Literarische Dimensionen der Menschenwürde

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III.3. Die literarische Konstitution von Menschenwürde

KotzebuesKotzebue, August von Stück ist kein Ideendrama. Es ist allerdings auch keine bloße Effekthascherei; vielmehr zieht der Dramatiker bei der Gestaltung seiner Sklavenfiguren unterschiedliche Register, um ihre Menschenwürde im dramatischen Spiel entstehen zu lassen und als Faktum im Rezeptionsvorgang zu transportieren. Kotzebue kreiert ein Zusammenspiel von mentalitätsgeschichtlichen und literaturhistorischen Aspekten, innerfiktionalen Elementen und intertextuellen Verweisen, um, aus der außerfiktionalen Perspektive betrachtet, eine anthropologische Gleichheit zwischen Figuren und Rezipienten herzustellen.

In seinem Vorbericht bekennt der Verfasser, dass er, „waͤhrend er dieses Schauspiel schrieb, tausend Thraͤnen vergossen“ habe, und schließt daran die Hoffnung, des Zuschauers Tränen möchten sich mit seinen „mischen“ (NS 4). Dies ist aus produktions- und rezeptionsästhetischer Perspektive aufschlussreich: Bewusst schreibt sich der Dichter in eine bestimmte Tradition ein – den Gefühlskult der Empfindsamkeit, das weinerliche Lustspiel, das Rührstück, die radikale Affektbetonung des Sturm und Drang1 – und erwartet ein Publikum, das diese Rezeptionshaltung kennt und kultiviert. Mit der Gestaltung von Handlung und Figuren aktiviert er ein (möglicherweise diffuses, aber doch vorauszusetzendes) Wissen über Theaterkonventionen und Literaturgeschichte und kann so mit bestimmten Effekten kalkulieren.

Bereits die ersten beiden expositorischen Szenen, die bezeichnenderweise die beiden Sklavinnen Ada und Lilli in den Blick nehmen, sollen ein bestimmtes Bild der schwarzen Sklaven evozieren. Die beiden Frauenfiguren werden nicht als exotische oder tierähnliche Fremde gezeichnet; Ada, die weibliche Hauptfigur des Stücks, ist eine Reflektierende, aber mehr noch Fühlende, Liebende. Ihr „Leiden“ (NS 15) ist kein primär physisches, sondern ein emotionales: Getrennt von ihrem Geliebten, wird sie von John sexuellSexualität, Sex bedrängt. Gedanken und Gefühle artikuliert sie ausgiebig – in genau jener Sprache, die man auch von einer weiblichen Figur europäischen Hintergrunds in einem Stück auf einer deutschen Bühne in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts erwarten würde.2 Die Prosa ihrer Rede ist wohlklingend, gefühlsbetont, von Interjektionen („Weh mir!“, „Ach!“; NS 10–13), Parallelismen und Anaphern (NS 11) gekennzeichnet, vor allem aber durchaus poetisch und bildreich.3 Die Reden der Sklavenfiguren durchziehen zudem Schlagworte des bürgerlichen Verhaltens-, Werte- und Befindlichkeitskanons: Immer wieder ist von Treue, TugendTugend, Liebe, Hoffnung, Unschuld u.Ä. die Rede.4 Besonders auffällig sind in dieser Hinsicht zwei Leitmotive: das Herz5 und das Weinen.

Alle Hauptfiguren sprechen zu irgendeinem Zeitpunkt, meist wiederholt, von ihrem Herzen. Vielsagend sind dabei die Bedeutungsunterschiede: Während für die Sklaven – und William! – das Herz eine Metapher für die eigene Emotionalität, den Schmerz, den Instinkt oder eine auf das gesamte IndividuumIndividuum, die Person, das Ich verweisende Synekdoche darstellt, verspottet John den Gebrauch des Worts. Charakteristisch ist Szene I,3. William ist schockiert über Johns menschenverachtendes Sklavenbild:

William. Meine Lippen schweigen, aber mein Herz widerspricht laut.

John. Das Herz! das Herz! Leerer Schnickschnack […] Das Herz ist ein Klumpen Fleisch, weiter nichts. Es gehorcht dem Willen eben so gut als Arme und Beine. (NS 18)

Kurz darauf versucht Ada, sich gegen Johns Zudringlichkeiten zu wehren:

John. Du scherzest mein Kind.

Ada. Scherzt man auch mit thraͤnenden Augen und blutendem Herzen?

John. Da haben wirs! da ist das Herz schon wieder. Eine verdammte Redensart! Ich wette, dein Herz blutet nicht um einen Tropfen mehr als vorher. (NS 19–20)

John ridikulisiert den metaphorischen Rekurs auf das Herz, indem er ihn als gefühlsduseliges Gerede brandmarkt und ihm ein wörtliches, mechanistisches Verständnis gegenüber stellt. Statt im Herzen den Ursprung von Empathiefähigkeit und Menschlichkeit zu sehen, reduziert er es, seinem Bild des Sklaven entsprechend, auf das rein Körperlich-Materielle.6 KotzebueKotzebue, August von profiliert so die Figur John – vor der Folie der empfindsamen Affektbejahung – zum eigentlichen ‚Unmenschen‘.7 Dies bedeutet im Umkehrschluss: Jene, die sich auf ihr Herz berufen können, sind würdige Menschen.

Ähnliches gilt für das Weinen. Im Drama weinen viele, Ada, Lilli, Truro, Ayos8 – also die schwarzen Sklaven – und William. Als eine Sklavin die erschütternde Geschichte erzählt, wie sie ihr eigenes Kind umgebracht hat,9 reagiert William zunächst „zerknirscht“: „Mein Herz will mir springen!“ Truro wischt sich eine Träne aus den Augen, William „verhuͤllt sein Gesicht“ und weint. Einer der Sklaven kommentiert diese Reaktion aufgeregt: „[…] wahrhaftig es sind Thraͤnen. […] Sieh da, ein Weißer, der auch ein Mensch ist“ (NS 60–61). Die wirkästhetische Logik dieser Szene ist bemerkenswert: Indem William beweist, dass er des „MitleidenMitleid[s]“ (NS 60) fähig ist – die Vokabel wird im Text explizit genannt10 –, wird er – in den Augen der Sklaven! – erst zum Menschen. Dem Rezipienten wird mehr als deutlich signalisiert, dass das Beweinen und Mitleiden die moralisch angebrachte Reaktion ist. Wie bei LessingLessing, Gotthold Ephraim hat das Mitleid hier einen reziproken Effekt: Jene, die angesichts des geschilderten und dargestellten Leids weinen – wie William, aber auch der Dichter und, so die in der Vorrede geäußerte Hoffnung, die Zuschauer –, sind Menschen. Dadurch, dass die Sklaven und ihr Schicksal beweint werden, werden sie als gleichwertige, mitleidswürdige Menschen wahrgenommen. Die Menschlichkeit der Sklaven, mithin ihre Würde, wird demnach nicht nur innerfiktional, indem sie selbst als emotionsfähige Figuren gezeigt werden, sondern auch im ästhetischen Moment, im Rezeptionsvorgang, konstituiert. Lessings Maxime, dass der mitleidigste Mensch der beste Mensch sei, hat auch hier volle Gültigkeit.

Dieses Prinzip wird nun durch mehrere Faktoren verstärkt. Zum einen enthält das Drama eine Vielzahl von epischen Elementen, kurze ‚Binnenerzählungen‘, in denen Sklavenfiguren ihre persönliche Biographie rekonstruieren oder Einblick in den Sklavenalltag geben, meist gespickt mit grauenhaften, abstoßenden Details.11 Als ‚historische‘ Anekdoten liefern diese Passagen Faktenwissen über die bestürzende Situation der Sklaven. Durch das Erzählen behaupten sich die entwürdigtenEntwürdigung, zu Arbeitstieren degradierten Sklaven zudem als Personen, die ihre eigene Leidensgeschichte nicht nur reflektieren, sondern auch sprachmächtig und rhetorisch versiert verbalisieren können. Schließlich – und das ist vielleicht der entscheidende Effekt – verleihen sie dem abstrakten Faktum der menschenwürdeverletzenden Qualität der Sklaverei auf der Bühne einen verkörperten Ausdruck. Indem die Geschichten auf der Bühne von einer Figur erzählt werden, erhalten sie einen KörperKörper – und werden so zur Projektionsfläche für das MitleidMitleid der Zuschauer. Diese Rezeptionshaltung wird, und dies ist der zweite Faktor, im Text auf recht offensichtliche Art und Weise gesteuert. Innerfiktionaler Adressat der Erzählungen ist in den meisten Fällen die Figur William; in seinen „mitleidig[en]“ (NS 44) Reaktionen – verbal in seiner Rede oder gestisch in Regieanweisungen – ist die erwartete Reaktion des Rezipienten vorweggenommen und vorgegeben.12

Zum dritten erfährt die Figurenzeichnung im Verlauf des Stücks eine merkliche Entwicklung. Wurden die Sklaven, besonders Ada, als empfindsame Menschen eingeführt, wird diese Empfindsamkeit gegen Ende hin zu extremem Pathos gesteigert. Bereits die Wiedervereinigungsszenen im zweiten Akt zwischen Vater (Ayos) und Sohn (Zameo) bzw. Mann (Zameo) und Frau (Ada) waren von affektiver Erregung geprägt;13 der Höhepunkt ist jedoch der tragische Schluss des Stückes. John hat gedroht, Adas Ehemann Zameo zu töten, sollte sie sich ihm nicht hingeben. Ada ist verzweifelt, zaudert, sucht nach einem Ausweg, bittet ihre Freundin Lilli um ein Messer, überlegt sogar, John nachzugeben. Schließlich überredet sie ihren geliebten Zameo, sie umzubringen, um sie nicht zur „Buhlerin eines Unmenschen [zu] erniedrigen“ (NS 133), was sie zu einer Art Liebesbeweis, aber auch zu einem Akt des MitleidsMitleid (!) (vgl. NS 130) hochstilisiert. Merklich verändern sich im dritten, finalen Akt ihre Sprache und Gestik. In manchen Passagen redet sie nur noch in exclamationes, Aposiopesen, rhetorischen Fragen, unterbrochen von Interjektionen, Geminationen und etlichen Pausen – graphisch markiert durch eine Vielzahl von Ausrufezeichen und Gedankenstrichen.14 Gehäufte Regieanweisungen beschreiben Gesten der Verzweiflung und schnelle Bewegungen auf der Bühne.15 Gleich zweimal fällt sie sogar in Ohnmacht.16 KotzebueKotzebue, August von inszeniert Adas extreme Emotionslage mit großem dramaturgischem Aufwand. Die Figur selbst kommentiert die eigene Gemütslage: „[S]ieh mich an! sieh wie jede Nerve zittert, fuͤhle meine Wange wie sie gluͤht, meine Brust wie sie klopft; kann ich meinem Puls gebieten?“ (NS 107). Ada verkörpert zu diesem Zeitpunkt keineswegs das klassische Ideal der ‚stillen Größe‘, der ‚Ruhe im Leiden‘ oder der SchillerschenSchiller, Friedrich ‚Würde des Ausdrucks‘ – was die Figur trotzdem nicht delegitimiert. Ihre fehlende Affektkontrolle ist, vor dem Hintergrund des im Stück entwickelten Menschenbildes und der Definition von Emotionalität und Empathiefähigkeit als Grundlage der Menschenwürde, zwar extrem, aber in sich stimmig und konsequent.

Daher wirkt es zunächst merkwürdig, wenn sich Ada in der Folge zweimal selbst als „ruhig“ beschreibt (NS 110, 121). Verständlich wird dies erst mit Blick auf ihren Tod. Dieser ist ein Zitat; KotzebueKotzebue, August von gestaltet Ada als Nachfolgerin Emilia Galottis. Ihr Tod, so Ada, sei das einzige „Mittel, meine Unschuld zu retten“ (NS 123). Gegenüber Zameo präzisiert sie:

 

Ada. Ich habe dir ewige Treue geschworen, ich habe meinen Schwur gehalten, aber wer steht mir für die Zukunft? wer schuͤtzt mich vor GewaltGewalt? wer vor den sanfteren Regungen des MitleidsMitleid, wenn die Gefaͤhrten unsers Elends um mich her knieen, und mit blutigen Thraͤnen das Opfer meiner Unschuld heischen? – Wessen Arm soll ich auffodern, wenn der deinige mich zuruͤckstoͤßt? […] (NS 129)17

Aufschlussreich ist genau der Punkt, an dem Ada von Emilia abweicht: Sie hat keine Angst vor der eigenen SexualitätSexualität, Sex, vor den Wallungen des eigenen Blutes, die ihre Unschuld kompromittieren könnten, sondern vor den „Regungen des MitleidsMitleid“ für ihre Leidensgenossen. Da sie diese nicht verbannen kann, ohne ihre eigene Würde zu gefährden, will sie sterben. Ihr Todeswunsch, wenn auch pathetisch formuliert, ist keine Kurzschlussreaktion, keine Affekthandlung, sondern wird im Stück mehrfach vorweggenommen. In diesem Sinne ist Ada „ruhig“; sie ist „Herr[in] [ihres] Schicksals“ (NS 110). Ihr Tod ist die autonomeAutonomie Entscheidung einer zwar leidenschaftlichen, aber doch der Reflexion fähigen Figur.

*

Doch KotzebueKotzebue, August von gestaltet die Sklavenfiguren nicht nur als dem Rezipienten emotional-affektiv gleiche Menschen. In einem Dialog über die Qualen ihrer Existenz führen die Sklaven die anatomisch-physiologische Gleichheit zwischen Europäern und Afrikanern als Beweis für die Unrechtmäßigkeit von Ausbeutung und EntwürdigungEntwürdigung an:

Truro. So geht man mit uns um, weil wir schwarz sind.

Lilli. Und doch war die Muttermilch, welche wir gesogen, auch weiß.

Ada. Und unser Blut ist auch warm und roth. (NS 48)

Hatte John im Rededuell mit William die Menschlichkeit der Sklaven auf basale physiologische Prozesse reduziert und auch das Berufen aufs Herz entmetaphorisiert, so drehen die Sklaven diese Denkfigur hier um. Die Farbmotivik verbindet sich mit der Opposition innen vs. außen: Äußerlich sind die Sklaven anders, innerlich nicht. Gerade das Körperlich-Kreatürliche untermauert die grundsätzliche IdentitätIdentität aller Menschen und den Anspruch auf AchtungAchtung ihrer Würde.

Schließlich betont KotzebueKotzebue, August von die moralische Gleichheit, wenn nicht sogar Überlegenheit, der Sklaven, die er bereits im Vorbericht mit „zwey wahre[n] Anecdoten“ zu belegen versucht (vgl. NS 4–6). Im Stück soll der Zuschauer zum einen Adas Treue und TugendhaftigkeitTugend bewundern, zum anderen die spontane, vorreflexive MoralitätMoral, Moralität des Zameo. Kurz nachdem ihn der Meisterknecht misshandelt hat, rettet er diesen vor einem tödlichen Schlangenbiss; eine Belohnung lehnt er ab. William preist den „edle[n] Juͤngling“ (NS 83): „Mensch! ich glaubte immer, GottGott habe aus Einem Stoffe uns geformt; ich irrte mich, er schuf euch besser!“ (NS 84).18 Die Benennung oder „Anrufung“19 Zameos als „Mensch“, die, als Sprechakt gedeutet, diesen durch Sprache als solchen konstituiert, ist ein direkter Verweis auf die Apostrophierung des Meisterknechts als „Unmensch“ (NS 81; vgl. NS 110). Dies weist auf die Ambiguität der Apostrophen und der Metaphern hin, die sich auf die Sklaven und ihre Herren beziehen. Während die Sklaven in der sprachlichen Benennung durch ihre Peiniger, aber auch in der Versprachlichung ihrer eigenen Erfahrungen immer wieder in die Nähe von Tieren gerückt werden, passiert ganz Ähnliches mit den Sklavenhaltern. Ada nennt John spielerisch „Affe“ (NS 21); den Meisterknecht fleht sie an: „Tyger! du hast ein menschlich Antlitz! Erbarme dich!“ (NS 102). Diese Klimax ist signifikant: Spricht Ada dem Meisterknecht zunächst jede Menschlichkeit ab, indem sie ihn theriomorphisiertTier, Vertierlichung, Theriomorphisierung, weist sie sodann auf sein „menschlich Antlitz“ hin, eine Formulierung, die ihn mit ihren religiösen Konnotationen daran erinnern soll, dass er als würdiges EbenbildGottebenbildlichkeit Gottes geschaffen wurde. Ihr abschließender Appell ist die Forderung, sich der menschlichen Würde würdig zu erweisen – indem er MitleidMitleid zeigt.

Den Rezipienten fordert dieses Oszillieren zwischen Mensch und Un-/Nicht-Mensch sowohl in Bezug auf die Sklaven als auch auf die Sklavenhalter nachdrücklich zur Beurteilung der Frage auf, wer hier eigentlich keine Würde hat: der EntwürdigteEntwürdigung oder der Entwürdigende, den das Erniedrigen Anderer zum amoralischen TierTier, Vertierlichung, Theriomorphisierung degradiert.20 Das Oszillieren zeigt sich auch in der Figurenkonstellation: Im Drama stehen sich nicht die weißen Kolonialherren auf der einen und die schwarzen Sklaven auf der anderen Seite entgegen. Vielmehr steht der schwarze Meisterknecht dem weißen Sklavenhalter John in Bezug auf Menschenverachtung, Sadismus und Brutalität in nichts nach; William hingegen solidarisiert sich mit den Sklaven und wird von diesen akzeptiert und geschätzt. Menschlichkeit und Menschenwürde haben demnach nichts mit Herkunft, „Race“ oder äußerlichen Merkmalen zu tun.

III.4. MenschenwürdeverletzungenMenschenwürdeverletzung und MenschenrechteMenschenrechte

MenschenwürdeverletzungenMenschenwürdeverletzung in Form von extremer, sadistischer GewaltGewalt und Erniedrigung werden in Die Negersklaven – zumindest im Text des Druckes – keineswegs ausgeklammert oder nur angedeutet. Mit bisweilen expliziter, schockierender Drastik werden sie zum einen in der Figurenrede beschrieben oder narrativ erinnert, zum anderen in konkreten Szenen auf der Bühne dramatisiert. So erzählt z.B. John, wie er ein „wildes Maͤdchen“ durch sadistische Folter dazu brachte, sich ihm hinzugeben: „Ich ließ ihr den ganzen Leib mit Stecknadeln sanft zerprickeln. Dann wurde ihr in Oel getauchte Baumwolle um die Finger gewickelt, und angezuͤndet“ (NS 20). Nur wenig später berichtet der Meisterknecht, der John an Brutalität sogar noch übertrifft, wie er einem alten Sklaven, der seine Arbeit nicht zufriedenstellend verrichtete, den Rücken „auf[ge]hauen [hat], und Salz und spanischen Pfeffer hinein streuen“ ließ (NS 25). Es folgt ein kurzer, menschenverachtender Dialog:

John. […] warum befahlst du nicht ihn aufzuwinden, so haͤtte er es besser gefuͤhlt.

M. Kn. War nicht noͤthig. Die Feuerglut, bey welcher er ewig schwitzt, hat ihn so ausgedoͤrrt, daß bey jedem Hiebe die Haut sich von den Knochen loͤst, wie die Schaale von einer Kaffeebohne. […]

John. Er wird schon zu alt, man muß ihn nach und nach ruhig sterben lassen. […] Ich lasse ihn weniger arbeiten, und gebe ihm weniger zu essen, so verlischt er endlich wie ein Licht. (NS 25–26)

GewaltGewalt und Folter sind alles andere als abstrakte Vorgänge. Mit technokratischer Detailversessenheit werden genüsslich Folterpraktiken diskutiert. Das onomatopoetische Verb „zerprickeln“, die Nennung von Körperteilen und körperlichenKörper Phänomenen, entmenschlichende Vergleiche, schließlich Verben und Nomina der Gewalt evozieren ein frappierendes Bild des Schreckens, angesichts dessen das Publikum vielleicht sogar zunächst eine Art voyeuristische Faszination für das Ekelhaft-Abstoßende verspürt. Die Sklaven erscheinen in diesen Beschreibungen nicht als Personen oder Subjekte, sondern werden zu reinen ObjektenObjekt, Objektifizierung, Ding, Verdinglichung, Dinghaftigkeit sadistischer Lust- und Machtphantasien degradiert, auf ihre KreatürlichkeitKreatürlichkeit reduziert oder, wenn z.B. kurz darauf vom „Negerleder“ (NS 27) die Rede ist, verdinglicht. John verfügt über seinen materiellen Besitz – die Sklaven – nach Belieben und quasi spielerisch. Einen ‚Wert‘ hat ein Sklave perverserweise nur, wenn er verdinglicht wird: als Arbeitskraft und als Lustobjekt – sei es sexuelleSexualität, Sex Lust1 (Ada) oder der Genuss, den John aus Misshandlung und Qual zieht.

Die Geschichten, die die Sklaven selbst aus ihrem Alltag oder ihrer Vergangenheit erzählen, haben denselben Effekt. Sie berichten von Misshandlungen, von gescheiterten Fluchtversuchen, von Verstümmelungen, von Menschenjagd, vom Status der Sklaven, die den Herren weniger als Hunde gelten oder wie Pferde vor den Wagen gespannt werden (vgl. NS 46–52 und 67–68). Alle diese Passagen mit ihren grausigen Details haben eine Kontrastfunktion: Sie dienen als negative Folie für die diskursive wie literarische Konstitution der Menschenwürde. Die explizit verbalisierte und rekapitulierte Missachtung lässt die Behauptung der Menschenwürde umso virulenter erscheinen. Es besteht eine Interdependenz zwischen der Einsicht in die Würde der Sklaven und der Empörung über die geschilderten WürdeverletzungenMenschenwürdeverletzung; deren Darstellung wird durch die Wirkintention gerechtfertigt, eben die Feststellung, dass die Behandlung der Sklaven menschenunwürdig und daher moralisch zu verurteilen ist.

Phänomenologisch betrachtet schildert KotzebuesKotzebue, August von Drama unterschiedliche Formen körperlicher GewaltGewalt.2 Die Entführungen zum Zweck der Ausbeutung durch Zwangsarbeit in Kolonien, von denen etwa Ayos und Zameo erzählen, sind eine Form lozierender Gewalt; der KörperKörper wird zur „verschiebbaren Masse“. Raptive Gewalt – das Benutzen des Körpers mit dem Ziel des sexuellenSexualität, Sex Lustgewinns – droht der Figur Ada von Seiten Johns. Was John und der Meisterknecht den Sklaven antun, ist autotelische Gewalt: Das Beschädigen oder Zerstören der körperlichen Integrität dient nicht wirklich einem bestimmten Ziel – die Gewalt selbst wird zum Zweck.3 Gemeinsam ist allen drei Formen der Gewalt, dass sie die Sklaven depersonalisieren und auf ihren als ‚DingObjekt, Objektifizierung, Ding, Verdinglichung, DinghaftigkeitDing, Verdinglichung, Dinghaftigkeit (s. Objekt, Objektifizierung)‘ wahrgenommenen Körper reduzieren.

Die Figur William verkörpert indes, wie bereits erwähnt, innerfiktional die vom Publikum erwartete Reaktion. In einer Regieanweisung heißt es: „([…] Sein Gesicht gluͤht von Unwillen)“ (NS 26). Der Zuschauer soll wie William mit Betroffenheit registrieren, dass die Sklaven nicht nur entwürdigtEntwürdigung werden, sondern – und hier kommt nun eine entscheidende Dimension hinzu – quasi rechtelos sind. Als das Drama 1794 uraufgeführt wurde, war die Frage nach den MenschenrechtenMenschenrechte, ihrer Kodifizierung und Gültigkeit äußerst aktuell und politisch brisant.4 Im Text wird sie nicht nur implizit verhandelt, sondern ausdrücklich angesprochen. Auf Williams naive Frage, ob die Sklaven nicht einen Gerichtshof anrufen könnten, erwidert Truro:

Ein Gerichtshof? – Nicht einmal als Zeugen duͤrfen wir auftreten, vielweniger als Klaͤger. Ein Neger hat nie Recht. Jeder Europaͤer, selbst der Fremdling, darf ihn ungestraft peitschen, und hebt der Neger die Hand gegen ihn auf, so ist er des Todes. (NS 50)

Für die Sklaven gelten die Bürger- und MenschenrechteMenschenrechte nicht; weder vor Recht und Gesetz noch von den Kolonialherren werden sie als gleichwertige Rechtssubjekte anerkannt. De facto stehen sie außerhalb des Gesetzes. Deshalb reagiert John spöttisch auf Ayos’ Versuch, sich gegen Willkür und Ungerechtigkeit zu wehren:

Ayos. […] ich verklage dich.

John. (laͤchelnd) Wo?

Ayos. Vor GottGott! (NS 87)

John geht hierauf nicht einmal ein; für eine solche Argumentation ist er, der in den Sklaven eine von GottGott wesenhaft anders erschaffene Rasse sieht, nicht empfänglich. Wenn dieser Ausspruch demnach keine primär innerfiktionale Funktion hat, bleibt als Adressat nur der außerfiktionale Rezipient. Bereits im Dialog mit John (I,6) hatte William eine Aufforderung formuliert, die man durchaus als Durchbrechen der innerfiktionalen Kommunikationssituation deuten könnte: „Redet laut, ihr Diener der Kirche! widersprecht laut!“ (NS 37). Da das positive Recht ebenso wie die koloniale Praxis die Gleichheit aller Menschen ignoriert, ist Gott die letzte Instanz. Doch selbst diese ultimative Garantie – die Gleichheit aller Menschen vor Gott – lässt nicht auf eine Veränderung im Diesseits hoffen. Die Zeit, in der „die Natur wieder in ihre Rechte tritt“,5 wie es Ada formuliert, in der mit Lillis Worten „die Farbe kein Verbrechen mehr ist“, in der also die natürliche Gleichheit aller Menschen uneingeschränkt respektiert wird, bleibt innerfiktional eine erst für das Jenseits zu erhoffende Utopie (NS 52). Außerfiktional kann jedoch die Empörung des Rezipienten – über die brutalen EntwürdigungenEntwürdigung und das christlichen Grundsätzen widersprechende Menschenbild – zu einem Movens für Veränderung werden. Indem das Stück hier ex negativo die Forderung nach der universellen Gültigkeit elementarer Rechte wie dem Recht auf leibseelische Integrität oder der Anerkennung der Sklaven als Rechtssubjekte entwickelt, entfaltet es am deutlichsten sein sozialkritisches Potential.