphisierung.12 Dies begründet den „Wert“ des Dramas (LW 2, 642) und den „Reiz“ der Poesie (LW 2, 645), ist deren „Wesen“ doch ebenfalls Nachahmung (LW 2, 645), und zwar durch den Dichter, der „Standpunkt [nimmt]“ (LW 2, 648) und „alles scharf durchdacht, durchforscht, durchschaut – und dann in getreuer Nachahmung zum andernmal wieder hervorgebracht“ (LW 2, 649). Seiner Aristoteles-Exegese legt Lenz nun die Leitfrage zugrunde, ob „der Mensch“ oder das „Schicksal des Menschen“ „Hauptgegenstand der Nachahmung“ sei (LW 2, 650). Lenz positioniert sich deutlich, und das ist die entscheidende Akzentuierung: Weder das Schicksal, eine für Lenz durch und durch antike Vorstellung, noch die Begebenheiten, noch die Fabel oder Handlung im poetologisch-dramaturgischen Sinne, noch „bloß Leidenschaften“ oder allgemeinmenschliche Lehren und „Gesetze der menschlichen Seele“ (LW 2, 652) machen die Tragödie aus, sondern die Charaktere in ihrer IndividualitätIndividualität. In deutlicher Abgrenzung zu LessingLessing, Gotthold Ephraim formuliert Lenz: „[D]ie Hauptempfindung in der Tragödie ist die Person, die Schöpfer ihrer Begebenheiten“ (LW 2, 668).13 Charaktere sind jene, „die sich ihre Begebenheiten erschaffen, die selbstständig und unveränderlich die ganze große MaschineMaschine selbst drehen“, sich also nicht durch Umstände und äußere Faktoren in ihren Handlungen bestimmen lassen und nicht, wie Lenz im Götz-Text klagt, selbst nur Rädchen einer großen Maschine sind. In diesem Fall spricht man „nicht von Bildern, von Marionettenpuppen – von Menschen“ (LW 2, 654). Der Gedankenstrich legt nahe, die Vokabel „Menschen“ hier in einem ganz emphatischen Sinn zu lesen; nur solche Charaktere, die tatsächlich autonomAutonomie, tatkräftig und frei, gleichsam als selbstbewussteSelbstbewusstsein, emanzipierte Subjekte, handeln, übrigens unabhängig von ständischen Überlegungen, entsprechen vollständig Lenzʼ Menschenwürdevorstellung14 – die durch die Darstellung in der Tragödie propagiert werden soll. In der Figur des Brutus aus ShakespearesShakespeare, William Julius Caesar erkennt Lenz einen Charakter, der seinen Vorstellungen entspricht, und lobt sie – lakonisch, aber mit bedeutungsschweren Worten: „[W]em die Würde menschlicher Natur nicht dabei im Busen aufschwellt und ihm den ganzen Umfang des Worts: ‚Mensch‘ – fühlen läßt –“ (LW 2, 665).15 Somit macht Lenz den Zusammenhang zwischen seiner Auffassung des Charakters, der Literatur und der Menschenwürde explizit. Würde und Menschsein bestimmt er dabei gerade nicht als rationalRationalität erschlossene oder erkannte Konzepte, sondern als zu fühlende, betont also ihre ästhetischen Dimensionen. Gleichzeitig legt er besonderen Wert darauf, jede Tendenz zur Idealisierung und zur Typisierung zu delegitimieren. „Genauigkeit und Wahrheit“ (LW 2, 653) sind die obersten Kriterien der Figurenzeichnung; die „Mannigfaltigkeit der Charaktere und Psychologien“ (LW 2, 661) ist es, die das Genie reizt. Es geht, um einen Erzählerkommentar aus Lenzʼ Zerbin abzuwandeln, nicht primär um die Würde der Gattung, sondern um die Würde der Individuen.16

Würde und FreiheitFreiheit des IndividuumsIndividuum postuliert LenzLenz, Jakob Michael Reinhold freilich in seiner eigenen Dramenproduktion ex negativo. Seine Dramen Der Hofmeister (1774) und Die Soldaten (1776) etwa sind keine konventionellen Tragödien; vielmehr entwickelt Lenz in der Praxis eine tendenziell offene Dramenform,17 die es ihm erlaubt, den Blick auf das Individuum – die „Hauptempfindung“ der Tragödie – und auf die „Begebenheiten“ – die „Hauptempfindung“ der Komödie – zu lenken, d.h. jene Umstände, Bedingungen, Verhältnisse und inneren Pathologien, die das freie Handeln in Frage stellen.

Prägnant formuliert: LenzʼLenz, Jakob Michael Reinhold Werk durchzieht zum einen die Idee, dass die Anerkennung des menschlichen Triebes, seiner SinnlichkeitSinnlichkeit, Körperlichkeit und SexualitätSexualität, Sex die Vorstellung der menschlichen Wesenswürde nicht konterkariert, sondern vielmehr ihre notwendige Korrektur darstellt. Zum anderen inszeniert Lenz das Scheitern des Menschen daran, seiner Würde vollends gerecht zu werden – und aktiviert so das sozialkritische Potential der Literatur, lenkt er doch den Blick auf jene Zwänge und Hindernisse, die die Sublimierung des menschlichen Triebes und somit emanzipiertes, autonomesAutonomie Handeln verhindern.18 Würde ist in diesem Sinne ein Gestaltungsauftrag nicht nur für das IndividuumIndividuum, sondern für die gesamte GesellschaftGesellschaft.19