Literarische Dimensionen der Menschenwürde

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IV.2. Die verletzte Menschenwürde – Der Hessische Landbote (1834)

Der Hessische Landbote1 will im Gegensatz zu den Autonomiebestrebungen der Weimarer Klassik direkt und engagiert politische sowie gesellschaftliche Missstände entlarven und bekämpfen. Der Text verfolgt eine „persuasive Strategie“,2 die den Rezipienten emotional ansprechen und bei ihm die Empörung, die für BüchnerBüchner, Georg und Mitverfasser Weidig gleichsam die Triebfeder des Schreibens ist, hervorrufen soll.3 Als wichtigsten Bezugsrahmen hat die Forschung neben dem statistischen Material über das Großherzogtum Hessen vielfach die Bibel mit ihren affektiven, den Bauern (als eigentlichen Adressaten der Flugschrift) vertrauten Formeln und Bildern ausgemacht. Mit Blick auf die vielen Bezüge zum Würdediskurs lässt sich die eigentliche Funktion der Bibelreferenzen genauer bestimmen als ‚Köder‘, als Wortmaterial, in das Büchner seinen Würdebegriff verpackt.

Gleich zweimal nennt der Text explizit die Vokabel „Würde“. Zunächst berichtet der Exkurs über die Französische Revolution, dass „die Franzosen die erbliche Königswürde [abgeschafft haben]“ (MA 52); kurz darauf heißt es über den Großherzog: „Seine Würde ist erblich in seiner Familie“ (MA 56). Nicht zu überhören ist hier der Spott BüchnersBüchner, Georg: Die Würde, um die es hier geht, ist eigentlich keine, sie ist „erblich“, also kontingent. Die besondere Würde der herrschenden Schichten, die ihre herausgehobene gesellschaftliche Stellung begründet, beruht ausschließlich auf ihrer Abstammung und nicht einmal auf persönlichen Verdiensten; sie ist vollkommen unverdient. Umso schwerer wiegt deshalb, dass am anderen Ende der sozialen Leiter der vollkommen entwürdigteEntwürdigung, in seiner Würde nicht geachtete Bauer steht. Büchner nutzt diese Diskrepanz rhetorisch, indem er erstens die Entwürdigung des einfachen Volkes drastisch veranschaulicht, zweitens die kontingente Würde der Herrschenden rhetorisch-ästhetisch destruiert und drittens eine Menschenwürdevorstellung entwickelt, die auf Gleichheit und der FreiheitFreiheit des Einzelnen basiert.

IV.2.1. Die Rhetorik der EntwürdigungEntwürdigung

Inhaltlich umkreist der Hessische Landbote die Würde des Menschen, ihre Bedrohung, VerletzungMenschenwürdeverletzung und Behauptung. Sprachlich benutzen die Autoren die Bibelreferenzen als rhetorisches Vehikel, als Verpackung des eigentlich naturrechtlichen Würdebegriffs. Eine politische, philosophische oder juristische Argumentation hat der Bürgersohn BüchnerBüchner, Georg den einfachen Bauern offenbar nicht zugetraut.

Dies zeigt sich bereits am Anfang des Textes; hier wird mit Pathos auf die SchöpfungsgeschichteSchöpfung verwiesen. Im Hessen des Jahres 1834 wird „die Bibel Lügen gestraft“. Nicht der Mensch als solcher erscheint als die ‚Krone der SchöpfungKrone (der Schöpfung)‘, sondern nur die „Fürsten und Vornehmen“; die Handwerker und Bauern hingegen, wie das „Getier“ und das „Gewürm“ am fünften Tag erschaffen, werden von jenen beherrscht (MA 40). Die dem Schöpfungsbericht entlehnte Vorstellung der GottebenbildlichkeitGottebenbildlichkeit des Menschen als Grund seiner Würde – dem einfachen Volk ohne Zweifel geläufig – scheint für die unteren Schichten nicht zu gelten. Der vermeintlich herausgehobene menschliche Status wird den Bauern durch zahlreiche eindringliche Bilder abgesprochen: Sie werden metaphorisch zu Tieren, zu bedauernswerten Kreaturen degradiert. Die Bauern werden „mit den Ochsen am Pflug [getrieben]“ (MA 40) und „zu Ackergäulen und Pflugstieren gemacht“ (MA 42). Verantwortlich für diese EntwürdigungEntwürdigung sind der Großherzog und die Beamten: „Das Volk ist ihre Herde, sie sind seine Hirten, Melker und Schinder“ (ebd.).1 Als vertierte Subjekte sind die Bauern der physischen GewaltGewalt der Regierung ausgesetzt: Man „schinde[t]“ sie (MA 44), „[]züchtigt“ (MA 50) sie mit der „Zuchtrute“ (MA 54), mutet ihnen „Armut und Erniedrigung“ zu (MA 44).

Die Sprache der KreatürlichkeitKreatürlichkeit verdeutlicht das Ausmaß von EntwürdigungEntwürdigung, Erniedrigung und GewaltGewalt. Der Text nennt Körperflüssigkeiten, die als Folge von Angst, Trauer und VerletzungMenschenwürdeverletzung auftreten.2 Verben, die sich auf schwere körperlicheKörper Arbeit, Ausbeutung, Unterdrückung und Gebrechen beziehen,3 zeigen an, wie die Bauern bis an den Rand der physischen und psychischen Erschöpfung ausgenutzt werden. Schließlich werden Körperteile erwähnt, um zu suggerieren, dass die Regierung in die Privatsphäre des Einzelnen eindringt und ihm die Verfügung über den eigenen Leib entzieht.4 Die körperliche Integrität der Bauern wird in diesen ‚Gleichnissen‘ radikal bedroht; ihre Existenz ist bestimmt von Angst, Terror und Leid. Dieses Schreckensbild wird an einer markanten Stelle durch eine Metaphorik des EkelhaftenEkel, Ekelhafte noch gesteigert: Von den „Herren“ heißt es, dass sie ihre mit dem Brot der Bauern gesättigten „Bäuche[]“ mit „schönen Kleidern“ bedecken, „die in ihrem [i.e. der Weiber und Kinder; MG] Schweiß gefärbt“ wurden, dass sie sich mit „zierlichen Bändern“ schmücken, „die aus den Schwielen ihrer Hände geschnitten sind“, dass sie in „stattlichen Häusern“ wohnen, „die aus den Knochen des Volks gebaut“ wurden, dass sie schließlich „Lampen“ benutzen, „aus denen man mit dem Fett der Bauern illuminiert“ (MA 50). Die Bauern sind bloße ObjekteObjekt, Objektifizierung, Ding, Verdinglichung, Dinghaftigkeit, Menschenmaterial, das von den „Herren“ restlos und zum eigenen Profit verwertet wird. Sie werden zu bloßen Mitteln zum Zweck herabgewürdigt. Darauf laufen auch die vielen statistischen Daten letztlich hinaus: Das Volk wird als Mittel, den Staat – genauer: die Regierung – zu unterhalten, missbraucht.5 Da es nicht einmal über den eigenen Leib verfügen kann, ist es „willenlos“ (MA 64) der „Willkür“ (MA 62) der Regierung unterworfen. Der Staat ist auf der Missachtung der Würde seiner Untertanen aufgebaut.

Der Text will nun insinuieren, dass die Bauern an diesem unhaltbaren Zustand eine Mitschuld tragen, da sie die kontingente Würde der Herrschenden allzu kritiklos akzeptieren.6 Der revolutionäre Aufruf zur Gegenwehr wird daher rhetorisch unterstützt durch die Delegitimierung der kontingenten Würde:7 Da die Tiermetaphorik, die Metaphorik des EkelhaftenEkel, Ekelhafte und die Sprache der KreatürlichkeitKreatürlichkeit auch auf den Großherzog und sein Gefolge bezogen werden, nur in einem deutlich schärferen, anklagenderen Ton, entsteht wieder eine Gleichheit zwischen den entwürdigtenEntwürdigung Bauern und der Regierung; dem gesamten Herrscherapparat wird ebenfalls – allein durch die sprachliche Präsentation – die Würde abgesprochen:

Der Fürst ist der Kopf des Blutigels, der über euch hinkriecht, die Minister sind seine Zähne und die Beamten sein Schwanz. Die hungrigen Mägen aller vornehmen Herren […] sind Schröpfköpfe, die er dem Lande setzt. Das L. was unter seinen Verordnungen steht, ist das Malzeichen des TieresTier, Vertierlichung, Theriomorphisierung, das die Götzendiener unserer Zeit anbeten. Der Fürstenmantel ist der Teppich, auf dem sich die Herren und Damen vom Adel und Hofe in ihrer Geilheit übereinander wälzen – mit Orden und Bändern decken sie ihre Geschwüre und mit kostbaren Gewändern bekleiden sie ihre aussätzigen Leiber. Die Töchter des Volks sind ihre Mägde und Huren, die Söhne des Volks ihre Lakaien und Soldaten. (MA 50)8

An einer zentralen Stelle prallen zwei unterschiedliche Definitionen des Menschen aufeinander:

Im Namen des Großherzogs sagen sie [i.e. die großherzoglichen Diener; MG], und der Mensch, den sie so nennen, heißt: unverletzlich, heilig, souverän, königliche Hoheit. Aber tretet zu dem Menschenkinde und blickt durch seinen Fürstenmantel. Es ißt, wenn es hungert, und schläft wenn sein Auge dunkel wird. Sehet, es kroch so nackt und weich in die Welt, wie ihr und wird so hart und steif hinausgetragen, wie ihr, und doch hat es seinen Fuß auf {eurem} Nacken […]. (MA 48; m. H.)

Hier wird paradigmatisch zwischen einer kontingenten, sozialen Würde einerseits und einer Würde, die in religiös gefärbte Sprache gekleidet („Sehet“, „Menschenkinde“), letztlich aber naturrechtlich begründet ist, andererseits differenziert. Letztere ist jedem Menschen eigen. Die dahinterstehende (politische) Aussage ist folgende: Alle Menschen sind prinzipiell gleich; Ausbeutung, GewaltGewalt, Unterdrückung und HerabwürdigungEntwürdigung beruhen auf künstlich hergestellten Hierarchien und verstoßen (in der suggerierten biblischen Deutung) gegen GottesGott Willen.

IV.2.2. Die naturrechtlich begründete Menschenwürde

Heinz Müller-Dietz sieht das Hauptanliegen des Büchnerschen Gesamtwerkes in der Rettung und der Restitution der Menschenwürde und der MenschenrechteMenschenrechte aus naturrechtlicher Sicht.1 Der Hessische Landbote beziehe „um der Menschenrechte und -würde des ausgebeuteten und unterdrückten Volkes willen unmißverständlich gegen die herrschende Rechts- und Gesellschaftsordnung Stellung“2 und rufe zum Umsturz auf. Dieser Befund lässt sich präzisieren: Der naturrechtlich geprägte Menschenwürdebegriff wird im Text ex negativo entwickelt, durch den Nachweis, dass die naturrechtliche Idee eines die gleiche Würde aller Menschen garantierenden und respektierenden Staates in der Realität vollkommen pervertiert ist. Diesen Gedanken kleidet BüchnerBüchner, Georg in das Bild- und Sprachmaterial der Bibel: „GottGott [schuf] alle Menschen frei und gleich in ihren Rechten“ (MA 58), heißt es in der zweiten Hälfte des Textes.3 Doch die politisch-soziale Wirklichkeit sieht anders aus: „Ihr seid nichts, ihr habt nichts! Ihr seid rechtlos“ (MA 62). Solche auf das Provozieren von Empörung und Wut abzielenden Oppositionen werden häufiger verwendet: „Ihnen gebt ihr 6,000,000 fl. Abgaben; sie haben dafür die Mühe, euch zu regieren; d.h. sich von euch füttern zu lassen und euch eure Menschen- und Bürgerrechte zu rauben“ (MA 42 und 44; m. H.). Von gegenseitiger VerantwortungVerantwortung und Pflichterfüllung, wie sie in der rationalistischen Naturrechtlehre Pufendorfs aus der dem Menschenwürdebegriff zugeordneten socialitas folgen,4 kann also nicht die Rede sein. Insofern verhalten sich die Herrschenden, die die Würde ihrer Untergebenen nicht achten, selbst menschenunwürdig. Im kurzen staatstheoretischen Exkurs skizziert Büchner ein Ideal, das nur kurz darauf ironisch gebrochen wird: „Was ist denn nun das für ein gewaltiges Ding: der Staat? […] Der Staat also sind Alle; die Ordner im Staate sind die Gesetze, durch welche das Wohl Aller gesichert wird, und die aus dem Wohl Aller hervorgehen sollen“ (MA 42; Herv. i.O.).5 Die Bauern zahlen zwar horrende Steuern, um die Ordnung des Staates aufrecht zu erhalten, doch: „In Ordnung leben heißt hungern und geschunden werden“ (MA 42), die Gesetze garantieren also keineswegs die Sicherung unveräußerlicher Menschenrechte und ein menschenwürdiges Leben. Die deutschen Fürsten werden als gewalttätige, gar illegitime Obrigkeit gebrandmarkt: „Sie zertreten das Land und zerschlagen die Person des Elenden“ (MA 52). Dies ist sowohl ein Bibelzitat6 als auch ein Verweis auf den für den Menschenwürdediskurs einschlägigen Begriff der „Person“.7 Er beruht auf der AutonomieAutonomie des Vernunftmenschen; dass er hier im Kontext der politischen Partizipation durch Wahlen benutzt wird, entlarvt die Beeinträchtigung sowohl der SelbstbestimmungSelbstbestimmung des Einzelnen als auch seines Rechtes auf freie Meinungsäußerung durch politische Mitbestimmung als ein Mittel der Herrschaft und der Unterdrückung. FreiheitFreiheit wird präzisiert als Selbstbestimmung,8 als Recht auf freie Entscheidungen. Dies muss gegeben sein, um der Würde des Menschen Rechnung zu tragen.

 

IV.2.3. Menschenwürde und MenschenrechteMenschenrechte

Spätestens seit Mitte des 20. Jahrhunderts, in Ansätzen jedoch bereits im Zeitalter der Aufklärung werden aus der Menschenwürde bestimmte MenschenrechteMenschenrechte abgeleitet.1 Auch der Hessischen Landboten impliziert einen unmittelbaren Zusammenhang. Im Zuge der Französischen Revolution seien die „Rechte des Menschen“ erklärt worden, und diese werden auch kurz ausgeführt: Alle Menschen sind von Geburt aus gleich, der Einzelne hat ein Recht auf politische Partizipation, politische Entscheidungen müssen immer Mehrheitsentscheidungen sein und durch Repräsentation den Willen der Mehrzahl widerspiegeln (MA 52). Daher seien die aktuellen Wahlgesetze „VerletzungenMenschenwürdeverletzung der Bürger- und Menschenrechte“ (MA 56).2 Diese letzte Formulierung ist eine recht eindeutige Anspielung auf die revolutionäre Déclaration des droits de lʼhomme et du citoyen (1789), deckt sich auf der Ebene der politischen Rechte aber durchaus auch mit dem, was der moderne Begriff der Menschenrechte umfasst. BüchnersBüchner, Georg spezifische Position ist aber viel grundlegender: Die eindringliche Schilderung der menschlichen KreatürlichkeitKreatürlichkeit (nicht nur im Landboten) verweist auf das, was in seinem Weltbild der „erste Beweger“3 ist: der Hunger. Das ganz basale Recht des Einzelnen auf ein Minimum an materieller Versorgung steht noch vor jedem Gedanken an politische Reformen. Genau das ist der Ausgangspunkt für die Kritik an der menschenunwürdigen Existenz im Hessischen Landboten.4

In einem kurz nach der Entstehung des Hessischen Landboten verfassten Brief an die Familie empört sich BüchnerBüchner, Georg über die behördlichen Maßnahmen gegen ihn im Zuge der Ermittlungen wegen der Flugschrift, die auch zu einer Durchsuchung seines Zimmers führten:

Ich bin empört über ein solches Benehmen, es wird mir übel, wenn ich meine heiligsten Geheimnisse in den Händen dieser schmutzigen Menschen denke. […] Auf einen vagen Verdacht hin verletzte man die heiligsten Rechte […]. (MA 293; Nr. 29)5

Zwar gehören diese Äußerungen zur pragmatischen, auf private Kommunikation abzielenden Textsorte Brief und stehen überdies im Kontext eines Rechtfertigungsdrucks gegenüber den Eltern, doch die Wortwahl gleicht jener des Landboten. Zum einen argumentiert BüchnerBüchner, Georg im Hinblick auf bestehendes Recht und beklagt, dass seine festgeschriebenen Rechte nicht respektiert wurden. Zum anderen postuliert er jenseits jeder positiven Gesetzgebung ein Recht auf Wahrung der Privatsphäre, ein Recht auf einen Raum, in den niemand eindringen und über den nur der Einzelne selbst verfügen darf.6 Dies korreliert, nun nicht mehr auf der Ebene des einfachen Bauern, sondern auf jener des Bürgersohns, mit dem bereits im Landboten scharf kritisierten Eindringen der Regierung in den persönlichen Bereich des Einzelnen und ihrer Verfügungsgewalt über die Privatsphäre, über den KörperKörper der Armen.

Wenn er von MenschenrechtenMenschenrechte spricht, benutzt BüchnerBüchner, Georg immer wieder das Epitheton „heilig“, manchmal sogar im Superlativ. Diese Kollokation erinnert an die von Hans Joas vorgeschlagene These, die den Glauben an die Menschenrechte als „Geschichte der Sakralisierung der Person“ beschreibt. Zwar nennt Büchner die Menschenrechte selbst, nicht ihre Träger, „heilig“; doch für ihn besitzen die Menschenrechte eben jene Qualitäten, die nach Joas „für die Sakralität charakteristisch sind: subjektive Evidenz und affektive Intensität“.7 Die Geltung der Menschenrechte für alle Menschen wird von Büchner nachdrücklich behauptet; implizit begründet wird diese Überzeugung durch den für das Zielpublikum in biblischer Sprache formulierten naturrechtlichen Menschenwürdebegriff.

*

Mit großem ästhetisch-rhetorischen Aufwand inszenieren die Autoren des Hessischen Landboten die Menschenwürde und ihre VerletzungMenschenwürdeverletzung und instrumentalisieren sie für ihre Zwecke. Als implizites Ideal liegt dem Text ein Menschenwürdebegriff zugrunde, der FreiheitFreiheit, Gleichheit und das Recht auf SelbstbestimmungSelbstbestimmung postuliert:8 Für jeden Menschen müssen in seiner konkreten Situation bestimmte Umstände zwingend gegeben sein, damit er ein würdiges Leben führen kann. Im Text wird diese Definition ex negativo entwickelt, indem drastisch die Verstöße gegen diese Menschenwürdevorstellung aufgezeigt werden. Transportiert werden sowohl das implizite Ideal als auch die empörenden Menschenwürdeverletzungen durch eine Sprache, die mit ihrer Drastik und ihren Anleihen aus der Bibel stark affektiv anspricht. So wird die ‚ästhetische Verletzung‘ der Menschenwürde innerhalb eines sprachlichen Gebildes zu einer subversiven, bewusst eingesetzten Strategie.

IV.3. „Man muß die Menschheit lieben“ – Die literarische Konstitution von Menschenwürde im Lenz (1835/39)

In der Philosophie Immanuel KantsKant, Immanuel ist die AutonomieAutonomie des reflektiert handelnden Vernunftwesens der Grund seiner Würde, das, was es zur Person macht.1 Auch bei SchillerSchiller, Friedrich ist der Begriff der Würde eng verbunden mit der Vorstellung eines von Naturnotwendigkeiten und -trieben nicht determiniertenDetermination freien WillensWille, freier Wille. BüchnersBüchner, Georg LenzLenz, Jakob Michael Reinhold kann als literarische Auseinandersetzung mit solchen aufklärerisch-idealistischen Menschenwürdedefinitionen gelesen werden. Der Text problematisiert diese Begründungsmuster; entsprechend dienen sie Büchner auch nicht als letztgültige Bewertungsrahmen für seine Figur. Vielmehr relativiert der Text die Vorstellung von der Autonomie des IndividuumsIndividuum als Grund seiner Würde deutlich. Gleichzeitig wird die Würde der Figur Lenz durch genuin literarische Mittel konstituiert. Büchners Text zeigt auf beeindruckende Art und Weise, wie das Einklagen von EmpathieEmpathie ästhetisch funktioniert.

IV.3.1. LenzLenz, Jakob Michael Reinhold als vermeintlich würdeloseWürdelosigkeit Figur

Der aufklärerische Blick auf Lenz prägt den historischen Bericht des Pfarrers Oberlin, BüchnersBüchner, Georg Hauptquelle; auch im fiktionalen Text ist dieser Bewertungsrahmen präsent, durch die Figuren Oberlin und Kaufmann.1 Aus einem solchen Blickwinkel kann die psychisch labile Figur Lenz aufgrund ihres weitgehenden Autonomieverlusts würdelosWürdelosigkeit wirken.

Durch bestimmte syntaktische Konstruktionen schafft BüchnerBüchner, Georg tatsächlich den Eindruck einer Fremdbestimmtheit. Die Figur Lenz erscheint als von einer nicht genauer definierten oder definierbaren Entität gesteuert, sodass sie nicht mehr, oder zumindest nicht immer, selbstbestimmt handeln kann. Besonders auffällig sind die häufigen Syntagmen mit vorangestelltem „es“.2 Diese Häufungen stimmen meist mit den Phasen der „Bewegung“, der physischen und psychischen Unruhe überein.3 In manchen dieser Syntagmen verweist das vorangestellte „es“ auf das nachfolgende Subjekt:4 „Es war ihm alles so klein, so nahe, so naß“ (MA 137); „es faßte ihn eine namenlose Angst“ (MA 138) – allerdings ist dieses Subjekt dann selbst nicht näher bestimm- oder beschreibbar. In den meisten Fällen handelt es sich beim „es“ aber um das eigentliche Subjekt, das entweder Teil einer Zustandsbeschreibung oder Wahrnehmung Lenz’ ist, wie in den folgenden Beispielen: „Es war naßkalt“, „es lag ihm nichts am Weg“ (MA 137)5 – oder tatsächlich ‚aktiv‘ wird: „Anfangs drängte es ihm in der Brust“, „es drängte in ihm“, „Nur manchmal […] riß es ihm in der Brust“ (MA 137), „es zuckte ihm in den Augen und um den Mund“ (MA 138). In allen Fällen aber bezeichnet das „es“ „ein Unbekanntes, Geheimnisvolles, nur aus seinen Wirkungen Erkennbares“;6 es verweist auf das „Erlebnis des Unbestimmten, dem sich das sinnlichSinnlichkeit Wahrnehmbare entschält und welches […] so stark ist, daß es sich des Subjektcharakters bemächtigt“.7 Wenn aber das Pronomen die Funktion des Subjekts übernimmt, dann wird Lenz („ihm“) zum ObjektObjekt, Objektifizierung, Ding, Verdinglichung, Dinghaftigkeit reduziert, und zwar sowohl hinsichtlich der Wahrnehmungen als auch der Handlungen. Lenz droht die Deutungshoheit über seine Wahrnehmungen zu verlieren.8 Dass das „es“ zuweilen in ihm verortet wird, mithin als nicht-rationalerRationalität, triebhafter Teil seines Wesens erscheint, stützt jene Diagnosen, die Lenz als schizophrenen oder psychotischen Charakter beschreiben. Verstärkt wird dieser Eindruck durch die zahlreichen Formulierungen, die das Reflexivpronomen „sich“ enthalten: „[E]r wühlte sich ins All hinein“ (MA 137), „er wollte mit sich sprechen“, „er riß sich auf“ (MA 138). Insinuieren diese Formulierungen eine Doppelung des Ichs, 9 die eine Fremdbestimmung ‚von innen her‘ bewirkt, widersprechen andere diesem Befund, indem der Figur äußerliche Kräfte im Spiel zu sein scheinen: „Es war als ginge ihm was nach, und als müsse ihn was Entsetzliches erreichen, etwas das Menschen nicht ertragen können, als jage der Wahnsinn auf Rossen hinter ihm“ (MA 138). Diese abstrakten Pronomina („was“, „etwas“) haben subjektähnliche Qualitäten, vor denen Lenz’ Sprach- und Benennfähigkeit versagt. Durch den auktorialen Vergleich wird Lenz’ Zustand dann eindeutig pathologisiert. Lenz ist nicht mehr immer eindeutig das Subjekt seiner Handlungen und Wahrnehmungen; er wirkt determiniertDetermination.

Als Subjekt, dessen AutonomieAutonomie fraglich geworden ist, nähert sich Lenz dem TierTier, Vertierlichung, Theriomorphisierung an. Die ‚Konfrontation‘ zwischen Lenz und der Katze der Oberlins wird, so Roland Borgards, zur „Szene des Wiedererkennens, [zu] einer Anagnorisis von Mensch und Tier“:

[P]lötzlich wurden seine Augen starr, er hielt sie unverrückt auf das TierTier, Vertierlichung, Theriomorphisierung gerichtet, dann glitt er langsam den Stuhl herunter, die Katze ebenfalls, sie war wie bezaubert von seinem Blick, sie geriet in ungeheure Angst, sie sträubte sich scheu, Lenz mit den nämlichen Tönen, mit fürchterlich entstelltem Gesicht, wie in Verzweiflung stürzten Beide auf einander los […]. (MA 155)

Die von „Instinkt“ und „Trieb“ gesteuerte Figur Lenz, die schon zuvor mit einem TierTier, Vertierlichung, Theriomorphisierung verglichen wurde („wie ein Hirsch“ [MA 154]), unterliegt einer „Dynamik der Animalisierung“.10

Die Grenze zwischen Mensch und TierTier, Vertierlichung, Theriomorphisierung, die in den Schulreden noch scharf definiert war, im Hessischen Landboten aber bereits mit sozialkritischem, aufwieglerischem Impetus rhetorisch in Frage gestellt wurde, wird hier weiter verwischt. Im Woyzeck kulminiert diese Strategie.

 

Neben Textstellen, die Lenz insofern würdelosWürdelosigkeit erscheinen lassen, als er kein handelndes Subjekt mehr ist, d.h. er sich nicht mehr mit Hilfe seiner VernunftVernunft und seines WillensWille, freier Wille über das Triebhaft-Unbewusste hinwegsetzen kann,11 und die ihn als Getriebenen, als ObjektObjekt, Objektifizierung, Ding, Verdinglichung, Dinghaftigkeit innerer Zwänge zeichnen, stehen solche, die Lenz gleichzeitig als sich intuitiv Wehrenden zeigen:

[E]r konnte sich nicht mehr finden, ein dunkler Instinkt trieb ihn, sich zu retten, er stieß an die Steine, er riß sich mit den Nägeln, der Schmerz fing an, ihm das Bewußtsein wiederzugeben, er stürzte sich in den Brunnstein, aber das Wasser war nicht tief, er patschte darin. (MA 139)

Was er tat, tat er mit Bewußtsein und doch zwang ihn ein innerer Instinkt. (MA 155)

Eigentlich nicht er selbst tat es, sondern ein mächtiger Erhaltungstrieb, es war als sei er doppelt und der eine Teil suchte den andern zu retten, und rief sich selbst zu […]. (MA 156)

Bezeichnenderweise ist von VernunftVernunft oder Willen schon gar nicht mehr die Rede; was Lenz dazu bringt, sein „Bewußtsein“ – mithin seine ‚AutonomieAutonomie‘ – wiederzuerlangen, ist der „Trieb der geistigen Erhaltung“ (MA 156; m. H.). So oder so ist Lenz von nicht-rationalenRationalität ‚Mächten‘, die er nicht unmittelbar beeinflussen kann, determiniertDetermination.12

Lenz ist also ein Getriebener. Diese ‚innere DeterminationDetermination‘ findet ihre Entsprechung in konkreten äußeren Zwängen: Der Vater, im Text vertreten durch Kaufmann und seine Briefe, drängt Lenz zu einem bürgerlichen Normen entsprechenden Lebenswandel. Über Lenz’ eigenen Willen wird nicht nur vom Vater, sondern auch von Kaufmann und Oberlin ein ihm fremder gesetzt. Lenz reagiert „heftig“: „Hier weg, weg! nach Haus? Toll werden dort? […] Ich würde toll! toll! Laßt mich doch in Ruhe! […] da will ich bleiben; […] was will mein Vater? Kann er mir geben? Unmöglich!“ (MA 146). Lenzʼ WilleWille, freier Wille ist ganz offensichtlich nicht das Entscheidende. Auf der innerfiktionalen Ebene, genauer: im innerfiktional durch andere Figuren repräsentierten Bewertungshorizont, wird Lenz’ Menschenwürde somit schwer in Zweifel gezogen.