Literarische Dimensionen der Menschenwürde

Tekst
Autor:
0
Recenzje
Przeczytaj fragment
Oznacz jako przeczytane
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa

I.3. Exkurs II: Die Ständeklausel – kontingente Würde als problematische Voraussetzung für Tragödienfähigkeit

In seinem Versuch einer Critischen Dichtkunst stellt GottschedGottsched, Johann Christoph unmissverständlich klar, wie der HeldHeld einer Tragödie (im Gegensatz zur Komödie) gestaltet werden muss. Um seinen moralischen Lehrsatz zu illustrieren, „sucht [der Dichter] in der Historie […] beruͤhmte Leute“, die dafür geeignet scheinen, „und von diesen entlehnet er die Namen, fuͤr die Personen seiner Fabel, um derselben also ein Ansehen zu geben“ (AW VI/2, 317). Es sind die „Großen dieser Welt“ (AW VI/2, 312), an deren Schicksal Gottscheds Wirkintention gekoppelt ist. Der Held der Tragödie muss einen hohen sozialen Status haben und moralisch vorbildlich sein; trotzdem muss er auch ein mittlerer Held sein, d.h. gemäß des hamartia-Modells des Aristoteles einen charakterlichen Fehler haben, der sein Scheitern erklärt, rechtfertigt und somit die erhoffte Reflexion beim Publikum in Gang setzt.1 Im Hinblick auf die Würdeproblematik formuliert: Kontingente Formen der Würde (soziale Würde, Ansehen, Annäherung an ein TugendidealTugend) werden zur wirkästhetischen Voraussetzung der Tragödie. Die Würde (sowohl die soziale als auch die sittliche) des Protagonisten muss bewundert, sein Scheitern betrauert werden, damit der Zuschauer, nachdem er aus dem beklagten Scheitern die richtigen Schlüsse gezogen hat, zur Nachahmung angeregt wird. Doch dies führt zu einem Widerspruch: Kontingente Würde ist auf der einen Seite Bedingung für die Tragödienfähigkeit eines Charakters, was durch Berufung auf tradierte Regeln legitimiert wird; auf der anderen Seite ist das Ziel des Aufklärers die Förderung und Verankerung eines für alle Menschen geltenden Norm- und Tugendsystems.2 Durch diesen Widerspruch entsteht eine logische Spannung, die der Dichter ästhetisch bewältigen muss.3

I.4. Sterbender Cato

GottschedsGottsched, Johann Christoph zunächst erfolgreiche und wirkmächtige Tragödie Sterbender Cato wird heute meist mit Skepsis betrachtet. Die Forschung prangert die kühle Regelhaftigkeit des vermeintlich unoriginellen Dramas an und weist auf konzeptionelle Schwächen in der Figurenzeichnung hin.1 Gottscheds in der Vorrede formulierte Wirkabsicht, Bewunderung und zugleich „MitleidenMitleid“, „Schrecken und Erstaunen“ zu wecken,2 gehe vollkommen fehl.

Tatsächlich liegen dieser Wirkabsicht unterschiedliche Aspekte des Gottschedschen Menschenwürdebegriffs zugrunde, die unauflösliche Widersprüche zur Folge haben. Die unterschiedlichen Auslegungen der Menschenwürde spitzen sich in der Bewertung des Freitods Catos zu; die Art der Inszenierung des SuizidsSuizid an sich bringt schließlich eine zusätzliche darstellungs- und rezeptionsästhetische Dimension der Menschenwürde ins Spiel. Die Herausforderung des Sterbenden Cato ist demnach die Explikation der Grundspannung des Dramas, die sich aus folgenden Faktoren ergibt: der vermeintlich vorbildlichen TugendhaftigkeitTugend des Protagonisten, dem eindeutig als Fehlhandlung verstandenen Suizid, der genauen Bestimmung des tragischen Fehlers des HeldenHeld sowie der von der historischen Überlieferung merklich abweichenden Darstellung des Selbstmordes.

I.4.1. Catos Handeln als Beweis und Garant seiner Menschenwürde

Damit Cato außerfiktional zum bewundernswerten und somit letztlich zum „mitleidswürdig[en]Mitleid“ (SC 112) HeldenHeld der Tragödie werden kann, muss sein Handeln innerfiktional so geschildert werden, dass er tugendhaftTugend und würdig erscheint, und zwar nicht nur im Sinne des Stoizismus (bei aller Kritik GottschedsGottsched, Johann Christoph an dieser Doktrin), sondern auch und vor allem im Sinne des bereits umrissenen frühaufklärerischen Menschenbildes.1 Deshalb muss der SuizidSuizid, an dessen Illegitimität für Gottsched keine Zweifel bestehen,2 zumindest als Folge einer nachvollziehbar positiv besetzten Eigenschaft inszeniert werden. Dies soll dadurch gelingen, dass Cato als standhafter, seine Affekte reflektierender und überwindender Charakter gezeichnet wird, der autonomAutonomie entscheidet und handelt. Arsene/Portia dient in dieser Hinsicht als Spiegelfigur, die gleichzeitig als vorsichtiges Korrektiv angelegt ist.

In Szene I,4, in der Cato und sein Diener Phocas die Enthüllung der wahren IdentitätIdentität Arsenes diskutieren, wird das, was Cato als bewundernswerte Figur, die menschenwürdig handelt, auszeichnen soll, besonders augenfällig. Die Nachricht, dass seine totgeglaubte Tochter Portia lebt, jedoch als Königin der Parther seinem republikanischen Ideal zutiefst widerspricht, ruft heftigste Emotionen hervor: „Wie? Soll mein eigen Blut mir Brust und Herz zerreißen?“ (SC 28, V. 209). Vaterliebe und politische Gesinnung konfligieren: „Mein Blut erlaubt es zwar“, Portia zu lieben, „doch Rom“, und das heißt: seine tiefsten politisch-moralischen Überzeugungen, „verbeut es allen!“ (SC 28, V. 218). Dass Cato seinen Überzeugungen den Vorrang vor jeder affektiven Regung gibt, wird noch deutlicher, als er die Versuchung, mit Hilfe der Königin Portia Cäsar zu bekämpfen, ablehnt. „Was recht und billig ist, sonst rührt mich nichts auf Erden!“ (SC 29, V. 246) – der Zweck heiligt also keineswegs die Mittel, denn: „[…] wer die TugendTugend liebt, geht lieber selbst darauf“ (SC 29, V. 248). Cato legt seinem Handeln und seinem Entscheiden eine strenge sittliche Maxime zugrunde, die zu diesem Zeitpunkt durchaus bewundernswert erscheint, gleichzeitig aber proleptisch auf seinen Tod verweist – ein Signal, dass seine standhafte Tugendhaftigkeit später zu problematisieren sein wird. Noch aussagekräftiger ist Catos Reaktion auf Phocasʼ Vorschlag, die Götter durch ein Opfer um Rat zu fragen. „Die Götter fehlen nie“, so Phocas (SC 29, V. 254), doch Cato lehnt es ab, in „toten Opfertieren / Des GottesGott, der mich treibt, Befehl und Willen [zu] spüren“ (SC 30, V. 261–262). Dieser GottGott habe ihm

[…] doch damals schon, eh ich das Licht erblickt,

Den Trieb zur Billigkeit in Herz und Sinn gedrückt.

Der lenkt ohn Unterlaß mein Tichten und mein Trachten

Und treibt mich, lebenslang die TugendTugend hoch zu achten,

Dem Laster feind zu sein, so mächtig es auch ist;

Gesetzt, daß ich dabei zugrunde gehen müßt!

Der lehrt mich, Rom sei nur zur FreiheitFreiheit auserkoren

Und habe die Gewalt der Könige verschworen.

Ja, der beut uns auch itzt der Parther Zepter an,

Zur Prüfung, ob man ihn beherzt verschmähen kann?

Drum laßt uns standhaft sein und solchen Beistand fliehen!

Die Tugend weiß uns schon aus der Gefahr zu ziehen. (SC 30, V. 263–274)

Auffälligerweise spricht Cato an dieser Stelle von einem GottGott,3 und dieser „treibe“ ihn; dass dies aber nicht bedeutet, dass Cato nicht alleiniger Herr seiner Handlungen ist, beweisen zum einen die gehäufte Anzahl von Personal- und Possessivpronomina der ersten Person Singular, zum anderen seine weiteren Ausführungen. Er spricht von seinem ihm in einem SchöpfungsaktSchöpfung von diesem Gott verliehenen Willen, einem Streben nach TugendhaftigkeitTugend – eine bemerkenswerte (anachronistische) Anspielung auf die christliche Vorstellung der menschlichen Gottebenbildlichkeit als Grund von WillensfreiheitWille, freier Wille, Tugendfähigkeit und Menschenwürde. Die stoische Konzeption des vernunftautonom tugendhaft handelnden, nicht affektgebundenen Menschen wird damit nicht aufgehoben, jedoch um eine dezidiert christliche Dimension ergänzt. Indem Cato aber ausdrücklich ablehnt, sich von einer metaphysischen Entität nach dem Schöpfungsakt noch in seinem Handeln bestimmen zu lassen, sich vielmehr einem streng rationalenRationalität – dem ‚göttlichen Trieb‘ korrespondierenden – Moralkodex verpflichtet sieht, entspricht er der Würdevorstellung des frühaufklärerischen Publikums.4 Die absolute, beinahe rücksichtslose FreiheitFreiheit seines Willens bildet auch die Peripetie der Tragödie: „Wenn ich nicht hoffen darf, die Freiheit zu erwerben, / So bin ich alt genung und will ganz freudig sterben“ (SC 55, V. 943–944; m. H.). Kurz darauf noch einmal: „Ich will viel lieber sterben“ (SC 57, V. 1008; m. H.), als auf Cäsars Angebot einzugehen. So wird Catos SuizidSuizid zu einem mehrfach angekündigten „Akt der Freiheit“,5 der es ihm erlaubt, seine Würde zu wahren – und damit ist hier eine kontingente Form der Würde gemeint, die durch autonomesAutonomie Handeln6 begründet wird, jedoch von heteronomen Idealen abhängt. Als reflektierter Akt der Freiheit, als eine Handlung, die Cato „mit Wissen und Willen thu[t]“, die „ein gewisses vorhergehendes Erkenntniß [sic], und ein Urtheil des Verstandes zum Voraus setzet“7 und die sich letztlich aus der rationalen Tugendhaftigkeit des Protagonisten erklären lässt, ist der Suizid prinzipiell nachvollziehbar.

Dass die Bewertung Catos trotzdem schnell zu kippen droht, beweist der Dialog mit Portia in IV,2. Bereits in der ersten Szene des Dramas ist Portia/Arsene als mündige, selbstbestimmt und reflektiert handelnde Frau eingeführt worden, die sehr genau um ihren Platz in der GesellschaftGesellschaft und die damit verbundenen Handlungsspielräume weiß. Als sie in der Szene IV,2 erfährt, dass sie Catos Tochter ist, leugnet sie keineswegs die Existenz von Affekten und starken Emotionen (SC 61, V. 1163), doch indem sie diese verbalisiert und reflektiert, schafft sie die Basis für einen souveränen, autonomenAutonomie Umgang damit. Aufschlussreich ist ihre Reaktion auf Catos Forderung, ihre „Schwäche“ (SC 66, V. 1203), d.h. ihre Emotionen, zu überwinden: „Ich bin dein Vater nicht, wo Cäsars Liebe noch / In deiner Seelen brennt. Ersticke solche Flammen!“ (SC 65, V. 1198–1199). In der folgenden Passage wird Catos innerfiktionaler Menschenwürdebegriff, der darauf beruht, seine Affekte freiwillig der TugendTugend unterzuordnen, in Frage gestellt, indem Portia ihn polemisch zuspitzt und zeigt, wie er sich ins Unmenschliche wandeln kann: „Sagt, muß ein Römer denn, um Rom getreu zu scheinen, / In seiner Seelen gar die Menschlichkeit verneinen / Und unempfindlich sein?“ (SC 66, V. 1211–1213). Portia bringt hier den entscheidenden Begriff der „Menschlichkeit“ ins Spiel, der Catos kühl-rationalerRationalität, tugendbasierter Menschenwürdevorstellung eine versöhnlich-weibliche Revisionsmöglichkeit entgegenstellt. Cato jedoch beharrt auf seinem Standpunkt und postuliert eine klare Hierarchie Tugend > Natur: „Was sagst du? Rede nun! / Sprich, soll denn die Natur der Tugend Eintrag tun?“ (SC 66, V. 1213–1214). Für einen kurzen Moment scheint Portia die Möglichkeit eines Kompromisses zu sehen: „Und muß die Tugend denn Natur und Trieb ersticken?“ (SC 66, V. 1215). Sie erkennt klar den Konflikt zwischen Pflicht und Neigung, der für das nach-kantischeKant, Immanuel, klassische Drama kennzeichnend sein wird; wahre Menschlichkeit, mithin sogar Würde, ist für Portia in einem harmonischen Verhältnis von Trieb8 und Tugend denkbar. Doch es bleibt bei diesem kurzen, geradezu utopischen Moment; bereitwillig ergibt sie sich schließlich Catos Forderung und will „mein eigen Herz und Cäsars Glut bekämpfen“ (SC 66, V. 1220).9

 

Dass Cato selbst den Freitod als logische und einzig mögliche Konsequenz seiner Lage und somit nicht nur als legitime, sondern als eine seine Würde in keiner Weise verletzende Handlung versteht, belegt sein längster Monolog, zu Beginn des fünften Aktes. Nachdem er sich diskursiv und mit Bezug auf Plato von der Unsterblichkeit der Seele zu überzeugen versucht hat und nun zuversichtlich dem Tode und der Möglichkeit, die letzte Unsicherheit ob der Existenz GottesGott10 durch eigene Erfahrung zu beseitigen, entgegentritt, will er sich ausruhen:

Ich überlasse mich dem Schlummer, den ich merke;

Daß mein erwachter Geist hernach mit voller Stärke

Die Flucht ergreifen kann und denn an Kräften neu

Dem Himmel, den er ehrt, ein würdig Opfer sei.

Wen sein Gewissen plagt, dem stört die Angst den Schlummer:

Davon weiß Cato nichts. Kein Laster macht mir Kummer! (SC 76, V. 1461–1466)

„Ein würdig Opfer“ – im Sinne seines persönlichen, stoischen Würdeverständnisses handelt er „würdig“, da er selbstbestimmt, überlegt, kühl-rationalRationalität und aktiv („ergreifen“) zu sterben beschließt, um seine Würde, die persönliche und politische FreiheitFreiheit, zu bewahren.11

I.4.2. Die problematische Bewertung der Figur Cato

Wenn der bewundernswerte, tugendhafteTugend HeldHeld am Ende den Freitod wählt, mithin für seine Ideale eher in den Tod gehen will, als sie zu kompromittieren, dann nähert sich die Tragödie dem Schema des Märtyrerdramas an.1 Doch gerade das bestreitet GottschedGottsched, Johann Christoph in seiner „Vorrede“: Er habe Cato keineswegs als „vollkommenes Tugendmuster“ darstellen wollen, vielmehr sei er Aristotelesʼ hamartia-Konzept gefolgt. Cato sei ein „regelmäßiger Held“, der zwar „sehr tugendhaft“ sei, doch „gewisse Fehler an sich“ habe:

Man bewundert, man liebet und ehret ihn: Man wünscht ihm daher auch einen glücklichen Ausgang seiner Sachen. Allein, er treibet seine Liebe zur FreiheitFreiheit zu hoch, so daß sie sich in einen Eigensinn verwandelt. Dazu kommt seine stoische Meinung von dem erlaubten SelbstmordeSuizid. Und also begeht er einen Fehler, wird unglücklich und stirbt: Wodurch er also das MitleidenMitleid seiner Zuhörer erwecket, ja Schrecken und Erstaunen zuwege bringet. (SC 17)

Demnach geht Catos Fehler auf eben jene Quellen zurück, die auch seine TugendTugend begründen: seine Freiheitsliebe, seine Standhaftigkeit.2 Anders formuliert: Sein vermeintlich menschenwürdiges Verhalten führt zu einer aus GottschedsGottsched, Johann Christoph Sicht als menschenunwürdig zu bewertenden Handlung: „[N]ein, den SelbstmordSuizid wollen wir niemals entschuldigen, geschweige denn loben“ (SC 17). In einer Akademie-Rede führt Gottsched seine Kritik an Cato aus:

Die Liebe zur roͤmischen Freyheit, muß seinem Eigensinne zum Vorwande dienen; und die Begierde, sich durch eine unerhoͤrte That einen unsterblichen Namen zu erwerben, muß mit dem Deckmantel einer stoischen Großmuth verhuͤllet werden. So siegete denn die Furcht vor der Sklaverey, uͤber die Liebe des Lebens; die Zaghaftigkeit uͤber die Großmuth; die Verzweiflung uͤber die Weisheit und TugendTugend. Cato stirbt; aber nicht aus Verachtung des Todes, sondern aus Ueberdruß eines ungluͤcklichen Lebens. (AW IX/2, 489)3

So entpuppt sich Catos vermeintlich bewundernswerte und vernunftgeleitete TugendhaftigkeitTugend als verstecktes Laster, als affektgeleiteter „Eigensinn“.4

Dies steht jedoch in eklatantem Widerspruch zu der oben aufgestellten These, dass Cato durchaus die stoische und frühaufklärerische Würdeauffassung erfüllt, sein SuizidSuizid somit für den Zuschauer zumindest nachvollziehbar ist. Wenn sich Cato aber doch von seinen Affekten leiten lässt, also keineswegs ‚erhaben‘ und autonomAutonomie handelt, ist sein Handeln auch nicht menschenwürdig. Der Selbstmord wäre dann nicht nachvollziehbar, sondern vollkommen illegitim – was GottschedGottsched, Johann Christoph selbst in seiner Vorrede bestätigt.5 Diese doch beachtliche Diskrepanz legt präzise das Grundproblem der dramatischen Konzeption offen: Um beim Rezipienten Bewunderung hervorzurufen, muss Gottsched seinen Cato, dessen Geschichte und Ende ja historisch fixiert sind, autonom handeln lassen und sein Handeln als Beleg seiner Menschenwürde inszenieren; gleichzeitig unterläuft sein Bemühen, Cato mit einem Fehler auszustatten, um den Zuschauer zum MitleidenMitleid anzuregen und Schrecken hervorzurufen, diese Darstellung, und Cato wird, vor dem Hintergrund der Würdeauffassung der Stoa und der Frühaufklärung, zu einem höchst fragwürdigen Charakter.6

Ein nicht nur fragwürdiger, sondern von GottschedGottsched, Johann Christoph eindeutig als Verstoß gegen die Menschenwürde gekennzeichneter Akt ist der SuizidSuizid Catos zudem auf einer Ebene, die die Forschung nicht immer gebührend beachtet.7 In seiner Cato-Rede verweist Gottsched auf einen für seine Menschenwürdevorstellung und seine Moralphilosophie bedeutenden Aspekt:

Der Mensch, lehren die Stoiker, lebt nicht fuͤr sich, sondern fuͤr andere. Er ist ein Glied in der Kette aller Dinge; ein Theil der Welt, ein Buͤrger in der Republik aller vernuͤnftigen Geschoͤpfe. So lange er nun diesen nuͤtzen und dienen kann, muß er sie seines Beystandes durchaus nicht berauben. (AW IX/2, 490)

Der Mensch ist, nicht nur als Mitglied eines gesellschaftlich-staatlichen Gebildes, verpflichtet, „anderer Leute Gluͤckseligkeit zu befoͤrdern“.8 Dieses naturrechtliche, auf die Philosophie WolffsWolff, Christian zurückgehende Gebot wird in dem Moment missachtet, in dem Cato es vorzieht, für seine Ideale oder aus Sturheit und Eigensinn – je nach Sichtweise – zu sterben, statt sich im Sinne der Gemeinschaft verhandlungsbereit zu zeigen.9 Diese Kritik ist zentral für die Interpretation der Tragödie – wie der Blick auf die Art der Darstellung des SuizidsSuizid belegt.

I.4.3. Die Dramatisierung des SuizidsSuizid

„Was sich vor mich nicht schickt, das werd ich auch nicht tun“, verkündet Cato in V,2 (SC 78, V. 1498). Innerfiktional ist dieser Ausspruch die Apologie des SuizidsSuizid im stoischen Würdeverständnis der Figur Cato: Die bewusste, reflektierte Entscheidung zum Freitod ist nicht nur eine moralisch erlaubte, sondern eine würdevolle Handlung. Außerfiktional gelesen, wird der Satz zum metadramatischen Kommentar über die Art und Weise, wie GottschedGottsched, Johann Christoph Catos Selbsttötung inszeniert. Bei der dramatischen Gestaltung des Suizids weicht der Dichter merklich von den grausigen Umständen ab, die etwa bei Plutarch und Seneca überliefert sind.1 Statt sich ‚aufzuschlitzen‘, sodass die Eingeweide herausquellen, sich sogar einen zweiten Stich zu setzen, um schneller zu sterben, tötet sich Cato hinter einem inneren Vorhang, der ihn auf der Bühne verdeckt. „(Man höret einen Tumult drinnen)“ (SC 82, nach V. 1588) – dann verkündet Portius: „Er hat sich selbst entleibet!“ (SC 82, V. 1600). In einer zeitgenössischen Rezension wird Gottsched diese Missachtung der historischen Wahrheit explizit angekreidet, und er sieht sich veranlasst, sein Vorgehen zu rechtfertigen. Nicht nur sei Cato „kein historischer, sondern ein poetischer“ Charakter, was Abweichungen von der historischen Wahrheit erlaube,2 wenn es der Vermittlung der „Sittenlehre“ diene; außerdem ließe sich der historisch überlieferte „schreckliche“ Suizid „auf der Schaubühne unmöglich zeigen“, da Cato sonst zum „Scheusal“ würde, von dem sich die Rezipienten sofort distanzieren (SC 111–112).3 Wirkästhetische Überlegungen, die über bloße Abwägungen in Bezug auf die Angemessenheit, das aptum oder decorum hinausgehen, stehen eindeutig über dem Gebot der historischen Wahrheit.4

Das Verlegen der Entleibung hinter den inneren Vorhang entzieht dem Akt letztlich die Legitimation.5 Denn bevor Cato sterbend seine letzten Worte spricht, betonen andere Figuren auf der Bühne, allen voran Portius und Portia, dass gerade ein lebender Cato für das Wohlergehen sowohl der eigenen Familie als auch Roms die letzte Hoffnung darstellt.6 Durch diesen dramaturgischen Kniff wird besonders deutlich, dass Cato mit seinem SuizidSuizid seine Mitmenschen und Mitbürger im Stich lässt;7 er entzieht sich der naturrechtlichen Pflicht, sein Handeln an der Maxime der Glückseligkeit aller Menschen auszurichten. Catos Sich-Entziehen wird durch das auffällige Aussparen optischer Details gleichsam negativ visualisiert. Er handelt demnach falsch und egoistisch; er verstößt gegen einen wesentlichen Aspekt der frühaufklärerischen Menschenwürdevorstellung.

Als der tödlich verwundete Cato schließlich auf die Bühne getragen wird, setzt er zu einem letzten Monolog an, in dem er dann doch Selbstzweifel äußert:

[…] Ihr Götter! hab ich hier

Vielleicht zu viel getan: Ach! So vergebt es mir!

Ihr kennt ja unser Herz und prüfet die Gedanken!

Der Beste kann ja leicht vom Tugendpfade wanken.

Doch ihr seid voller Huld. Erbarmt euch! – – Ha!

Der Rückgriff auf die Götter, d.h. vorchristliche Vorstellungen einer höheren Macht, erlaubt GottschedGottsched, Johann Christoph, Cato als im letzten Moment doch verunsicherten Menschen zu zeigen, sodass der moraldidaktische Impetus umso stärker wirksam werden kann.8 Dass nun aber an dieser entscheidenden Stelle nicht mehr von „GottGott“ im Singular, sondern von „Göttern“ die Rede ist, Cato also deutlich als ‚Heide‘ gekennzeichnet wird, hat den bemerkenswerten und widersprüchlichen Effekt, dass genau in dem Moment, in dem seine Unsicherheit ihn mitleidswürdigMitleid werden lässt, eine deutliche Distanz zum christlichen Rezipienten entsteht, die zur Reflexion auffordert und die Legitimation des SuizidsSuizid wirkungsvoll in Frage stellt. Auch Cato zweifelt nun an der Legitimität seines Handelns, das bis hierhin problemlos mit seinem Würdeverständnis vereinbar war. Angesichts einer doch noch möglichen Rettung erscheint der Freitod als vorschnell.9

Doch obwohl der SuizidSuizid eindeutig als schwerer moralischer Fehler verurteilt wird, der mit vernünftigerVernunft Reflexion unvereinbar ist,10 will GottschedGottsched, Johann Christoph den Selbstmörder Cato ganz offensichtlich nicht, wie es in der Wissenschaft des 18. Jahrhunderts üblich ist, in die Nähe des TieresTier, Vertierlichung, Theriomorphisierung rücken11 – sonst hätte sich Cato durchaus auf offener Bühne und möglichst grausam entleiben können. Nicht einmal per Botenbericht oder Teichoskopie wird die historisch und literarisch verbürgte Todesart geschildert. Grund für das Verbergen und die Abschwächung der Grausamkeit ist ebenjene widerspruchsvolle wirkästhetische Strategie, die dem Drama geradezu eingeschrieben ist. Catos Charakter und Handeln müssen sowohl bewundernswert als auch fehlerhaft sein; trotz seines unwürdigen Fehlers darf er nicht verachtungswürdig,12 also auch nicht würdelosWürdelosigkeit und tierhaft, erscheinen. Für die dramatische Darstellung bedeutet das konkret: Der menschliche KörperKörper darf als etwas an sich Schönes und Würdiges nicht angetastet werden. Durch das Aussparen des Gewaltaktes, der radikal auf den Körper zielt und damit einen der Vorzüge des menschlichen Geschlechts kompromittiert, bleibt die Menschenwürde unangetastet im wörtlichen Sinne; der grundsätzliche Wert des Menschen sowie seine Überlegenheit über den Rest der SchöpfungSchöpfung werden bestätigt.13 In Ansätzen deutet dieses Postulat mit seinen poetologischen Implikationen vielleicht sogar auf das Konzept einer inhärenten Würde voraus, gerade weil ein möglicher Verstoß nicht im Hinblick auf poetische Aussagen funktionalisiert wird. Dass Gottsched bei aller moralischen Verurteilung Catos den Menschen prinzipiell als bewundernswertes Wesen ansieht, ist Ausdruck seines optimistischen Weltbildes, in dem der Mensch eindeutig Würde besitzt und ihm gerade deshalb die Aufgabe zukommt, sich persönlich und moralisch zu vervollkommnenPerfektibilität, Vervollkommnung.14