Das Tal der Untoten

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IV





Zwanzig Hiebe mit der Hacke gegen den Fels. Dann rückten andere vor, während mein Nachbarkumpel und ich zur Seite traten, zurückgingen und uns in die Schlange der Dutzend Hauer einreihten, bis wir wieder an der Reihe waren. Alles lief schweigsam ab. Was sollten wir auch reden? Nicht dass es verboten gewesen wäre, doch wir hatten uns nichts zu sagen. Nur in Ausnahmefällen. Und dann so wenig wie möglich. Warum sollten sich Verstorbene auch miteinander unterhalten? Sie hatten ihre Arbeit zu tun hier im Totenreich. Und wenn sie diese zufriedenstellend erledigten, wurden sie eines Tages dafür belohnt: Mit dem Vergeben all ihrer Sünden. Und dem Einzug ins Paradies!



Niemand wusste, woraus es bestehen sollte. Was einen da erwartete. Aber die Aufseher wussten es. Sie sagten, dass im Paradies niemand mehr arbeiten müsse. Dass man für immer schlafen könne. Bis in alle Ewigkeit.



Schlafen! Nach getaner Arbeit in das Ruhehaus gehen, seine nach nichts schmeckende Mahlzeit hinunterschlingen, sich auf seinen Platz legen, die Medizin einnehmen (den „Drink“, wie es hier hieß) und dann – schlafen. Es war tagtäglich wie ein Vorgeschmack auf das Paradies. Nur dass dieser Schlaf leider nicht ewig währte. Stunden später wurde man geweckt und ging wieder an die Arbeit. Irgendwann, so sagten die Aufseher, würde man dann nicht mehr geweckt werden. Dann hielte man Einzug in den Garten Eden. Oder besser: Man sinke für alle Ewigkeit in Morpheus’ Arme.



Oh, wenn es doch nur schon so weit wäre …



Der Drink, so sagte man uns, wirke leistungssteigernd. Und wer mehr Leistung brächte, käme dem Paradies mit jedem Tag ein Stück näher. Außerdem sollte die Medizin Aggressionen, Wutausbrüche und Streitigkeiten jeglicher Art zwischen den Arbeitern unterdrücken helfen. Ich habe noch nie erlebt, dass ein Untoter einem anderen etwas getan hätte, und vielleicht war das ja gerade der Verdienst dieser Medizin. Sie hieß Atropin, und so nannte sich die Schwester, die sie uns täglich verbreichte, Atty. Es war überhaupt so, dass alle männlichen Namen der Lebenden auf O und alle weiblichen auf Y endeten. Und die der Haustiere, die nicht zum Schlachten vorgesehen waren, auf S. Wir Untoten trugen nur Nummern.



In den Ruhehäusern, jeweils an der Stirnseite nach Norden hin, gab es große Tafeln hinter einer Gitterwand, an denen Schilder mit den Nummern der Arbeiter angebracht waren. Die Oberaufseher waren die einzigen, die darauf Zugriff hatten. Manchmal, wenn in der Nacht zuvor wieder die Fackeln und Feuer gebrannt hatten und die Trommeln und Gesänge erklungen waren, kamen neue Nummern hinzu. Und mitunter verschwanden auch welche. Wenn eine Nummer nicht mehr an der Tafel stand, wusste derjenige, dem sie gehörte, dass er am Abend darauf ins Paradies einziehen dürfe. Dennoch musste er auch jetzt gewissenhaft seine Arbeit verrichten. Tat er das nicht, wurde seine Nummer wieder angehängt. Und dann konnte es dauern, bis er wieder an die Reihe kam. Und wenn er gar selbstverschuldet zur Hölle fuhr, weil er unachtsam gewesen war oder grob fahrlässig gehandelt hatte, wurde seine Nummer auf den Kopf gestellt. Zur Abschreckung und als Warnung für andere.



Mein Name übrigens lautete: M203. Und ich hoffte inständig, er würde nie verkehrt herum an der Tafel stehen!



Die Hölle, so wurde uns eingetrichtert, sei ein Ort, an dem man niemals schlafe. Man würde dort wachgehalten werden, bis es schmerzt. Und dann weil es schmerzt. Auf Ewigkeit! Es sei so, als ob man atmen wolle, aber nicht könne. Als Lebender fiele man irgendwann in Ohnmacht. Als Untoter jedoch würde die Qual des Erstickens niemals aufhören. Sie steigerte sich sogar ins Unendliche.



Versuchen Sie es getrost: Atmen Sie aus und halten Sie dann die Luft an. Solange Sie es vermögen. Und darüber hinaus! Noch ein paar Sekunden. Weiter, nicht aufhören! Weiter, weiter – spüren Sie es? Nein, nicht – oh, jetzt haben Sie geschummelt. Ja, atmen Sie ruhig. Sie dürfen es ja. Sie sind nicht in der Hölle der Untoten. Aber Sie haben einen kleinen Vorgeschmack bekommen, nicht wahr? Nur einen klitzekleinen …



Nach der Schicht wurde man gewaschen. Man konnte das nicht selbst tun, denn niemand von den Hauern, Huntstößern, Karrenläufern, Gemüsebauern, Ziegenhirten, Korbflechterinnen und anderen Arbeitern wusste, wie das ging. Keiner kannte sich damit aus. Nur die Schwestern. Jede von ihnen kümmerte sich um zehn Untote. Stets um dieselben. Sie wechselten nie die zu Betreuenden. Nur in Ausnahmefällen. Das hatte Gründe. Die Schwestern kannten ihre Untoten. Jede Veränderung wäre ihnen sofort aufgefallen. In Ermangelung labortechnischer Analyseverfahren durften ihnen auch die kleinsten Anzeichen für Abweichungen der Norm nicht entgehen. Die Untoten reagierten verschieden auf die Medizin. Der eine benötigte eine höhere, der andere eine niedrigere Dosis Atropinsulfat.



Nach getaner Arbeit, völlig ausgepumpt und müde, nahm man die Schwestern und die weiblichen Untoten, die ihnen bei den Untersuchungen assistierten und uns allabendlich die Medizin einflößten, kaum zur Kenntnis. Für mich sahen sie ohnehin alle gleich aus. Ich hätte nicht einmal zu sagen vermocht, ob beide weiblich oder männlich waren. Erst mit der Zeit lernte ich, sie voneinander zu unterscheiden.



Die Schwestern kamen als Wäscherinnen wieder, wenn man tief schlief. Diesmal ohne Begleitung untoter Assistentinnen. Und vor Beginn der nächsten Einfahrt war man dann sauber und gesalbt. Gesalbt hieß hier: verarztet. Man trug plötzlich Verbände und Pflaster, wo zuvor noch keine gewesen waren. Es kam ja immer wieder vor, dass man sich verletzte. Sei es durch Steinsplitter, welche die Haut ritzten, wenn man mit der Hacke gegen den Fels schlug. Durch unaufmerksame Huntstößer, die einem die schwere Lore gegen die Beine schoben. Oder durch Steinschläge, hereinbrechende Stöße und einstürzende Schalungen. Man bekam das selbst ja kaum mit. Spürte höchstens ein leichtes Ziehen oder Kribbeln, nie jedoch Schmerz. Nur wenn es tiefer ging. Wenn einem ein Bein abgetrennt oder der Unterleib zerquetscht wurde. Oder man unglücklich fiel und sich die Spitze der Hacke in den Brustkorb bohrte. Dann spürte man das.



Ich hatte es einmal miterlebt. Nicht am eigenen Leibe. Aber ich hatte gesehen, wie Nummer M156 von einem angespitzten Holzpfeiler durchbohrt wurde, als ein Teil der Joche und Kappen einer verlorenen Zimmerung infolge des Einbrechens eines Stoßes nachgab. Nein, falsch. Ich hatte nicht wirklich mitbekommen, wie es passiert war. Nur dass der Kumpel dann am Boden gelegen und sich im diffusen Schein der Grubenlampen gewunden hatte. Halb begraben von zentnerschwerem, lockerem Gestein. Dabei war ein Fauchen von seinen, mit schaumigem, blaugrauem Blut bedeckten Lippen gekommen. Seine Arme hatten sinnlose, zuckende Bewegungen vollführt. Das Weiße in seinen Augen war erst rosa, dann violett geworden. Schließlich hatte er mit dem Kopf immer wieder gegen den harten Boden geschlagen, bis sein Schädel brach. Es hatte sich angehört, als habe einer der Gemüsebauern eine Melone auf den steinigen Weg fallen lassen. Und dann hatte er sich nicht mehr bewegt. Nur ein kurzes Röcheln noch …



Die Aufseher sagten, er werde nie ins Paradies einziehen, denn er war unaufmerksam gewesen, habe die Zimmerung beschädigt, so den Unfall verursacht und sich damit selbst gerichtet. Sie ließen ihn ins Haupthaus bringen; darauf bekam ihn niemand mehr zu Gesicht. Nach Ende der Schicht hing sein Nummernschild verkehrt herum an der Tafel. Und sein geborstener Schädel steckte am nächsten Tag auf dem Zaun am Richtplatz. Ohne Zeremonie und Opfermahl.



Zurück zu den Schwestern: Man munkelt, dass diese – die wie die Aufseher nicht zu den Untoten zählten –, mit den schlafenden Arbeitern mitunter Sachen machten, welche weit über das Waschen und Salben hinausgingen. Ich habe das von Nummer W188 erfahren, auf die ich noch kommen werde. Sie wollte es aus einem Gespräch zwischen zwei Aufsehern erlauscht haben. Näheres wusste sie auch nicht zu berichten, doch die Aufseher sollen gelacht haben, als sie davon sprachen. Sie gönnten den Schwestern ihren Spaß. Wie sie selbst den ihren mit den weiblichen Untoten aus der Gärtnerei und Korbflechterei hätten. Und ab und zu auch mit den männlichen. Es schien dies eines von vielen Gerüchten zu sein, welche sich um unser Dasein im Lager rankten. Und wenn man auch gemeinhin davon ausging, dass an jedem Gerücht etwas dran sei, so wusste ich nicht, worin die Wahrheit bestehen sollte. Dazu fehlten mir jegliche Vorkenntnisse. Wie die Bereitschaft und Fähigkeit, darüber tiefgründig nachzudenken.



Das Nachdenken übrigens gehörte auch zu den Dingen, welche ein Arbeiter tunlichst zu vermeiden hatte, wenn er ins Paradies kommen wollte. Abgesehen davon, dass er es – bis zu einem gewissen Grad – gar nicht erst fertigbrächte. Worüber hätte er auch nachdenken sollen? Das Einzige, das mir und meinen Gefährten tagtäglich durch den Kopf ging, war der Gedanke an den wohlverdienten Schlaf nach getaner Arbeit. Nur darum drehte sich alles. Sonst um nichts! Und natürlich an den Einzug ins Paradies. Aber – das hatten wir ja schon …



Wenn ein Hauer, Schachtzimmerer oder Huntstößer nicht mehr in der Lage war, seine Norm zu erfüllen, wurde er zu anderen, leichteren Arbeiten eingesetzt. Keiner der Lebenden wäre auf den Gedanken gekommen, einen Simulanten in ihm zu vermuten. Untoten war es ja von Natur aus verwehrt, freie Entscheidungen treffen zu können, wären doch solche wieder mit Denkprozessen verbunden gewesen. Ein Arbeitswechsel bedeutete allerdings, dass sich dadurch sein Einzug ins Paradies verzögerte. Es sei denn, der Betreffende war anderen gegenüber geschickter und schneller und konnte so beim alles entscheidenden Voodoo-Meister Pluspunkte sammeln. Den bekam man nicht zu Gesicht. Nur seine Gestalt, die in eine weiße Tunika gehüllt war. Mit weit überhängender Kapuze und einer Maske. Er äußerte selbst nie ein Wort; nahm lediglich Besitz vom Bokor, dem Schwarzmagier, wenn er Lebenden und Untoten etwas mitteilen wollte und sprach dann durch ihn wie ein Geist in einer spirituellen Sitzung, der in den Körper des Mediums fährt.

 



Was Bestrafungen betraf, so bekam man es nur mit zwei Arten zu tun, welche es allerdings in sich hatten: Man konnte auf dem Weg zum Paradies zurückgestellt werden. Einmalig oder immer wieder, je nachdem, wie viele Verfehlungen man in welcher Zeit beging. Und man konnte gleich zur Hölle fahren. Mit Pauken und Trompeten. Oder besser gesagt: Mit Trommeln und Fackeln. Und dem Sägemesser.



Andere Formen der Maßregelung gab es nicht. Sie hätten auch keinerlei Wirkung gehabt. Für Lebende vielleicht. Nicht jedoch für uns Untote.



Zurückgestellt zu werden war schlimm. Doch ganz gleich, wie oft es passierte – man durfte noch immer Hoffnung haben, eines Tages ins Paradies zu kommen. Anders bei der finalen Bestrafung, der Hinrichtung. Diese war endgültig.



Der Richtplatz war weiträumig von einem niedrigen, hölzernen Zaun umgeben. Jeder Pfeiler am Ende eines Zaunfeldes überragte dessen oberen Riegel um einen halben Meter und war angespitzt.



Fiel ein Untoter der finalen Bestrafung anheim, wurde ihm eine bestimmte Medizin verabreicht, die ihn in einen tiefen Schlaf versetzte. Dennoch wurde er gefesselt. Aus rein psychologischen Gründen, wie ich später erfuhr. Niemand sollte denken, er habe sich mit seinem Schicksal abgefunden und ließe alles freiwillig über sich ergehen.



Dann wurde er bäuchlings auf den Opferstein gelegt. Nun traten die Gehilfen des Scharfrichters herbei – vier an der Zahl – und hielten den Delinquenten fest. Unmittelbar neben ihnen sorgten sechs Fackelträger dafür, dass die Zuschauer das Ritual in all seinen schrecklichen Details wahrnehmen konnten. Der bis dahin abseits wartende Scharfrichter zog sein „Instrument“ aus der Scheide. Dieses bestand aus einer Art Machete mit Sägezähnen an der Schneide. Ähnlich einer achtzig Zentimeter langen Säge, welche man zum Ausästen verwendet. Am unteren Ende befand sich der sogenannte Vorschneider. Ein fünfundzwanzig Zentimeter langer, nicht gezahnter, dafür aber rasiermesserscharfer Abschnitt der Klinge, mit welchem zunächst Haut, Sehnen und Muskeln des Halses durchtrennt werden mussten, bevor mit dem eigentlichen Sägen begonnen werden konnte. Dieser Vorschnitt durfte nur mittels eines einzigen Zuges geschehen.



Nachdem die Trommeln und Gesänge verstummt waren, verkündete einer der sieben Oberaufseher, der zuvor vom Voodoo-Meister zum Bokor bestimmt worden war, das Urteil, dem eine kurze Begründung folgte. Die Versammelten schrien nach der Urteilsverkündung: „Houay, hou-ay, hou-ay!“ Der Bokor führte nun die Gesetzestexte auf, gegen welche der Delinquent verstoßen hatte, worauf die Anwesenden abermals ihr dreimaliges Hou-ay brüllten. Er schloss mit den Worten: „Vollstrecker – walte deines Amtes!“ Wieder erklangen die Trommeln. Mit jedem feierlichen, gemessenen Schritt, den der Scharfrichter in Richtung des Opfersteins tat, wurden die Intervalle kürzer, bis der Trommelwirbel abrupt endete. Der Vollstrecker setzte sein Instrument an und trennte mit genau sieben Hüben zwischen dem vierten und fünften Nackenwirbel den Kopf vom Körper des Verurteilten, der dabei nur einen kurzen, brennenden Schmerz verspürte und Mund und Augen weit aufriss, bis seine Grimasse in Sekundenbruchteilen regelrecht versteinerte. Das soll wohl bei allen Hinrichtungen so gewesen sein.



Der Vollstrecker musste penibel darauf schauen, dass er die ganze Länge des Sägeblatts – beim ersten und siebten Schub zudem mittels Vorschneider – unter mäßigem Druck, mal schiebend, mal ziehend, ausnutzte, um die vorgeschriebene Zahl der Sägeschnitte einzuhalten. War er zu schnell und der Druck zu groß, trennte er den Kopf bereits mit sechs oder gar fünf Hüben ab. War er zu langsam und der Druck zu schwach, benötigte er mehr als er durfte. Je nach Laune des Oberaufsehers wurde er dann selbst bestraft: Mit teilweisem bis völligem Ausschluss vom Opfermahl oder der Zurückstellung der Paradies-Erlangung für eine mindere bis längere Zeit. Diese konnte im schlimmsten Fall sieben Monate währen.



Der Vollstrecker war also darauf bedacht, sorgsam zu Werke zu gehen. Er konnte ja nicht üben. Das wäre auch nicht sinnvoll gewesen. Selbst für den Fall, dass er zur nächsten Höllenfahrt erneut berufen wurde, war es ihm unmöglich, sich an die letzte zu erinnern, sofern der Abstand mehr als drei Wochen betrug. Und daran, was er unter Umständen falsch oder richtig gemacht hatte. Oftmals half ihm deshalb der Oberaufseher, welcher selbst von einer gelungenen Hinrichtung profitierte, indem er zuvor die richtige Stelle am Hals des tief schlafenden Opfers mit dem Strich eines Permanentmarkers versah. Mehr konnte er nicht tun.



Ich habe vier solcher Hinrichtungen miterlebt. Miterleben müssen. Wenn über einen Delinquenten in der sogenannten „Kammer“ Recht gesprochen wurde, war keiner der Untoten anwesend. Zur Vollstreckung allerdings schon. Aus Gründen der Belehrung und Abschreckung wurden dann nach Sonnenuntergang sämtliche Arbeiterinnen und Arbeiter zusammengetrommelt. Sie mussten sich auf dem Opferplatz hinter den Fischteichen einfinden und hatten ihre Hocker aus den Schlafbaracken mitzubringen. Die Arbeit ruhte in dieser Zeit bis zum Morgengrauen. Die Bergleute fuhren aus, die Korbflechterinnen unterbrachen ihre Tätigkeit, und die Gemüsebauern, Viehhirten und Bediensteten kamen gar nicht erst in den wohlverdienten Schlaf. Alle Untoten hatten an der Zeremonie teilzunehmen. Alle mit Ausnahme derer, die im Krankenrevier lagen. Aber das war stets nur eine Handvoll.



Der Richtplatz war hell erleuchtet. Besonders der weiße Altar. Es schien, als phosphoresziere er. Als käme das Licht aus seinem Inneren. Es wäre wohl ein Zauber, der ihn so leuchten ließ, munkelte man. Hinter ihm befand sich die „Tribüne“, ein langes Podest, auf welchem der Bokor stand, seine Anweisungen gab und die Exekution überwachte. Der Platz zwischen Opferstein und erster Zuschauerreihe, die sogenannte „Bühne“, maß acht Meter und war den „Beschwörern“ vorbehalten, welche die Zeremonie mit absonderlichen Tänzen, maskiert und körperbemalt, einleiteten. Sechs Trommler, je zu dritt an den Seiten, gaben den Takt vor. Auch sie waren martialisch mit groben Zeichnungen beschmiert; die Farben rot und schwarz dominierten hierbei.



Das Makaberste allerdings bestand in der Auswahl des exekutiv Richtenden. Nie war es einer der Lebenden. Kein Aufseher. Keine Schwester. Keiner von jenen, die hier das Sagen hatten. Es handelte sich stets um Untote, die Untote ins Jenseits beförderten. In die Hölle. In die ewige, schlaflose Verdammnis. Wer Glück hatte und seines Amtes ordnungsgemäß waltete, dem konnte eine zuvor ausgesprochene Zurückstellung erlassen werden. Verrichtete er die Vollstreckung allerdings nicht zur Zufriedenheit des Meisters, so verlängerte sich die Wartezeit bis zum Eintritt ins Paradies um ein Vielfaches.



Wer hinrichten „durfte“, respektive musste, bestimmte der Voodoo-Meister, der durch den Bokor zu den Anwesenden sprach, indem er von diesem für die Dauer der Zeremonie Besitz ergriff. In jedem Fall war der Bokor ein Lebender. Zumeist handelte es sich um einen der Oberaufseher. Seltener um Oberschwestern. Doch auch das kam schon mal vor. Von den übrigen Oberaufsehern und -schwestern wurde eine Person für das Amt des Ritualleiters oder der Ritualleiterin zwei Stunden vor der Zeremonie vom Bokor berufen. Es war dies eine Ehre, welche es den Auserwählten gestattete, in der Folge besondere Vergünstigungen zu erhalten: Doppelte Essensrationen, zusätzliche freie Tage, Teilnahme an den Beratungen des „Obersten Rats“ mit Stimmrecht für mindestens drei Jahre und einiges mehr.



Als Untoter konnte man sich nicht weigern, das Amt des Vollstreckers zu bekleiden. Nicht aus moralischen oder mitfühlenden Gründen heraus; Untote kennen solcherlei Empfindungen anderen gegenüber nicht. Das liegt in ihrer Natur. Sie verweigerten das Amt des Vollstreckers nur deshalb nicht, weil sie jeden Befehl mechanisch ausführten. Im völligen Unvermögen, darüber nachdenken zu können, was man da von ihnen verlangte. Untote sprängen, ohne zu zögern, von einer Brücke oder einem Turm, sofern es ein Aufseher verlangte. Sie handeln wie Roboter. Völlig willenlos. Wie dressierte Affen, die auf Kommando Kunststücke vollführen, ohne zu wissen, was sie da eigentlich tun. Jedoch – kein Aufseher setzte das „Leben“ eines Untoten aus einer bloßen Laune heraus aufs Spiel. Schließlich wurde der ja noch gebraucht.



Nachdem der Kopf vom Rumpf getrennt war, wischte der Vollstrecker sein Instrument an der Kleidung des Dahingeschiedenen sauber, steckte es in die Scheide, packte den Kopf mit beiden Händen – der Trommelwirbel erklang abermals –, ging hinüber zum Zaun und spießte den frischen Schädel rechts vom letzten, inzwischen mumifizierten oder zumindest verfaulenden, auf den angespitzten Pfeiler. Ein paar Schläge mit der Faust auf den Kopf – dann steckte dieser unverrückbar auf dem Pfahl. Damit war die Zeremonie für den Vollstrecker beendet. Er konnte, sofern er alles richtig gemacht hatte, aufatmen. Die Gunst des Meisters sollte ihm nun gewiss sein.



Derweil trugen die Untoten, welche den Delinquenten kurz vor der Hinrichtung festgehalten hatten, dessen Körper zum Scheiterhaufen, platzierten ihn in der Mitte und entfachten das Feuer, welches den kopflosen Rumpf innerhalb weniger Stunden verzehrte. Das war das Zeichen, dass der Opferschmaus beginnen konnte. Daran nahmen alle teil.



Wenngleich wir Untoten im Allgemeinen keinen Geschmackssinn besaßen, so hatten wir in jenen Nächten doch welchen. Und großen Appetit auf frisch gebratene Ziegen und Hühner, im Feuer gebackene Kartoffeln und Obst aller Art. Und Bier. Ein besonderer Zauber, so munkelte man, machte dies möglich.



Und während der Kadaver im Feuer des Scheiterhaufens zischte und Mund sowie Augen des abgetrennten Kopfs auf dem Zaunpfeiler in versteinertem Schrei weit geöffnet waren, begann ein jeder von uns mit jedem Bissen zu erahnen, dass es noch andere Gelüste geben mochte als die nach ewigem, tiefem, erholsamem Schlaf am Ende des Tagwerks. Bevor sich diese Ahnung jedoch zu einem regelrechten Gedanken zu manifestieren vermochte, war das Fest vorüber, und man versank wieder in den herbeigesehnten Schlummer auf der Strohmatte seines Ruheplatzes. Nur ein Traum, der blieb. Vage und diffus. Bis man zur nächsten Schicht geweckt wurde. Ein Festmahl? Gestern in der Nacht? Mit Ziegenfleisch und Gerstensaft? War ja wohl lachhaft …



Frühmorgens fuhren wir also wieder stupide in den Berg ein, derweilen der Kopf des ehemaligen Kumpels auf dem Zaunpfeiler am Opferplatz hinter den Fischteichen steckte und noch immer die schaurige Totengrimasse schnitt, indes seine Nummer an der Tafel verkehrt herum hing …



Spätestens an dieser Stelle – wenn nicht längst zuvor – werden Sie sich fragen, wie ich dies alles als Untoter, der ja kaum zu denken, noch sich zu erinnern vermag, so genau beschreiben kann. Ich sehe mich gezwungen, es kurz zu erklären, um nicht schon jetzt für unglaubwürdig gehalten zu werden. Es wird den Lesefluss im Weiteren nicht wesentlich beeinträchtigen, bin ich doch eh an einer Zäsur angelangt. So können wir uns diese kleine Pause gönnen.



Wäre ich auch heutzutage noch in dieser Welt zwischen Leben und Tod gefangen oder ins Paradies oder die schlaflose Hölle gekommen, hätten Sie nie von mir erfahren. Das ist ein Fakt! Ein Untoter ist nun mal nicht in der Lage, seine Erlebnisse zu rekapitulieren oder sich darüber gar Notizen zu machen. Es müssen also Umstände eingetreten sein, die es mir ermöglichten, gerade dies zu tun.



Keine Sorge, ich greife damit nicht vor. Sie werden sich nach dieser Passage bezüglich des Fortgangs meiner Erlebnisse genauso im Unklaren befinden wie ich damals.



Ein Fakt, den auch Sie kennen, und der Licht ins Dunkle bringt, ist der Zusammenhang von Schlaf und Traum. Wenn Sie schlafen, haben Sie keine Kontrolle mehr über Ihren Körper und Geist. Kein Zeitgefühl. Keinen eigenen Willen. Kein Bewusstsein. Sie leben zwar, bekommen es aber nicht mit. Sie sind im wahrsten Sinne des Wortes untot! Und wenn Sie träumen, ist Ihnen nicht klar, dass Sie es tun. Sie bewegen sich während des Traums in einer Welt, von der die glauben, sie sei real. Und handle es sich auch um noch so kunterbunten geistigen Dünnschiss.



Es gibt Regeln, die allen Träumern eigen und nicht zu leugnen sind: So können Sie vor einem bissigen Hund davonlaufen – es wird Ihnen scheinen, als kämen Sie nicht von der Stelle. Als bewegten Sie sich in Zeitlupe. Fallen Sie in eine Schlucht oder aus dem zwanzigsten Stock eines Wolkenkratzers, spüren Sie keinen Aufprall oder gar Schmerz und erwachen stattdessen. Ihre Katze kann sprechen (und hat einen Kopf, der Ihrer Schwiegermutter gleicht), und Sie halten das – während des Traums! – für völlig selbstverständlich. Nur einige Beispiele von vielen.

 



Mitunter können Sie sich nach dem Erwachen an Ihren Traum erinnern. Wenn Sie sich dann einzelne, besonders beeindruckende, Sequenzen immer wieder vor Augen führen, kann es passieren, dass Sie diese gar ins Langzeitgedächtnis übernehmen und für alle Zeiten abrufbar speichern. Das hat wohl ein jeder von uns schon erlebt.



Als Untoter empfindet man ähnlich. Man glaubt, dass alles, was man tut und erlebt, durchaus der Normalität entspricht. Nur mit dem Unterschied, dass es einem nicht vergönnt ist, zu erwachen. Man wundert sich nicht über Absurditäten – man empfindet sie als „realistisch“ und völlig normal. Ein Untoter sägt seinem ehemaligen Kumpel den Kopf vom Körper und ist in diesem Moment der festen Überzeugung, etwas zu tun, was selbstverständlich und logisch ist. Er baut im Bergwerk Gestein ab, ohne zu wissen, wozu das gut sein soll. Schürft er Edelmetall? Erz? Kohle? Oder gräbt er lediglich einen Tunnel? Er weiß es nicht und fragt nicht danach. Es ward ihm so aufgetragen, also tut er es. So wie Sie in Ihrem Traum Dinge tun, auf die Sie im wachen Zustand nie kämen.



Untot zu sein bedeutet also, einen immerwährenden Traum zu träumen, in welchem man Bergbau betreibt, Gemüse anbaut, Ziegen melkt oder Körbe aus Weidenruten flicht, dann und wann einem Kumpel den Kopf absägt und am Ende des Arbeitstages mit erholsamem Schlaf belohnt wird.



Die Schicht war für heute zu Ende, und wir gingen auf kürzestem Weg in unsere Unterkünfte. Die Langhäuser sahen alle gleich aus. Damit man sich zurechtfand, waren an den Stirnseiten neben der Tür Nummern angebracht worden. Ich hatte meine Schlafstatt im Ruhehaus „RH M150 – 210“. Unter dieser Bezeichnung hing seit zwei Tagen eine Schiefertafel und der mit Kreide aufgemalte Zusatz: „Außer M167 und M189. Diese jetzt in H4.“ Das hieß, dass 167 und 189 zu anderen Aufgaben abgestellt waren und jetzt in einer Hütte mit der Nummer 4 schliefen. Aus welchen Gründen auch immer. Die zusätzliche Beschilderung war nur aus dem Grund angebracht worden, damit alle Aufseher und Schwestern Bescheid wussten und sich M167 und M189 an ihre neue Behausung gewöhnen konnten, falls sie nach getaner Arbeit anfangs noch immer ihr altes Ruhehaus ansteuern sollten.



Wenn wir Untoten auch nicht zu geistigen Höhenflügen fähig waren, so kam es doch nur selten vor, dass wir uns im Gelände regelrecht verliefen oder unsere Unterkunft nicht gleich fanden. Jeder kannte seinen „Namen“ und konnte die betreffende Nummer im Schlaf herbeten. Und für den Fall, dass sich wirklich mal einer verirrte, gab es Streifenposten, die ihn wieder auf den rechten Weg brachten.



Auch an den hölzernen, mit Strohmatratzen und Decken ausgestatteten Betten waren Schilder mit unseren Nummernamen angebracht worden. Noch nie war es vorgekommen, dass sich jemand versehentlich ins Bett des Nachbarn gelegt hatte. Absichtlich schon gar nicht. Nicht dass ich wüsste.



Die Betten standen zu jeweils dreißig Stück an beiden Längsseiten des Hauses im Abstand von einem Meter zueinander. Nur in der Mitte gab es einen größeren, freien Raum, welcher der Feuerstelle in Form eines durchlöcherten Stahlfasses vorbehalten war. Hier wurde in den kälteren Monaten ein Feuer unterhalten, das die Temperaturen im Haus nicht unter zehn Grad Celsius sinken ließ. So seltsam es klingen mag – auch Untote konnten in sehr kalten Wintern erfrieren. Die Feuerstelle war von einem Käfig aus Streckmetall umgeben, der fast bis zum Dach reichte, in welchem sich der Rauchabzug befand. Der Job des Heizers war den Lebenden vorbehalten. Kein Untoter durfte mit offenem Feuer in Berührung kommen. Einzige Ausnahme: Das Geleucht der Bergmänner. Doch die Ölfunzeln und Kerzenstumpen waren im Vergleich zu den brennenden Holzscheiten in den Ruhehäusern ja auch recht harmlos.



Ein Aufseher entfachte und unterhielt den Brand, bis spätabends die Glut im Fass eine Höhe von einem halben Meter erreicht hatte und die Arbeiter in tiefen Schlaf gesunken waren. Dann schloss er die Käfigtüre ab und ging seiner Wege. Im Dunkeln glühte der untere Teil des Fasses dunkelrot. Durch die Belüftungslöcher sah man die grelle Glut funkeln. Die Untoten, deren Schlafstätten in der Nähe der Feuerstelle lagen, starrten kurz vor dem Einschlafen wie hypnotisiert auf dieses Fass, ohne recht