Literarische Dimensionen der Menschenwürde

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IV.3.2. Die Konstitution von Menschenwürde durch erzählerische Verfahren

Lenz’ Autonomieverlust lässt sich auch beschreiben als Verlust seiner kommunikativen, kreativen, kognitiven und expressiven Fähigkeiten. Nicht nur kann er seine Erlebnisse, Ängste und Wahrnehmungen zu keiner Zeit literarisch verarbeiten, vielmehr scheinen ihm bereits die dafür notwendigen sprachlichen Fähigkeiten zu entgleiten. Seine „Angst“ ist eine „namenlose“ (MA 138), „unnennbare“ (MA 139), „unbeschreibliche“ (MA 155), die sich auch nicht denkend erfassen und artikulieren lässt. Immer seltener spricht er „ganz vernünftigVernunft und […] ruhig“ (MA 157); er redet „meist nur in abgebrochenen Sätzen“ (MA 150), „mit ängstlicher Hast“ (MA 152), oder er „stockte […] oft“ (MA 155). Zwar sieht er sprachliche Zeichen („Hieroglyphen, Hieroglyphen“ [MA 154]), doch diese können nur von Eingeweihten gedeutet und verstanden werden – Lenz findet dafür keine adäquaten Ausdrücke. Und doch sind seine Eindrücke, Emotionen und Ängste für den Leser nachvollziehbar: durch den Erzähler, der den Rezipienten durch sein personales Erzählverhalten Lenz’ Empfindungen und Wahrnehmungen mitfühlen und -sehen lässt sowie auktorial Metaphern und Vergleiche hierfür findet. Als ‚zwischengeschaltete‘ Instanz sorgt er dafür, dass Lenz als das wahrgenommen wird, was er ist: ein empfindender Mensch.

Diese Verschränkung von personalen Beschreibungen von Lenz’ Befindlichkeiten und auktorialen Einschüben, die mit Bildern zur Sprache bringen, was Lenz selbstständig nicht formulieren kann, zeigt sich bereits zu Beginn des Textes: „Es war ihm alles so klein, so nahe, so naß, er hätte die Erde hinter den Ofen setzen mögen […]“ (MA 137). Im ersten Teil des Satzes wird durch personales Erzählverhalten („so“) die Subjektivität der Wahrnehmung, aber auch das Intim-Kreatürliche betont. Der zweite, auktoriale, bildhafte Teil expliziert das von Lenz empfundene Gefühl der Zärtlichkeit angesichts der erfahrenen Natur, das sich mit Hilflosigkeit, auch mit Ängstlichkeit mischt. Diese Angst, die für Lenz nur „namenlos[]“ (MA 138) und „sonderbar[]“ (MA 140) ist, wird vom Erzähler in Bilder gefasst. Wenn „der Wahnsinn auf Rossen hinter ihm [herjagt]“ (MA 138) oder „der Alp des Wahnsinns […] sich zu seinen Füßen [setzt]“ (MA 140), dann sind das einerseits starke Bilder für die sich innerfiktional entfaltende Psychose und Lenz’ totalen Autonomieverlust; andererseits, vom außerfiktionalen Standpunkt her betrachtet, bezeichnen diese Einschübe Lenz’ existenzielle Angst, den Schrecken und die Ohnmacht, die er empfindet. Dass Lenz so empfindet, genau das macht ihn zum Menschen. Lenz’ scheinbare WürdelosigkeitWürdelosigkeit wird erzählerisch überwunden, durch das Gestalten einer Erzählsituation, die aufgrund ihrer personalen Züge MitleidMitleid, Verständnis und „kreatürlicheKreatürlichkeit[] SolidaritätSolidarität“1 einfordert und durch auktoriale Einschübe der Differenziertheit der Empfindungen einen sichtbaren, bilderwuchtigen Ausdruck verleiht. Erst diese eindrucksvolle Differenziertheit verdeutlicht, dass es hier um die Empfindungen eines Menschen geht und nicht um die reflex- oder instinktartigen Empfindungen eines TieresTier, Vertierlichung, Theriomorphisierung. BüchnersBüchner, Georg Text ist somit der fiktionale Versuch, einem vermeintlich würdelosen Menschen seine Würde zurückzugeben.2 Die Figur Lenz wird als Mensch geschildert, durch eine Erzählhaltung, die Menschlichkeit einfordert; da Lenz eine ‚menschliche‘ Bewertung verdient, besitzt er Würde. Menschenwürde wird hier literarisch konstituiert.

IV.3.3. Die Menschenwürde und das Kunstgespräch

An einer zentralen Stelle des Textes gelingt es Lenz dann doch, sich relativ zusammenhängend zu äußern: im Kunstgespräch mit Kaufmann.1 Hier erhält der Begriff der Menschenwürde eine inhaltliche Konkretisierung. Die Aussagen zu KunstKunst, Künstler und Ästhetik sind weder dem historischen Lenz noch BüchnerBüchner, Georg selbst uneingeschränkt zuzuschreiben; gleichwohl sind die hier formulierten Gedanken und der postulierte „humanitäre[] Gehalt“2 der Kunst gerade für die Frage nach der Menschenwürde zentral. Zwei Aspekte dominieren: die Idealismuskritik und das „moralische[] Gebot zur Menschenliebe, zum MitleidMitleid“.3 „Dieser Idealismus ist die schmählichste Verachtung der menschlichen Natur“, urteilt die literarische Künstlerfigur Lenz (MA 144). Lenz denunziert die klassisch-idealistische Kunstauffassung SchillersSchiller, Friedrich4 und die mit ihr verknüpfte Sicht auf den Menschen – und seine Würde. Das Kunstgespräch kennzeichnet das dualistische idealistische Menschenbild und die idealistische Würdeauffassung als fragwürdig, da sie die zu überwindende ‚tierische Natur‘ des Menschen von vorneherein delegitimieren. Im Gegensatz dazu erfährt nun das vermeintlich ‚Niedrige‘, Abweichende, Nicht-Normale eine – moralische wie ästhetische – Apologie.5 Büchners, oder besser, der dem Text zugrundeliegende Menschenwürdebegriff ist wesentlich anders, er umfasst eben auch das, was der idealistische ausschließt. „Man muß die Menschheit lieben, um in das eigentümliche Wesen jedes einzudringen, es darf einem keiner zu gering, keiner zu häßlich sein, erst dann kann man sie verstehen […]“, so Büchners Lenz (MA 145; m. H.). Das Kompositum „Menschheit“ bezeichnet hier – wie bereits im oben analysierten Drama KotzebuesKotzebue, August von – das, was den Menschen ausmacht, sein Wesen, seine Natur.6 Das Gebot („muß“) der Liebe, auch des Respekts und der AchtungAchtung, gilt also dem ‚Menschsein‘ an sich, ohne weitere Bedingungen. Würde (und das heißt hier: das Recht auf Liebe, Respekt, Achtung) kommt dem Menschen als solchem zu. Jeder Mensch verdient als Mensch Achtung und Verständnis7 („verstehen“). Diese Würdeauffassung ist eine moderne: Menschenwürde als jedem einzelnen Menschen angeborene, inhärente, unantastbare Qualität. Im Text wird dies weiter präzisiert. Zunächst ist Lenz’ ästhetische Auffassung streng egalitär: Alle, selbst „die prosaischsten Menschen unter der Sonne“ (MA 144), sind sowohl kunstfähig als auch in ihrer Würde zu achten, denn: „[D]ie Gefühlsader ist in fast allen Menschen gleich“ (MA 144). Eine zutiefst menschliche Emotionalität, EmpathieEmpathie- und Mitleidfähigkeit werden zum Signum der Menschenwürde. Wie im Hessischen Landboten bildet die prinzipielle Gleichheit aller Menschen die ideologische Grundlage für die vertretene Würde- (und hier nun auch Kunst-)Auffassung. Der Verweis auf die niederländischen Maler, den Schings folgendermaßen deutet, unterstreicht dies:

Die Verteidigung der niederländischen Maler ist ein Rechtfertigungs-Topos, der die Ausbildung und theoretische Begründung einer realistischen Schreibweise zu begleiten pflegt. […] Demnach gehört BüchnerBüchner, Georg zu den Anhängern einer Argumentationsform, die Demetz [in seiner Studie Defenses of Dutch Painting and the Theory of Realism; MG] die antihierarchisch-ontologische nennt. Man verteidigt die Niederländer, weil man auf der eigenen Würde auch des Niedrigen und Vergessenen besteht.8

Hier ist mehr gemeint als eine lediglich expressive Würde, eine würdevolle, edle Haltung; hier wird die inhärente Würde jedes Menschen behauptet und verteidigt. Das Kunstgespräch postuliert somit eine Ästhetik, eine Poetik der Menschenwürde.

Theo Buck beschreibt BüchnersBüchner, Georg Ästhetik als sozial engagierten, „ethischen“ Realismus.9 Wenn Lenz ausruft: „Ich verlange in allem Leben, Möglichkeit des Daseins, und dann ist’s gut“ (MA 144), artikuliere er „den Anspruch auf ein anderes, besseres Leben […], – auf eine überhaupt menschenwürdige Möglichkeit des Daseins“.10 Die zunächst anthropologische und ästhetische Argumentation wird sozialethisch zugespitzt: In Büchners visionärem Ideal einer GesellschaftGesellschaft wird einem jeden die „Möglichkeit des Daseins“ in Würde gegeben. Das, was im Lenz die Würde des Protagonisten gefährdet, ist das fragwürdige, der aufklärerisch-klassischen Tradition entlehnte bürgerliche Menschenbild mit seinen sozialen Konsequenzen.

IV.4. „Bin ich ein Mensch?“ – Grenzprobleme im Woyzeck (1836/37)

Maries Ausspruch „Bin ich ein Mensch?“ ist die Kernfrage des Dramas. Als sie diese Frage in der Textfassung H4,4 (MA 222) stellt, ist sie kein Versuch der Selbstvergewisserung oder der Selbstreflexion – dazu sind die Figuren in BüchnersBüchner, Georg Fragment nicht mehr fähig –, sondern eine rhetorische Frage, eine ärgerliche Reaktion auf Woyzecks (berechtigte) Eifersucht. Gleichwohl hat sie leitmotivische Qualität1 und variiert zudem ironisierend sowohl ein Bibelwort (Ps 8,5) als auch eines der philosophischen Grundprobleme KantsKant, Immanuel, nämlich die Frage: „Was ist der Mensch?“2 Büchner ist allerdings keineswegs an einer anthropologisch-idealistischen Antwort interessiert, sondern behandelt die Frage in einem dezidiert gesellschaftlich akzentuierten Kontext. Nicht der Mensch an sich, sondern das IndividuumIndividuum und seine Gefährdung durch bestimmte soziale Realitäten und Konstellationen stehen im Fokus. Bezeichnend ist auch das Genus des Substantivs „Mensch“ in Maries Frage, das wohl als Neutrum zu deuten ist.3 Zwar ist dies ein durchaus geläufiger, pejorativer Ausdruck für eine Dirne, eine Hure – genau darum geht es ja in der Eifersuchtsszene zwischen Woyzeck und Marie –; gleichwohl lässt sich die Passage aus außerfiktionaler Sicht als Hinweis auf ein zentrales Thema des Dramas deuten: die ‚Versächlichung‘, die VerdinglichungObjekt, Objektifizierung, Ding, Verdinglichung, Dinghaftigkeit des Menschen.

Woyzeck ist ein in seiner Würde zutiefst verletztes, animalisiertes, zum bloßen Menschenmaterial reduziertes Wesen. Ausgehend von der Jahrmarktszene wird im Folgenden gezeigt, wie die Grenze zwischen Mensch und TierTier, Vertierlichung, Theriomorphisierung problematisiert und wie Woyzeck im Menschenversuch nicht nur zum Tier, sondern zum bloßen ObjektObjekt, Objektifizierung, Ding, Verdinglichung, Dinghaftigkeit degradiert wird. Gleichzeitig wird deutlich, wie im Text bestimmte Vokabeln anzeigen, dass die herrschenden Klassen den aufklärerisch-idealistischen Menschenwürdebegriff hochhalten, aber vollkommen pervertieren.

 

IV.4.1. Das vermenschte TierTier, Vertierlichung, Theriomorphisierung, der vertierte Mensch: die Jahrmarktszene

Für den jungen BüchnerBüchner, Georg war die Grenze zwischen Mensch und TierTier, Vertierlichung, Theriomorphisierung klar definiert; Menschenwürde zu besitzen bedeutete, kein Tier zu sein. Eine ähnlich deutliche Abgrenzung begegnete ihm in der dualistischen Philosophie DescartesDescartes, René’ (Mensch vs. Tier, Seele vs. Leib), mit der er sich als junger Universitätsdozent in Exzerpten für eine geplante Vorlesung auseinandersetzte. Die Jahrmarktszene stellt diese Perspektive entschieden in Frage.1 Diese Szene bzw. Szenenfolge hat expositorischen Charakter;2 die Worte des Ausrufers sind programmatisch für die ständige Unsicherheit in Bezug auf den Status der im Drama vorgestellten Figuren. Er kündigt nicht nur lautstark seine Vorstellung an, sondern formuliert auch grundsätzliche Gedanken über das Verhältnis von Mensch und Tier. Die „KunstKunst, Künstler“ (H1,1; MA 199) und die „Erziehung“ (H2,3; MA 211) nähern die von GottGott geschaffene, aber nicht mit menschlichen Fähigkeiten ausgestattete „Kreatur“ (H1,1; MA 199) dem Menschen an. Der vorgeführte Affe kann nicht nur menschliches Verhalten nachahmen (aufrechter Gang, Gruß, Kuss, Weissagen, Abfeuern einer Pistole, Musikalität), sondern adaptiert auch äußerliche Merkmale des Menschen („Rock und Hosen“, „Säbel“ [H1,1; MA 199]). Die außerfiktionale Funktion dieser Grenzverwischung ist es, zu verdeutlichen, wie durch Dressur, also eine Form der DeterminationDetermination, das Tier quasi zum Menschen werden kann; umgekehrt werden Menschen (Woyzeck, Marie) durch soziale Determination quasi zu Tieren – dem vermenschten Tier entspricht im Drama der vertierte Mensch. Der aufklärerische Grundgedanke der PerfektibilitätPerfektibilität, Vervollkommnung – des einzelnen Menschen, aber auch der Gattung – wird hier auf das Tier übertragen. Im Grenzbereich ist der Übergang scheinbar fließend, hier treffen sich Mensch und Tier auf einer Stufe: „Der Aff’ ist schon ei Soldat, s’ ist noch nit viel, unterst Stuf von menschliche Geschlecht!“ (H2,3; MA 211). Zwei Gedanken sind hier enthalten, der kontinuierliche Übergang vom Tier zum Menschen3 und die wie natürlich erscheinende Hierarchie innerhalb der menschlichen GesellschaftGesellschaft. Damit werden Menschenwürdevorstellungen, die das Zuschreiben von Würde an metaphysische Kategorien knüpfen (Seele, VernunftVernunft, Denkfähigkeit) in Zweifel gezogen, indem ihr großes Problem, nämlich jenes der Grenzziehung, offengelegt wird. Das gilt zum einen für die hier mit satirisch-groteskem 4 Einschlag verhandelte Unterscheidung von Mensch und dressiertem Tier, weist zum anderen aber bereits voraus auf moderne Diskussionen um die Menschenwürde am Anfang und am Ende des menschlichen Lebens. Prägnant formuliert der Ausrufer dieses Problem in oxymorischen Kollokationen: „Alles Erziehung, haben eine viehische Vernunft, oder vielmehr eine ganze vernünftige Viehigkeit, ist kei viehdummes IndividuumIndividuum wie viel Person […]“ (H2,3; MA 211). Im „Innere[n] der Bude“ (H1,2; MA 199) treibt Büchner diesen Gedanken auf die Spitze.5 Das dressierte Pferd wird, obwohl seine tierhaften Züge hervorgehoben werden („Schwanz am Leib, auf sei 4 Hufe“ [H1,2; MA 199]), als ein die menschliche Gesellschaft beschämendes Wesen gepriesen, das nicht nur über eine „viehische Vernünftigkeit“ verfügt, sondern aufgrund seiner Fähigkeit, den „Verstand“ einzusetzen, geradezu als Gelehrter zu betrachten sei (H1,2; MA 199): „Ja das ist kei viehdummes Individuum, das ist ei Person! Ei Mensch, ei tierische Mensch und doch ei Vieh, ei bête […]“ (H1,2; MA 199). Das bestätigt zwar gewissermaßen die intuitive Gültigkeit der Orientierungskategorien Mensch und Tier („und doch“), benennt das Tier aber im Gegenzug mit zwei Begriffen, die die Differenz wieder nivellieren: Auch das Pferd ist ein „Individuum“,6 eine „Person“. Mithin müsste dem Pferd also Würde zugesprochen werden, wenn man an den Begriff der Person bei KantKant, Immanuel denkt!7 Selbst die animalische Triebhaftigkeit ist kein Gegenargument, sondern wird verklärt, als das Pferd sich „ungebührlich“ aufführt und offenbar uriniert: „Sehn Sie das Vieh ist noch Natur unverdorbe Natur!“ (H1,2; MA 199). So wird erstens der Mensch zu einem Tier unter anderen Tieren,8 ist also nicht mehr die unangefochtene ‚Krone der SchöpfungKrone (der Schöpfung)‘.9 Gleichzeitig kommt es zweitens zu einer „philosophischen Rechtfertigung des Tierischen im Menschen“:

Die Verdrängung und Unterdrückung des Tierischen im Menschen, die die Komik der zweiten Budenszene einklagt, reproduziert sich in der Behandlung der TiereTier, Vertierlichung, Theriomorphisierung, in ihrer lächerlichen Dressur zur Menschenebenbildlichkeit in der ersten Budenszene. Der Mensch entlastet sich von seiner eigenen Unterdrückung, indem er das Tier unterjochend sich gleichmacht.10

Der Akzeptanz der Triebhaftigkeit des vermenschlichten TieresTier, Vertierlichung, Theriomorphisierung entspricht in negativer Spiegelung das Verdammen der Triebnatur des vertierten Menschen Woyzeck durch den Doktor. Das (pseudo)philosophische Programm des Ausrufers stellt demnach die Frage nach dem Wesen des Menschen; gleichzeitig verlieren jene vermeintlich klaren Kategorien, an die die Zuschreibung von Würde in aufklärerischen und idealistischen Entwürfen geknüpft wird, jede systematische Gültigkeit.

Allerdings nennt der Ausrufer ein Distinktionsmerkmal, das das TierTier, Vertierlichung, Theriomorphisierung dann doch vom Menschen trennt und das bereits DescartesDescartes, René und HerderHerder, Johann Gottfried11 postulierten: die Sprachfähigkeit. „Kann sich nur nit ausdrücke, nur nit expliziern, ist ein verwandlter Mensch!“ (H1,2; MA 199).12 Doch auch diese Kategorie wird im Stück hochproblematisch: Dass das einfache Volk, allen voran Woyzeck, eine dialektal gefärbte, von emotionalen Ausbrüchen geprägte Sprache spricht, kennzeichnet diese keinesfalls schlicht als „natürlich“ oder „naturalistisch“; vielmehr äußert sich darin die „Bewußtseinsverfassung der Ausgebeuteten und Unterdrückten“.13 In der Logik der Jahrmarktszenen ist die Sprache Spiegel der Vertierlichung des Menschen.

Was in den Budenszenen noch als eher (pseudo)philosophisches Programm mit deutlich komischem Einschlag erscheint, wird im weiteren Verlauf als reales Resultat sozialer DeterminationDetermination und Ausbeutung aufgedeckt. Die „Thematik von der inneren Vertiertheit des Menschen [erweitert sich] zur Erniedrigtheit des Menschen zum TierTier, Vertierlichung, Theriomorphisierung durch den Mitmenschen“14 – und nähert sich somit der Funktion der Theriomorphisierung im Landboten an. Was der Mensch ist, ob, wann und warum er Würde besitzt und worin diese besteht, ist an diesem Punkt äußerst fraglich.

Auf den Mensch-TierTier, Vertierlichung, Theriomorphisierung-Diskurs, der in der Jahrmarktszene programmatisch eröffnet wird, rekurriert das Stück immer wieder.15 So vergleicht etwa Marie den Tambourmajor mit einem Löwen (H4,2; MA 220 und H4,6; MA 224), dieser apostrophiert die offenbar sexuellSexualität, Sex erregte Marie als „[w]ild Tier“ (H4,6; MA 225); der jüdische Händler nennt Woyzeck einen „Hund“ (H4,15; MA 231), und dieser will schließlich nicht Marie, sondern das Tierisch-Triebhafte in ihr, die „Zickwolfin“ (H4,12; MA 229) töten.16 Das Tierische ist – zumindest in diesem sozialen Milieu – allgegenwärtig. Nun führt das Stück vor, wie in einem konkreten Fall ein Mensch (Woyzeck) zum Tier (und weiter!) degradiert wird; ganz intuitiv begreift man sein Schicksal als MenschenwürdeverletzungMenschenwürdeverletzung. Dieses intuitive Verständnis sowohl der Verletzung der Würde als auch der Würde selbst inszeniert BüchnersBüchner, Georg Drama eindrücklich. Die Analyse des Falls Woyzeck zeigt, wie man den Menschenwürdebegriff des Textes ex negativo inhaltlich präzisieren kann.17

IV.4.2. Der Menschenversuch und seine innerfiktionale Rechtfertigung

„[W]as […] über allen Preis erhaben ist, mithin kein Äquivalent verstattet, das hat eine Würde.“1 Würde zu haben, bedeutet also nach KantKant, Immanuel, keinen Preis zu haben. Das menschliche Leben und der menschliche KörperKörper haben in BüchnersBüchner, Georg Drama jedoch einen Preis, und zwar in zweierlei Hinsicht. In der Messerkaufszene zahlt Woyzeck zum einen zwei Groschen für das Messer, mit dem er Marie töten wird, weil die Pistole zu teuer ist; hier ist nicht nur das Leben, sondern sogar der Tod Thema „ökonomische[r]“ (H4,15; MA 231) Überlegungen.2 Zum anderen sind jene zwei Groschen genau der Betrag, den Woyzeck dafür erhält, dass er sich, seinen Körper und letztlich sein Leben für Humanexperimente3 zur Verfügung stellt. Die Verfügung über den eigenen Körper gibt er – vertraglich geregelt (vgl. H4,8; MA 226) – ab, gezwungen durch seine große Armut,4 die Überlegungen über die Freiwilligkeit dieser Handlung wie Hohn erscheinen lässt. Woyzeck ist doppelt fremdbestimmt: durch das Tierhafte in ihm und durch das Experiment, das ganz offensichtlich seine leibseelische Integrität zerstört.

Innerfiktional rechtfertigen gleich drei philosophische Phrasendrescher – der Hauptmann, der Doktor und der Professor – den Menschenversuch auf perfideste Art und Weise.5 Die ersten beiden spielen sogar direkt auf Menschenwürdevorstellungen an, indem sie dem vom Ausrufer entworfenen Menschenbild ein idealistisches entgegenstellen. Der Hauptmann spricht, bezeichnenderweise „mit Würde“ (!) (H4,5; MA 223), über MoralMoral, Moralität. Er wirft Woyzeck vor, ein Kind „ohne den Segen d. Kirche“ (H4,5; MA 223) und somit „keine Moral“ zu haben; dieser antwortet mit einem doppelten Einwand. Erst versucht er, seine Vorstellung eines mitleidigen, allliebenden GottesGott zu formulieren, der seine Zuwendung nicht von Äußerlichkeiten abhängig macht. Dann bemerkt er, dass für die „arme Leut“ (H4,5; MA 224) „Moral“ und „TugendTugend“ leere Begriffe darstellen, da sie nur in Verhältnissen materieller Sicherheit denkbar und möglich sind. Die Armen aber sind auf ihre KreatürlichkeitKreatürlichkeit, ihre Triebhaftigkeit, ihr „Fleisch und Blut“ zurückgeworfen (H4,5; MA 224); „Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral“, wie es bei BrechtBrecht, Bertolt heißt.6 „[E]s kommt einem nur so die Natur“, klagt Woyzeck. Doch der Hauptmann lässt dies nicht gelten, kein Wort mehr vom Lob der „unverdorbe Natur“. Er insistiert vielmehr: „Ich hab auch Fleisch und Blut. Aber Woyzeck, die Tugend, die Tugend!“ (H4,5; MA 224). Tugend und Moral als Überwindung der Natur und der Notwendigkeit der Bedürfnisse – der Hauptmann greift hier ein von der Stoa bis zur Klassik topisches Begründungsmuster der Menschenwürde auf. Ganz ähnlich philosophiert der Doktor. Als er Woyzeck schilt, der „wie ein Hund“ „an die Wand gepißt“ hat, und dieser sich wieder verteidigt: „Aber Herr Doktor, wenn einem die Natur so kommt“ (H4,8; MA 225), entwirft er ein Bild des Menschen, das naturwissenschaftliche und idealistische Elemente verbindet:

DOKTOR. DIE Natur kommt, die Natur kommt! Die Natur! Hab’ ich nicht nachgewiesen, daß der musculus constrictor vesicae dem Willen unterworfen ist? Die Natur! Woyzeck, der Mensch ist frei, in dem Menschen verklärt sich die IndividualitätIndividualität zur FreiheitFreiheit. Den Harn nicht halten können! (H4,8; MA 225)

Der freie WilleWille, freier Wille als Ausdruck der FreiheitFreiheit des autonomenAutonomie IndividuumsIndividuum, als Voraussetzung von MoralMoral, Moralität und als Grund der Menschenwürde – das ist die Philosophie KantsKant, Immanuel,7 aber auch die Basis des Würdebegriffs SchillersSchiller, Friedrich: „Schon der bloße Wille erhebt den Menschen über die Thierheit; der moralische erhebt ihn zur Gottheit“ (NA 20, 290). Der Doktor definiert Woyzeck jedoch keineswegs als in seiner Würde zu achtendes und von der Medizin zu therapierendes Wesen. Vielmehr weiß er genau, dass der Proband Woyzeck kurz vor dem Kollaps steht, reagiert sogar mit zynischer Begeisterung darauf, dass er psychische Aussetzer zeigt und trotzdem noch ‚funktioniert‘ (H4,8; MA 226). Hier ist die medizinische Forschung bewusst pathogen, denn sie legt es darauf an, den KörperKörper (und letztlich auch die Psyche) Woyzecks zu manipulieren und die krankhaften Symptome zu beobachten.8 Dabei wird der Körper des Probanden instrumentalisiert, denn die Forschung ist keineswegs Selbstzweck: Ziel ist es, eine möglichst kostengünstige Ernährung für die Armee zu finden.9 Medizinische Forschung ist also ein Herrschaftsinstrument; die Soldaten sollen zu (gerade noch) funktionierenden, möglichst rationell unterhaltenen MaschinenMaschine werden. Wieder ist das Leben des einzelnen Menschen ObjektObjekt, Objektifizierung, Ding, Verdinglichung, Dinghaftigkeit ökonomischer Überlegungen; es hat einen Preis, und dieser soll möglichst gering sein. Die Menschenwürde des Probanden Woyzeck und der Soldaten ist der Staatsökonomie untergeordnet.

 

Nicht primär das IndividuumIndividuum Woyzeck und seine Psyche zählen, sondern die Daten, die sein KörperKörper auf physiologisch-kreatürlicherKreatürlichkeit Ebene liefert. Nicolas Pethes beschreibt das ‚doppelte Menschenbild‘ des Doktors als Diskrepanz zwischen der tierischen Natur des Menschen und dem an ihn herangetragenen ethischen Anspruch; Experimente könnten also nur an Menschen durchgeführt werden, die diesem Anspruch nicht genügten.10 Insofern sich Woyzeck, gemessen am Menschenwürdebegriff des Doktors, als würdelosWürdelosigkeit erweist, rechtfertigt sein Verhalten seine Benutzung als Versuchsobjekt – freilich erst a posteriori, da seine vermeintliche Würdelosigkeit mindestens zum Teil auf den Folgen des Versuchs selbst beruht. Da Woyzeck nicht mehr als Mensch angesehen wird, kann er bedenkenlos wie ein TierTier, Vertierlichung, Theriomorphisierung ausgenutzt werden.11

Die EntwürdigungEntwürdigung Woyzecks erfolgt stufenweise. Er wird dem TierTier, Vertierlichung, Theriomorphisierung gleichgesetzt, sein KörperKörper wird partialisiertPartialisierung, indem nur bestimmte Körperfunktionen beobachtet werden, und schließlich verdinglichtObjekt, Objektifizierung, Ding, Verdinglichung, Dinghaftigkeit, weil letztlich nur die statistischen Daten von Interesse sind.12 Das Leben Woyzecks besitzt für den Doktor keinen intrinsischen Wert.13 Das rein auf physiologische Daten gerichtete Erkenntnisinteresse ist ein Zweck, dem Woyzeck als Mittel geopfert wird. In diesem Sinn ist Woyzeck ein „guter Mensch“, wie der Hauptmann sagt (H 4,5; MA 224) – nicht in einem ethischen Sinne, sondern im Hinblick auf seine Nützlichkeit für Vorgesetzte, Militär und Staat, die ihn ‚bis auf den letzten Tropfen‘ ausnutzen.14