Literarische Dimensionen der Menschenwürde

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V.2.3. HolzHolz, Arno / SchlafSchlaf, Johannes: Die Familie Selicke (1890)
V.2.3.1. Vor Sonnenaufgang und Die Familie Selicke I

Sein künstlerisches Verhältnis zu den ‚konsequenten Naturalisten‘ HolzHolz, Arno und SchlafSchlaf, Johannes beschreibt HauptmannHauptmann, Gerhart rückblickend wie folgt:

Ich habe von dem Bjarne-P.-Holmsen-Prinzip selbst in meinem ersten Stück nur sehr bedingten Gebrauch gemacht. Und wenn es auch Arno HolzHolz, Arno in seinem anfänglichen Enthusiasmus das überhaupt beste deutsche Drama nannte, so kam er doch später davon ab, als das Johannes SchlafscheSchlaf, Johannes Drama „Familie Selicke“ in Erscheinung trat und damit das Prinzip in angeblich reiner Form. Nun stand er nicht an, mein Werk zu entwerten, weil es eben, wie ohne Zweifel ganz richtig war, sein an sich originales Prinzip keineswegs durchführte. (CA 11, 496)1

HauptmannHauptmann, Gerhart sah den Einfluss von HolzHolz, Arno v.a. in der Art der ästhetischen Reproduktion von Sprache.2 Wenn er hier einen signifikanten Unterschied zwischen beiden Texten feststellt, dann bezieht er sich auch auf die gewichtigen Unterschiede in den theoretischen Voraussetzungen des jeweiligen Menschenbildes, die sich in der Figurenzeichnung manifestieren. Die Familie Selicke ist, so Peter Sprengel, „Antwort auf und ‚konsequent-naturalistische‘ Alternative zu Vor Sonnenaufgang“.3 Die entscheidenden Unterschiede – und somit die Antwort Holzʼ und SchlafsSchlaf, Johannes auf Hauptmanns Figuren – fördert eine auf den Menschenwürdebegriff zugespitzte Interpretation zu Tage.

V.2.3.2. Die Überwindung der WürdelosigkeitWürdelosigkeit?

Wie Thienwiebel in Papa Hamlet ist auch die Familie Selicke darauf bedacht, nach außen hin die Insignien einer kleinbürgerlichen Würde zur Schau zu stellen: Die erste Regieanweisung des Textes erwähnt Gipsstatuen von GoetheGoethe, Johann Wolfgang und SchillerSchiller, Friedrich, einen Werther-Stich sowie Bilder Bismarcks und des „alte[n] Kaiser[s]“ (FS 5).1 Diese Requisiten haben eine doppelte Kontrastfunktion: Sie verweisen sowohl auf die Diskrepanz zwischen dem idealisierten, kleinbürgerlichen Lebensstil und den realen, ärmlichen Lebensbedingungen2 als auch auf das mit ihnen assoziierte klassische Menschenbild, das aus naturalistischer Perspektive negiert wird. Ausgerechnet der Theologe Gustav Wendt erweist sich im Dialog mit Toni zunächst als von der DeterminismuslehreDeterminismus überzeugter Naturalist. Leidenschaftlich versucht der angehende Pfarrer, Toni dazu zu bewegen, mit ihm aufs Land zu ziehen und dem „Elend“ (FS 26) zu entfliehen. „Du bist ja auch nur ein Mensch!“ (FS 26), ruft Wendt aus, als wolle er sie auffordern, sich ihren Affekten, die sie sowieso nicht beeinflussen kann, bewusst hinzugeben. Dann zeichnet er ein äußerst negatives Bild von Tonis Eltern, die eine von Hass und Streit geprägte Ehe führen: „Das sind keine vernünftigenVernunft Menschen mehr, das sind … Ae! Sie sind einfach jämmerlich in ihrem nichtswürdigen, kindischen Haß!“ (FS 27). Noch schreckt Wendt zwar davor zurück, die Selickes als TiereTier, Vertierlichung, Theriomorphisierung zu bezeichnen. Die offenbare WürdelosigkeitWürdelosigkeit der Eltern bedroht jedoch in seinen Augen auch die Existenz der Kinder: „Die Kinder müssen ja zugrunde gehen!“ (FS 27). Die Interdependenz von Milieu und Charakter steht für Wendt außer Frage.3 Toni versorgt zu wissen und von ihr finanziell unterstützt zu werden, hätte laut Wendt einen positiven Effekt auf die gesamte Familie: „Und wenn erst ihre äußere Lage etwas besser ist, dann ist ja auch vieles, vieles gleich ganz anders!“ (FS 28). Der durch das Elend der Großstadt determinierteDetermination Mensch ist für ihn jedenfalls vollkommen würdelos:

Die Menschen sind nicht mehr das, wofür ich sie hielt! Sie sind selbstsüchtig! Brutal selbstsüchtig! Sie sind nichts weiter als TiereTier, Vertierlichung, Theriomorphisierung, raffinierte Bestien, wandelnde Triebe, die gegeneinander kämpfen, sich blindlings zur Geltung bringen bis zur gegenseitigen Vernichtung! Alle die schönen Ideen, die sie sich zurechtgeträumt haben, von GottGott, Liebe, und … eh! das ist ja alles Blödsinn! Blödsinn! Man … tappt ja nur so hin. Man ist die reine MaschineMaschine! (FS 29)4

Wendt artikuliert ein Menschenbild, das zwei nur auf den ersten Blick unvereinbare Begriffe enthält: „Bestien“ und „MaschineMaschine“. Mit Bezug auf die Lehren der Natur- und Sozialwissenschaften sieht Wendt den Menschen als brutales TierTier, Vertierlichung, Theriomorphisierung unter Tieren, das in einen ständigen, egoistischen ‚Kampf ums Dasein‘ verstrickt ist. Zudem sind diese Menschtiere ihren Trieben ausgeliefert, also vollkommen determiniertDetermination. Die Maschinenmetapher ist mehrdeutig, da der genaue Bezug unklar ist: Der Mensch ist eine Maschine, insofern seine Handlungen von seinen Affekten und seinem evolutionären Überlebenswillen vorgegeben, gleichsam gesteuert werden und ihm, wie der Maschine, jede AutonomieAutonomie- und Moralfähigkeit fehlt. Doch das Indefinitpronomen „Man“ könnte sich auch auf Wendt selbst beziehen, der über den Mangel an Handlungsalternativen klagt – und so proleptisch sein eigenes, vorgezeichnetes Verlassen Tonis vorwegnimmt. Dass gerade ein Theologe zum Vertreter eines solchen Menschenbilds wird, entlarvt nicht nur „religiöse Tröstungsangebote als falsche Versprechungen“,5 sondern delegitimiert auch die theologische Begründung der Würde des Menschen als von GottGott geschaffenes, der SchöpfungSchöpfung übergeordnetes und mit einem freien Willen ausgestattetes Wesen. Die „schönen Ideen“ von der besonderen Würde des Menschen kommen Wendt lächerlich vor; der Mensch wird vielmehr zur entmystifizierten, in seiner Determination genau untersuch- und erklärbaren „Maschine“. Dass Wendt trotz gegenteiliger Äußerungen an die Liebe glaubt und Toni für sich gewinnen will, ist zunächst widersprüchlich. Er glaubt, nicht ohne Eskapismus, auf dem Land, „in ruhigen, schönen Verhältnissen“, abseits der determinierenden Macht des Milieus, ein anderes Leben führen zu können: „Wir werden ganz andre Menschen sein! […] Wir verstehen das Leben! Wir wissen, wie miserabel es ist, aber wir haben dann auch, was mit ihm versöhnt!“ (FS 31). Die Einsicht in die conditio humana ist für Wendt Voraussetzung einer glücklichen Existenz, in der immerhin eine Versöhnung mit der WürdelosigkeitWürdelosigkeit des Menschen, ja eine persönliche Besserung möglich scheint. Problematisch ist jedoch, dass er dies nur abseits der Großstadtrealität für möglich hält und dass seine Lösung einen eindeutig egoistischen Zug trägt – stellt er doch seinen eigenen Wunsch nach privater und beruflicher Sicherheit niemals in Frage.

Diesem Egoismus setzt Toni einen nicht auf anthropologischen oder philosophischen Überlegungen fußenden, sondern vollkommen intuitiven Altruismus entgegen: „Nicht wahr, Gustav? … Wir dürfen doch nicht nur an uns denken?!“ (FS 61). Aus Sorge um das Wohl ihrer zerrütteten Familie verzichtet Toni auf ein vermeintlich sicheres Leben und entsagt dem gemeinsamen Glück.

Bisherige Interpreten haben Tonis Verhalten recht unterschiedlich bewertet; dabei ist gerade die präzise Beschreibung dieser Figur entscheidend. Fritz Martinis Bewertung oszilliert zwischen der Feststellung der WillensunfreiheitWille, freier Wille der Figuren und dem Versuch, in Tonis als Beweis der menschlichen Würde interpretiertem Verzicht doch Ansätze einer freien und selbstständigen Entscheidung zu sehen – wenn auch mit tragischen Folgen für das IndividuumIndividuum.6 Für Siegwart Berthold basiert Tonis Entsagung auf einer ausschließlich sittlich motivierten Entscheidung, die eklatant der Auffassung von der DeterminiertheitDetermination des Menschen widerspricht.7 Die vielen Stellen, die auf MitleidMitleid und Rührung des Zuschauers zielen und dem Ideal des nüchternen naturalistischen Beobachterblicks eigentlich widersprechen, deutet Berthold im Kontext dieses Leitgedankens.8 Dieter Kafitz schließlich widerspricht solchen Deutungen, die das naturalistische Grundpostulat der Willensunfreiheit aufweichen wollen. Vielmehr sei Toni gefangen im nicht mehr zeitgemäßen Ideal des Kleinbürgers; letztlich ist ihr Verhalten durchaus Resultat der Determination durch ihr Milieu, durch die Selbstbilder und -ansprüche ihrer Familie und ihres sozialen Umfelds – ihr Verzicht kann nach Kafitz somit kein Akt der Würde sein.9

Dieser Blick auf die Forschung legt Grundprobleme der Interpretation offen: Ist Tonis Verhalten als Beweis der menschlichen Würde zu lesen, als Überwindung der WürdelosigkeitWürdelosigkeit des naturalistischen Dramenpersonals, wenn doch gleichzeitig jede Entscheidungsfreiheit und der freie WilleWille, freier Wille im Stück geleugnet werden? Handelt es sich schlichtweg um einen unauflösbaren Widerspruch, eine dramaturgische Schwäche? Steht am Ende doch das dem idealistischen Menschenwürdebegriff verpflichtete Lob einer sittlichen Handlung, die aus der Überwindung der eigenen Neigung resultiert? Oder bestätigt Tonis Verzicht das naturalistische Menschenbild, da er, letztlich vorhersehbar und notwendig, aus Milieu und Charakterdisposition ableitbar ist?

Nimmt man HolzHolz, Arno’ Auffassung von der „durchgängige[n] Gesetzmäßigkeit alles Geschehens“10 ernst, muss der Befund lauten: Tonis Entscheidung gegen das eigene Glück (und somit für die Familie) kann nur als angelernte Verhaltensweise, als ein notwendiges Fügen in ein sozial vermitteltes Rollenbild (das Bild der fürsorglichen, liebenden Tochter) gedeutet werden. Als Frau wird ihr keinerlei eigene Entscheidungsgewalt zuerkannt. Entsprechend artikuliert sie auch keinen Entscheidungsprozess, sondern eher sentenzhafte Phrasen: „Wir müssen – vernünftigVernunft sein! […] Aber: wir dürfen nicht! Nicht wahr? […] Wir dürfen doch nicht nur an uns denken?!“ (FS 60–61). Die gehäuft vorkommenden Modalverben verweisen auf einen Zwang, den Toni verspürt, ein diffuses Pflichtgefühl, das sie stark empfindet, dessen Ursprung sie aber nicht benennen kann.11 Deshalb will sie sich ständig rückversichern: „Nicht wahr?“ (FS 60; vgl. 61). Ihr individuelles Wohl und Wollen ordnet Toni vollkommen einem heteronomen Anspruch unter, von dem aber nie klar wird, was genau er ist. Von einer freiwilligen, autonomenAutonomie, gar moralischen Entscheidung Tonis kann also nicht die Rede sein. Trotz dieser DeterminiertheitDetermination sind aber Altruismus, Menschlichkeit und Nächstenliebe möglich; sie können nur eben nicht die Folge autonomer Entscheidungen sein. Sie dürfen aber auch nicht als bloße Folge der Determiniertheit abgewertet werden, sondern erscheinen als zutiefst menschliche Qualität. Indem das Stück vorführt, dass der Mensch bei allem Gefangensein in Milieu und Umständen der (Nächsten-)Liebe fähig ist, erhält das Menschsein eine entscheidende Aufwertung, die nicht nur jenem, der menschlich handelt, sondern auch jenen, denen Menschlichkeit entgegengebracht wird, eine Würde verleiht, die die vorher festgestellte WürdelosigkeitWürdelosigkeit überwindet.12 Anders als Wendt kann deshalb Toni mit Bezug auf ihre Familie ausrufen: „Die armen, armen Menschen!“ (FS 58; m. H.). Der Glaube an die Menschlichkeit des Menschen ist jedoch nicht idealistisch begründet.

 

Innerfiktional deutet die Figur Wendt diesen neu entdeckten Glauben an die menschliche HumanitätHumanität an. Am Ende des Stücks, als klar ist, dass Toni um ihrer Familie willen in der Stadt bleiben wird, formuliert er eine Modifikation, wenn auch keine grundlegende Revision seines Menschenbildes:

[…] du machst mich jetzt zu einem anderen Menschen! … Du hast mich überhaupt erst zu einem gemacht, liebe Toni!

[…]

Das Leben ist ernst! Bitter ernst! … Aber jetzt seh ich, es ist doch schön! Und weißt du auch warum, meine liebe Toni? Weil solche Menschen wie du möglich sind! – Ja! So ernst und so schön! … (streichelt ihr über das Haar.) (FS 62)

Die doppelte Kennzeichnung des Lebens als „ernst“ und „schön“ entspricht dem vermeintlich widersprüchlichen Menschenbild des Naturalismus, der die traditionellen Begründungen der Menschenwürde aufhebt, eindrucksvoll deren vollkommene Unangebrachtheit illustriert, den Begriff aber trotzdem nicht aufgeben will. Menschenwürde wird redefiniert als Fähigkeit zur Menschlichkeit.

Die Figur des alten Kopelke illustriert genau denselben Punkt.13 Er ist freundlich, hilfsbereit und versucht, sich in den Dienst seiner Mitmenschen zu stellen, und gleichzeitig zweifelt er nicht an der DeterminationDetermination durch Milieu, Erziehung und Zeitumstände:

Ja! Wenn eener immer ville Jeld hat, wissen Se, denn mag’t ja wol noch jehn! […] Neh’m Se mir mal zun Beispiel! Ick wah ooch nich uff’n Kopp jefallen als Junge! Ick wah immer der Erste in de Schule! Wat meen’n Se woll?! … Abber de Umstände, wissen Se! de Umstände! Et half nischt! Vatter ließ mir Schuster weer’n! … Freilich, mit die Schusterei is det nu ooch nischt mehr heitzudage! Die ollen Fabriken, wissen Se! Die ollen Fabriken rujenieren den kleenen Mann! … Sehn Se! So bin ick eejentlich, wat man so ’ne verfehlte Existenz nennt! Nu bin ick sozesagen alles un janischt! […] Se haben alle nischt, die armen Deibels, den’n ick … [mit meinen Homöopathiekenntnissen aushelfe; MG] (FS 16)

So stellen HolzHolz, Arno und SchlafSchlaf, Johannes den Einsatz für den Mitmenschen als einen jenseits jeder sittlichen Entscheidung liegenden, genuin menschlichen Charakterzug dar, der zwar nicht jedem Menschen eignet, der aber als Potential in jedem Menschen angelegt ist – und selbst bei einer Figur, die mit ihren Ansichten das naturalistische Menschenbild bestätigt, vorkommt. Sogar der Vater, obwohl von Armut, ehelicher Frustration und Alkoholismus gezeichnet, zeigt „verdeckte Äußerungen von Zärtlichkeit“.14 Dass er der Zuneigungsbekundungen gegenüber seinen Kindern und der Äußerung seines Wunsches nach ehelichem Glück nur in alkoholisiertem Zustand fähig ist und ansonsten nur den Kanarienvogel ‚menschlich‘ behandelt (vgl. FS 19), stellt der vorsichtig hoffnungsvollen Überwindung der WürdelosigkeitWürdelosigkeit einen Eindruck entschiedener und bedrückender Negativität entgegen.15 Dieses Spannungsverhältnis ist typisch für den Würdediskurs des Textes.16 Tonis Menschlichkeit resultiert aus einem sozial anerzogenen Reflex; ihr menschenwürdiges Handeln ist Folge ihrer vollkommenen WillensunfreiheitWille, freier Wille und geht einher mit der Aufopferung ihres individuellen Glücks sowie der Preisgabe jedes Anspruchs auf SelbstverfügungSelbstverfügung und AutonomieAutonomie. Insofern ist an ihrem Verhalten auch nichts vorbildhaft, nachahmenswert oder tugendhaftTugend.17 Trotzdem bleibt das Faktum der durch Toni (und Kopelke) belegten Menschlichkeit. Die sozialkritische Dimension des Textes ist in dieser Lesart zu bestimmen als vehemente Kritik an Verhältnissen, die als einzig möglichen Menschenwürdebegriff eine diffuse, reflexartige Menschlichkeit zulassen. Gerade diese jedoch ist der Anlass und Ausgangspunkt des letztlich optimistischen, hoffnungsvollen Glaubens der Naturalisten an eine mögliche und zu leistende Besserung des Menschen.

V.2.3.3. Vor Sonnenaufgang und Die Familie Selicke II

Die Figurenkonstellation ist in beiden Dramen ähnlich; in der Figurenzeichnung sind jedoch entscheidende Divergenzen festzustellen, die Die Familie Selicke tatsächlich zur ‚konsequent-naturalistischen‘ Antwort auf HauptmannsHauptmann, Gerhart Drama machen. Entscheidungsmöglichkeiten gibt es hier nicht mehr. Der Eindruck des Gefangenseins in vorgegebenen Rollen und Verhaltensmustern ist quasi absolut. Während in Vor Sonnenaufgang letztlich doch die Möglichkeit einer autonomenAutonomie Entscheidungsfindung aufscheint, ist diese Möglichkeit in Die Familie Selicke zurückgenommen. In der Entscheidungssituation ist Toni einer eigenmächtigen Willensäußerung und Entscheidungsfindung unfähig. Wendt scheint sich nicht einmal in einer Entscheidungssituation zu befinden; dass er die Familie am Ende verlassen wird, wird kaum ernsthaft in Frage gestellt.1 Im Gegensatz zu Loth, der sich als Moralist entpuppt, ist Wendt dabei eher der um Verständnis bemühte Beobachter, der sogar seinen Glauben an den besonderen Wert des Menschen wiedergewinnt. Wie Helenes SuizidSuizid ist Tonis Verhalten, das als metaphorischer Suizid die totale Preisgabe jedes Anspruchs auf Autonomie zur Folge hat, determiniertDetermination. Beiden Dramen gemeinsam ist das Motiv der praktisch gelebten Menschlichkeit als Überwinderin vermeintlicher WürdelosigkeitWürdelosigkeit: Anhand der Figur Loth wird fehlende Mitleidfähigkeit und HumanitätHumanität gerade bei einer in Ansätzen autonomen Person angeprangert; Tonis Philanthropie wird zwar als zutiefst menschlich, aber untrennbar mit einer Perspektive bedrückender Ausweglosigkeit verknüpft dargestellt.2

V.3. Dimensionen der Menschenwürde in der Literatur des Naturalismus

Zwei literarische Dimensionen der Menschenwürde prägen die Literatur des Naturalismus. Zum einen kommt ihr eine doppelte programmatische Relevanz zu: Thematisch rücken menschenunwürdige, den Menschen entwürdigendeEntwürdigung soziale Realitäten und Phänomene in den Fokus. Theoretisch wird traditionellen Menschenwürdebegriffen von den aus den Wissenschaften entlehnten Annahmen über den Menschen das Fundament entzogen (z.B. WillensfreiheitWille, freier Wille, GottebenbildlichkeitGottebenbildlichkeit), und doch wird die literarische Tätigkeit in den Dienst des Menschen und seiner VervollkommnungPerfektibilität, Vervollkommnung gestellt. Zum anderen wird in den besprochenen literarischen Texten das neue Menschenbild übernommen. Es kommt jedoch nicht zu einer Wiederherstellung der Menschenwürde durch genuin ästhetische Mittel, vielmehr wird durch Figurenzeichnung und -konstellation der Begriff in den Texten zur Diskussion gestellt und auf Möglichkeiten seiner Neuformulierung überprüft. Während in Papa Hamlet die pessimistische Sicht auf den tatsächlich würdelosenWürdelosigkeit Menschen überwiegt, sind die beiden analysierten Dramen ambig: Der Würdelosigkeit bzw. der Entwürdigung durch MilieudeterminationDetermination steht der vorsichtig optimistische Verweis auf das geradezu utopische Therapeutikum der HumanitätHumanität gegenüber, das die Möglichkeit des Glaubens an einen besonderen Wert des Menschen garantiert. Will man die sozialkritische Tendenz der Texte stärker betonen, muss man die Texte als Enthüllung der den Menschen entwürdigenden Faktoren lesen.

In diesem Zusammenhang wird jedoch auch das grundlegende Paradox des naturalistischen Umgangs mit der Menschenwürde offenbar: Die naturalistische Literatur hat den Anspruch, die Wirklichkeit mit wissenschaftlicher Genauigkeit abzubilden; gleichzeitig fordern die Programme, die Idee der Menschenwürde ästhetisch zu rekonstituieren – ein eigentlich unmöglicher Spagat, ein Problem, das kaum befriedigend zu lösen ist. Die Folge sind problematische, komplexe und keinesfalls uneingeschränkt positiv zu bewertende Figuren wie Loth, der das Postulat der WillensunfreiheitWille, freier Wille zwar aufweicht, dessen naturalistisch fundierte Ethik aber vollkommen inhuman bleibt, und Toni, deren intuitive HumanitätHumanität verheerende Konsequenzen für sie als IndividuumIndividuum hat.

VI. Die Menschenwürde und die Literatur des Expressionismus

Wie die Naturalisten stellen auch die Expressionisten den Begriff der Menschenwürde in Frage, jedoch nicht aus einer primär naturwissenschaftlichen Perspektive, sondern eher im Kontext einer vitalistisch fundierten Absage an den sozialen und ästhetischen status quo einer von bürgerlichen (Un-)Wertvorstellungen dominierten GesellschaftGesellschaft. In Anknüpfung an NietzschesNietzsche, Friedrich Kritik der Menschenwürde attackieren die expressionistischen Dichter das bürgerliche Menschenbild scharf und suchen nach neuen Zugängen zu Wesen und Vorstellung des Menschlichen.

Nach einem Blick auf NietzschesNietzsche, Friedrich Auseinandersetzung mit der Menschenwürde wird im Folgenden die expressionistische Programmatik beleuchtet, aber auch die jener Bewegungen, die sich vom Expressionismus zwar bisweilen vehement abgrenzen, mit diesem im Hinblick auf den theoretischen Umgang mit der Menschenwürde aber doch verwandt sind. Das Hauptaugenmerk der Analysen liegt auf der Lyrik als der – zumindest in den ersten Jahren – wichtigsten Gattung der expressionistischen Dichtung. Im Mittelpunkt der einzelnen Kapitel stehen Texte Georg HeymsHeym, Georg, Gottfried BennsBenn, Gottfried und Franz WerfelsWerfel, Franz, da sich an ihnen die jeweiligen Thesen besonders deutlich herausarbeiten lassen. Zwei stärker thematisch ausgerichtete Abschnitte untersuchen schließlich die Lyrik, die die Erfahrung des Ersten Weltkrieges umkreist, sowie das Motiv des vertierten Menschen.

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