Literarische Dimensionen der Menschenwürde

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IV.4.3. EntwürdigungEntwürdigung = WürdelosigkeitWürdelosigkeit?

Im Lenz konstituiert BüchnerBüchner, Georg die Menschenwürde der vermeintlich würdelosenWürdelosigkeit Titelfigur mit ästhetischen Mitteln. Im Woyzeck wird die Würde des zutiefst entwürdigtenEntwürdigung, doppelt fremdbestimmten Protagonisten sowohl inner- als auch außerfiktional wiederhergestellt.

Im Dialog mit dem Hauptmann (H4,5; MA 223–224) schafft es Woyzeck – ähnlich wie Lenz im Kunstgespräch – sich doch recht zusammenhängend zu artikulieren. Nachdem er zunächst nur mechanisch und gleichsam besinnungslos antwortet (vgl. das anaphorische „Ja wohl, Herr Hauptmann“ sowie die wiederholte Apostrophe „Herr Hauptmann“) und der Hauptmann den „ganz abscheulich dumm[en]“ Untergebenen lächerlich macht, widerspricht Woyzeck dessen Ansichten über MoralMoral, Moralität. Freilich überzeugt er den Hauptmann, der Woyzecks Argumentation mit verstörender Ignoranz übergeht, nicht; immerhin aber hat ihn der „Diskurs […] ganz angegriffen“. Bedeutsamer aber als das innerfiktionale Scheitern des Dialogs ist der außerfiktionale Effekt: Woyzeck entlarvt das Gefasel des Hauptmanns als hohle Phrasen, seine „Würde“ als leere Pose. Woyzecks Einwände – Armut, KreatürlichkeitKreatürlichkeit, Hoffnungslosigkeit – sind schlagend, weil sie der bürgerlichen Vorstellung von Moral und Würde die nackte soziale Realität gegenüberstellen.1

Dem Zuschauer des Dramas stellt sich zudem die Frage, ob der Mord an Marie überhaupt eine Tat, eine selbstbestimmte Handlung einer autonomenAutonomie und verantwortlichen Person oder eher die notwendige Folge der Manipulation eines vollkommen determiniertenDetermination, entwürdigtenEntwürdigung Menschen ist. Das zweite Gutachten, das der Mediziner Clarus über den historischen Fall anfertigte, der BüchnerBüchner, Georg als Vorlage diente, stellt fest, „daß bei ihm [i.e. Woyzeck; MG] die Freiheit des WillensWille, freier Wille in diesem Zustande keineswegs aufgehoben gewesen sei“ (MA 647). Dieser Beurteilung liegt ein normatives, kantischesKant, Immanuel Menschenwürdeverständnis zugrunde: Da Woyzeck ein Mensch ist, ist er ein potentiell vernunftfähiges Wesen, besitzt theoretisch einen uneingeschränkt freien Willen und ist somit moralischen Handelns fähig. Seine Tat basiert auf einer freien Entscheidung, demnach muss er bestraft werden. Die bisherige Forschung macht jedoch bisweilen geltend, dass der Mord an Marie keineswegs als „Tat“2 zu betrachten sei, der eine freie, autonome Entscheidung vorausging.

BüchnersBüchner, Georg Fiktionalisierung des historischen Falles enthüllt zum einen, wie verlogen eine GesellschaftGesellschaft ist, die auf der einen Seite von AutonomieAutonomie, WillensfreiheitWille, freier Wille, ja Menschenwürde redet, auf der anderen Seite aber nicht einmal in der Lage ist, die grundlegendsten existenziellen Bedürfnisse des Einzelnen zu stillen: Versorgungssicherheit für sich und seine Familie. Objekt der Kritik sind die Umstände und das Gesellschaftssystem, die Menschen produzieren, die tierähnliche, ohnmächtige Existenzen führen müssen. So wird das tragische Ende des Dramas zwar nicht entschuldbar, aber erklärbar und nachvollziehbar. Zum anderen stellt Büchner – in einer geradezu perversen dramatischen Wendung – Woyzecks Mord an Marie tatsächlich als Tat, als bewusste Handlung dar, als letzten möglichen autonomen Akt der Würde eines vollkommen entwürdigtenEntwürdigung Menschen.3 In der innerfiktionalen Welt ist Woyzeck Opfer tiefster MenschenwürdeverletzungenMenschenwürdeverletzung. Die Gesellschaft bringt ihn in eine Situation, die ein Mensch nicht aushalten kann; der Mord wird zum letzten Ausweg, zur letzten Möglichkeit, die eigene Würde wiederherzustellen. Dass Woyzeck dabei gerade den Menschen, den er am meisten liebt, umbringt, legt das ganze Ausmaß der sozialen Katastrophe offen. Dass Woyzecks Handlung tatsächlich eine autonome, planmäßige ist, beweist die Vorbereitung durch den Messerkauf. Auch die Art des Tötens ist vielsagend: Büchner lässt Woyzeck Marie nicht etwa auf eine distanzierte Art, z.B. mit einer Pistole, ermorden, sondern mit einem Messer, was vom Täter ein sehr aktives, unmittelbares Töten erfordert. Auf solche Weise wird etwa Wild erlegt oder Nutzvieh geschlachtet. Woyzeck behauptet sich durch den Mord also als Mensch, setzt sich durch die Art des Tötens vom TierTier, Vertierlichung, Theriomorphisierung, zu dem ihn die Gesellschaft macht, ab. Auf eine juristische Bewertung oder eine Bestrafung Woyzecks verzichtet Büchner in der innerfiktionalen Welt bewusst; der Fokus liegt vielmehr darauf, was mit dem Menschen Woyzeck passiert.

Innerfiktional kann Woyzeck seine Würde demnach – pervers genug – nur durch den Mord an einem geliebten Menschen behaupten. Außerfiktional, auf der Ebene der Rezeption, rehabilitiert die Art der literarischen Darstellung seine Würde.4 Nicht nur wird Woyzeck – dieser Mann ohne jede kontingente Würde – vom Dichter als literaturfähig betrachtet, und zwar nicht als Figur, die verlacht oder verdammt wird, sondern als mit MitleidMitleid, Verständnis und Bewusstsein für die Umstände seiner Situation zu betrachtender Mensch. Vor allem lässt BüchnerBüchner, Georg in kurzen Momenten zutiefst menschliche Reaktionen und Empfindungen aufscheinen. In der Wirtshausszene beobachtet Woyzeck die mit dem Tambourmajor tanzende Marie; seine Eifersucht zeugt von seiner Verletztheit, von seiner enttäuschten Liebe: „WOYZECK (erstickt). Immer zu – immer zu. (fährt heftig auf und sinkt zurück auf die Bank.) Immer zu, immer zu, (schlägt die Hände ineinander.)“ (H4,11; MA 229). Diese Szene markiert einen Bruch; die Demütigung ist nun auch auf privater, zwischenmenschlicher Ebene erfolgt. Seinem Freund Andres schenkt Woyzeck fürsorglich sein „Kamisolche“ (H4,17; MA 231), als er glaubt, es nicht mehr brauchen zu können. Beispielhaft ist auch die zärtliche Liebe in der herzzerreißenden Szene zwischen Woyzeck und seinem Sohn (H3,2):

WOYZECK. Bub, Christian. […]

WOYZECK (will das Kind liebkosen, es wendet sich weg und schreit.) Herrgott! […]

WOYZECK. Christianche, du bekommst en Reuter, sa sa. (das Kind wehrt sich. Zu Karl.) Da kauf d. Bub en Reuter. (MA 219)

In diesen Momenten wird klar: Trotz aller äußeren und inneren Zwänge, trotz aller Gefährdungen seiner AutonomieAutonomie oder Würde bleibt Woyzeck ein fühlender, liebender, verletzlicher Mensch.5

In der ganz eindeutig ironischen „Predigt“ des Handwerksburschen in H4,11 (MA 229) folgt auf die Frage „Warum ist der Mensch?“ eine Art SchöpfungsgeschichteSchöpfung, die den Menschen in Varianten stets als Mittel zum Zweck beschreibt. Diese teleologische Sicht ist für BüchnerBüchner, Georg unzulässig; der Mensch ist, und allein deshalb hat er Würde.6 Da Woyzeck zu menschlichen Emotionen und Empfindungen fähig ist, ist er – trotz aller Entmenschlichungen, trotz aller EntwürdigungenEntwürdigung – ein Mensch, der Würde besitzt. Diese These – Entwürdigung ist nicht gleich WürdelosigkeitWürdelosigkeit – stellt Büchner mit bis dahin nicht gekannter Vehemenz ins Zentrum seines Stückes; sie ist eine literarische Grundthese, an der sich die Literatur immer wieder, bis heute, abarbeiten wird.

IV.5. Dimensionen der Menschenwürde bei BüchnerBüchner, Georg

BüchnersBüchner, Georg begriffliche Auseinandersetzung mit der Menschenwürde kennzeichnet eine bemerkenswerte Entwicklung: Die Gymnasialschriften bedienen sich recht unoriginell aufklärerisch-klassischer Begründungsmuster der Menschenwürde (Vernunftbegabung, AutonomieAutonomie, Entscheidungsfreiheit). Dem gegenüber stehen die späteren Texte, in denen die Gefährdung, die VerletzungMenschenwürdeverletzung oder der vermeintliche Verlust der MenschenwürdeWürdelosigkeit thematisiert werden. Büchner enthüllt die Fragwürdigkeit der VernunftVernunft als Zuschreibungskriterium von Menschenwürde und die DeterminationDetermination des Menschen (durch soziale Unterdrückung, durch die Geschichte, durch das TierTier, Vertierlichung, Theriomorphisierung- und Triebhafte sowie die KreatürlichkeitKreatürlichkeit des Menschen, durch den Wahn). Den intrinsischen Wert spricht Büchner jenen, die aus idealistischer Perspektive würdelos erscheinen mögen, keineswegs ab – selbst der Geringste hat eine unantastbare Menschenwürde.

Mit großem sprachlichem Aufwand inszeniert BüchnerBüchner, Georg zum einen entwürdigendeEntwürdigung Vorgänge, zum anderen vermeintliche WürdelosigkeitWürdelosigkeit. Der Hessische Landbote aktiviert das aufwieglerische Potential der Rhetorik der Entwürdigung, die den Rezipienten suggeriert, dass sie wie TiereTier, Vertierlichung, Theriomorphisierung ausgenutzt werden. Eingekleidet in biblische Sprache ist ein naturrechtlicher Würdebegriff: Die Bauern sollen sich auf ihre Würde und die damit einhergehenden Rechte besinnen und sich wehren. In der rhetorischen Entwürdigung werden zudem die Unterdrücker den Unterdrückten gleichgemacht. Im Lenz verdeutlichen vielsagende sprachliche Konstruktionen Autonomieverlust und beginnenden Wahn. Im Woyzeck wird die Grenze zwischen Mensch und Tier brüchig – ein programmatischer Angriff auf ein überholtes, die soziale Realität verkennendes Menschenbild. Die Thematisierung und Inszenierung von MenschenwürdeverletzungenMenschenwürdeverletzung haben ebenfalls einen scharfen sozialkritischen Impetus. Die Bauern des Landboten und Woyzeck werden theriomorphisiert und schamlos zu Mitteln der Herrschaftssicherung degradiert; ihnen wird von den sozial Höhergestellten, die sich auf verlogen-zynische Weise mit leeren Phrasen rechtfertigen, kein inhärenter Wert zuerkannt.

Der rhetorischen EntwürdigungEntwürdigung, der bedrückenden Inszenierung von MenschenwürdeverletzungenMenschenwürdeverletzung und dem Eindruck vermeintlicher WürdelosigkeitWürdelosigkeit entspricht als positiv-überwindende ‚Gegenmaßnahme‘ die literarische Konstitution, d.h. die außerfiktionale Wiederherstellung der Menschenwürde im Lenz und im Woyzeck. Beide Texte sind ingeniöse Versuche, Menschenwürde mit den Mitteln der Literatur zu (re)konstituieren. Durch erzählerische bzw. dramaturgische Entscheidungen (personale Darstellung und auktoriale Artikulation von Lenz’ Innenleben; Einfügen von Szenen, die Woyzeck als empfindenden, liebenden Menschen zeigen) werden die entwürdigten und vermeintlich würdelosen Figuren dem Rezipienten anthropologisch gleichgestellt und als MitleidMitleid, Verständnis und AchtungAchtung verdienende Menschen gekennzeichnet. Entsprechend ist die KunstKunst, Künstler- und Literaturfähigkeit einer Figur auch nicht mehr an kontingente Formen der Würde gebunden.

 

BüchnersBüchner, Georg Menschenwürdebegriff fußt auf einem egalitären Menschenbild, das Menschlichkeit, Empathiefähigkeit und SolidaritätSolidarität, wie sie nicht zuletzt im Kunstgespräch im Lenz zum Ausdruck kommen, als Grundvoraussetzungen des menschlichen Zusammenlebens setzt, und dem (ex negativo durch die Schilderung von zu verurteilenden Instrumentalisierungen postulierten) Recht auf SelbstbestimmungSelbstbestimmung, was der allgegenwärtigen DeterminationDetermination keineswegs widerspricht.1 Sein Menschenwürdebegriff ist nicht normativ in dem Sinne, dass der Mensch bestimmte Kriterien erfüllen muss, um als würdevolles Wesen zu gelten. Vielmehr klagt er für jeden Menschen, ohne Rücksicht auf äußerliche oder innerliche Merkmale, Würde und bestimmte Rechte ein. Würde ist ein dem Menschen nicht zu nehmendes Wesensmerkmal. Das hat eine starke naturrechtliche Komponente, verzichtet bei der Begründung der Würde aber auf die Bindung an die VernunftVernunft. Menschenwürde bedeutet nicht primär die Pflicht des Trägers, auf eine bestimmte Art, mithin ‚moralisch‘ zu handeln, sondern vor allem sein Recht, auf eine bestimmte Weise, und zwar ‚menschenwürdig‘, behandelt zu werden.

V. Die Menschenwürde und die Literatur des Naturalismus

Seit Mitte des 19. Jahrhunderts ist der Begriff der Menschenwürde als Epitheton in Formulierungen wie „menschen(un)würdiges Dasein“ ein politisches Schlagwort, besonders im Denken der frühen Sozialisten.1 Es verrät die Einsicht, dass die Menschenwürde mit der zunehmenden Dringlichkeit der ‚Sozialen Frage‘ und im Zuge von Urbanisierung, Industrialisierung und Proletarisierung sehr realen, materiellen Bedrohungen ausgesetzt ist, und dass dem Menschen bestimmte Lebensumstände nicht zuzumuten sind; die Menschenwürde wird zu einer politisch-sozialen Kampfformel.2 Für die Literatur des Naturalismus, die sich der Wiedergabe der modernen Welt und deren Folgen für die conditio humana verpflichtet sieht, hat die Menschenwürde aber nicht nur diese sozialgeschichtliche Relevanz, sondern sie gewinnt auch für die Ästhetik und das der KunstKunst, Künstler zugrundeliegende, auf zeitgenössische wissenschaftliche Erkenntnisse zurückgreifende Menschenbild an Bedeutung.

Die Literatur des bürgerlichen Realismus beschreibt vielfach die Aporie des IndividuumsIndividuum, das einem von der GesellschaftGesellschaft normativ verstandenen, tendenziell äußerlichen Würdebegriff gegenübersteht. Wenn als menschenwürdiges nur ein den bürgerlichen Normen und gesellschaftlichen Werten entsprechendes Leben gilt, wenn Ehre als Leitideal die Würde übertrumpft, müssen SelbstbestimmungSelbstbestimmung, SelbstverfügungSelbstverfügung und AutonomieAutonomie des Einzelnen zurückstehen. Entsprechend dominant sind in der literarischen Welt des 19. Jahrhundert die Konflikte zwischen Individuum und Gesellschaft – die nicht selten im SuizidSuizid enden, der den Rezipienten zu einer Reflexion über die Werte der Gesellschaft und deren Kollision mit der Würde des Menschen drängen soll.3 Auf der darstellungsästhetischen Ebene tendiert der nicht umsonst als ‚poetischer‘ bezeichnete Realismus dazu, das HässlicheHässliche, die Würde Bedrohende auszusparen, es unter die Oberfläche zu verbannen oder aber es zu verklären. Das würdige Sterben ist in der Literatur des Realismus noch möglich – anders als in den Jahrzehnten darauf.4

Im Naturalismus sind es weniger Konflikte zwischen IndividuumIndividuum und GesellschaftGesellschaft als die das Individuum und seine Würde bedrohenden sozialen Kräfte, die in den Fokus rücken. Dass gerade die Naturalisten Georg BüchnerBüchner, Georg, vor allem Lenz und Woyzeck, wiederentdecken und feiern, ist kein Zufall: In Büchner finden sie einen Dichter, der mit bemerkenswerter Genauigkeit und Drastik die entwürdigendeEntwürdigung Macht gesellschaftlicher Verhältnisse und deren Auswirkungen auf Leben und Erleben des einzelnen Menschen beschreibt – und dies mit einem vehementen Plädoyer für EmpathieEmpathie, Menschlichkeit und Menschenwürde verbindet.

Das naturalistische Menschenbild, seine Konsequenzen für den Menschenwürdebegriff sowie dessen Relevanz für Kunstverständnis und -praxis werden im Folgenden mit Blick auf einschlägige naturalistische Programme und auf kanonische Texte der bedeutendsten Vertreter der Bewegung, des Autorenduos Arno HolzHolz, Arno und Johannes SchlafSchlaf, Johannes sowie Gerhart HauptmannsHauptmann, Gerhart, expliziert.

V.1. Die programmatische Bedeutung der Menschenwürde für die Literatur des Naturalismus
V.1.1. Theoretische Voraussetzungen

Der Biologe und monistische Philosoph Ernst HaeckelHaeckel, Ernst, der die Thesen des Darwinismus in seinen auflagenstarken, populärwissenschaftlichen Werken beim deutschsprachigen Publikum verbreitete, erklärt in seinen „gemeinverständlichen Studien“ Die Welträtsel (1899) die neue Sicht auf den Menschen. Dieser ist weder ein aus der Natur herausragendes, von GottGott als sein EbenbildGottebenbildlichkeit geschaffenes Wesen, noch zeichnet er sich durch eine Doppelnatur (Leib vs. Seele / VernunftVernunft) aus.1 Es gibt vielmehr nur eine Substanz; der Mensch, dessen Verwandtschaft mit dem TierTier, Vertierlichung, Theriomorphisierung seit Darwin als erwiesen gilt, ist das Resultat einer genau nachzuvollziehenden Evolution. In Haeckels streng deterministischem Menschenbild findet die WillensfreiheitWille, freier Wille keinen Platz mehr. Jede menschliche Handlung ist von der inneren Disposition des Einzelnen sowie den äußeren Umständen abhängig, gehorcht letztlich den Gesetzen von Vererbung und Anpassung an die Lebensbedingungen.2 Gleichwohl betrachtet Haeckel die Vernunft immer noch als des Menschen „höchste[s] Gut“ und als „de[n]jenige[n] Vorzug, der ihn allein von den Tieren wesentlich unterscheidet“.3 Die Vernunft und der Grad ihrer Ausbildung sind jedoch ebenfalls Resultat der Evolution und abhängig vom Einfluss äußerer Umstände. Diese Theorie versucht Wilhelm BölscheBölsche, Wilhelm in seiner Programmschrift Die naturwissenschaftlichen Grundlagen der Poesie für die aufstrebende naturalistische Strömung fruchtbar zu machen. Gerade die „Thatsache der Willensunfreiheit“ rückt er in den Vordergrund:

[W]enn sie nicht bestände, wäre eine wahre realistische Dichtung überhaupt unmöglich. Erst indem wir uns dazu aufschwingen, im menschlichen Denken Gesetze zu ergründen, erst indem wir einsehen, dass eine menschliche Handlung […] das restlose Ergebniss gewisser Factoren, einer äussern Veranlassung und einer innern Disposition, sein müsse und dass auch diese Disposition sich aus gegebenen Grössen ableiten lasse, – erst so können wir hoffen, jemals zu einer wahren mathematischen Durchdringung der ganzen Handlungsweise eines Menschen zu gelangen und Gestalten vor unserm Auge aufwachsen zu sehen, die logisch sind, wie die Natur.4

Die künstlerischeKunst, Künstler Darstellung des Menschen fußt auf wissenschaftlichen Gesetzen und beachtet die Faktoren Erziehung, Vererbung, Gewohnheit und die vom französischen Philosophen Hippolyte TaineTaine, Hippolyte formulierten Basiskategorien race, milieu und moment.5 HaeckelHaeckel, Ernst und BölscheBölsche, Wilhelm setzen wesentliche Begründungsmuster der Menschenwürde außer Kraft: Der Mensch ist nicht per se der SchöpfungSchöpfung überlegen, sondern nur, insofern er ein besonders weit entwickeltes TierTier, Vertierlichung, Theriomorphisierung ist; seine Handlungen sind nicht autonomAutonomie, sondern Ergebnis verschiedenster Einflüsse; VernunftfähigkeitVernunft an sich kann für die Zuschreibung von Würde nicht entscheidend sein, denn der Grad ihrer Ausprägung ist ebenfalls den Gesetzen von Evolution und Vererbung unterworfen.

Obwohl die Erkenntnisse der sich rasant entwickelnden Natur- und Sozialwissenschaften den Menschen seines Status als per se der restlichen Natur überlegenes Wesen berauben, bleibt der Mensch weiterhin das Hauptsujet literarischer Produktion. Die Literatur behält sogar nach BölscheBölsche, Wilhelm ihre aufklärerische Rolle als „Erzieherin des Menschengeschlechts“, kann sie doch nur so mit den Wissenschaften Schritt halten im Bestreben, „den Menschen gesund zu machen“.6 Die Idee der Menschenwürde wird keineswegs verabschiedet, wie Bölsche und andere explizit festhalten. Trotz des naturwissenschaftlichen Fortschritts bleibe der Mensch, so Bölsche, „was er ist. Das raubt ihm niemand. Es bleiben alle seine Ideale“.7 Emphatisch beschwört Michael Georg ConradConrad, Michael Georg das Ziel seiner Generation, einen „Tempel der HumanitätHumanität“ zu errichten und „das vernünftigVernunft verfasste […] Programm einer menschenwürdigen Existenz in unablässiger Arbeit an und um uns [zu] verwirklichen“, denn: „Der Mensch ist Selbstzweck.“ Conrad entfaltet die geradezu utopische Vision eines „Kampf[es] […] um die idealen Güter der Menschheit. Damit finden wir eine sichere, würdige Richtung für unsere gesamte Lebenspraxis und in ihr jene sittliche, reinhumane Kraft, in der allein alle Menschenerlösung beschlossen liegt.“ Mittel dieser ‚Erlösung‘ soll eine „naturalistisch begründete[], lautere[] Ethik“ sein.8 Hermann ConradiConradi, Hermann schließlich formuliert zusammenfassend jene Faktoren, die den Kampf des KünstlersKunst, Künstler um „wahre[] Geistesfreiheit“ ausmachen:

[D]as klare, aus unparteiischer Selbstprüfung, durch energische Selbstarbeit gewonnene Bewußtsein des eigenen Wertes; eine deutliche, unbeirrte, durchschauende Einsicht in die Dinge, in die Relativität der Beziehungen; eine felsenfeste Überzeugung von der Würde und dem Werte natürlicher MenschenrechteMenschenrechte; eine gewisse historische Philosophie, eine auf pessimistisch-positivistischer Grundlage aufgebaute Weltanschauung, die das natürliche, naturbedingte Maß der logisch notwendigen Umbildung ohne Scheu […] an die Erscheinungen des Lebens legt!9 (Herv. i.O.)

Als „Mission des Dichters“ sieht ConradiConradi, Hermann das „Erreichen einer reinen vorurteilsfreien HumanitätHumanität“, die den von den darwinistischen Theoremen vermeintlich ‚erniedrigten‘ Menschen ungemein aufwertet, da sie in ihm „den Besitzer natürlicher Rechte, den Träger einer natürlichen FreiheitFreiheit sieht, nicht den Stoff, die Ware, um die gefeilscht und gemarktet wird“.10

Dies sind die zwei widersprüchlichen Voraussetzungen der naturalistischen Literatur: einerseits das Wissen um die Bedrohung, ja die wissenschaftliche Infragestellung der Menschenwürde durch die DeterminismuslehreDeterminismus, andererseits der Vorsatz, die Idee innerhalb der Literatur zu verteidigen, ja mit literarischen Mitteln zu reformulieren. Die KunstKunst, Künstler müsse deshalb „rein menschlichen Ursprungs“11 sein, fordert etwa ConradConrad, Michael Georg AlbertiAlberti, Conrad. Die fünfte der auf Eugen WolffWolff, Eugen zurückgehenden Thesen der freien litterarischen Vereinigung „Durch!“ besagt:

Die moderne Dichtung soll den Menschen mit Fleisch und Blut und mit seinen Leidenschaften in unerbittlicher Wahrheit zeichnen, ohne dabei die durch das Kunstwerk sich selbst gezogene Grenze zu überschreiten, vielmehr um durch die Grösse der Naturwahrheit die ästhetische Wirkung zu erhöhen.12

Dem naturalistischen Dichter erschließen sich Themen, die einem traditionellen Kunstverständnis als tabuisiert oder nicht kunstfähig galten, da es, so AlbertiAlberti, Conrad, in der Natur „kein[en] Winkel, kein[en] Fleck, kein Geschöpf, kein[en] Vorgang […], der nicht der künstlerischenKunst, Künstler Verkörperung würdig und fähig werde“, gibt.13 Um den Menschen dem Ziel der HumanitätHumanität näher zu bringen, darf, ja, muss sich die Literatur also auch mit dem vermeintlich Würdelosen befassen. Menschenwürde rückt in die Nähe des Begriffs Menschlichkeit; die Aufmerksamkeit gilt insbesondere den Bedingungen der Möglichkeit von Menschlichkeit und Menschenwürde.