Christmas Meeting

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Kapitel 2: Die Geschichte vom Dämon des Hasses

Henry Vaughn fühlte sich alles andere erfrischt, als er an diesem Mittag des 24. Dezember erwachte. Die Strapazen des Umzuges der vergangenen Tage hatten den knapp siebzig Jahre alten Mann mit dem schütteren grauen Haar stark mitgenommen. Selten kam es vor, dass er vor Erschöpfung so lange schlief.

Missmutig starrte er in den spärlich eingerichteten Raum, der ihm als Schlaf- und Wohnraum diente. In der Ecke befand sich eine kleine Nische, die der Makler unverfroren als Küche bezeichnet hatte.

Henry war es gewohnt, ärmlich zu hausen, doch diese feuchten Räume, die wohl die meiste Zeit von allem üblichen Getier als Unterschlupf benutzt wurde, empfand selbst ein so genügsamer Mensch wie er als Zumutung.

Dabei konnte er noch von Glück reden, dass er diese Bruchbude so schnell bewohnen konnte. Sein altes Heim dürfte inzwischen nur noch aus einem Hügel Schutt bestehen. Der Besitzer hatte beschlossen, ein riesiges Fitnesscenter zu errichten. Dabei setzte er sich über sämtliche Klauseln des Mietvertrages hinweg und warf die Leute innerhalb kürzester Frist auf die Straße.

Jede Protestaktion wurde im Keim erstickt, sämtliche Unterschriftslisten mit fadenscheinigen Argumenten zurückgewiesen. Henry wunderte sich nur, mit welcher Großzügigkeit der sonst so knauserige Mietsherr mit Bestechungsgeldern umging.

Einer alten Bekannten gelang es jedoch, ihm über einen befreundeten Makler diese Wohnung zu beschaffen. Diesem Umstand verdankte Henry, Weihnachten nicht auf der Straße zu sitzen.

Er bezahlte der Umzugsfirma das Doppelte, damit sie seinen Antrag überhaupt noch annahm. Das bedeutete für ihn, dass er ein wenig hungern musste, um seine Miete bezahlen zu können. Seine Rente war sein einziges Einkommen, sein einziger Besitz, und diese fiel mehr als erbärmlich aus. Doch Henry beklagte sich nicht. Er musste im Leben schon mehr entbehren als Geld. Den Leuten, die mit ihm in diesem Haus wohnten, ging es ebenfalls nicht viel besser.

Mühsam hob er die schmerzenden Knochen aus seinem Bett und erledigte seine Morgentoilette. Als er kaffeeschlürfend an dem wackligen Holztisch in seiner winzigen Küche saß, sah er aus dem Fenster. Für viele Menschen würde der morgige Tag ein Freudentag, ein Familientag sein. Die Leute würden sich beschenken, zusammen ein gutes Essen einnehmen und sich am späten Abend besonders ausgiebig lieben.

Auch er würde Weihnachten feiern mit seiner Familie, auf eine billige, armselige Art, die ihm alles andere als Freude bescherte.

Er schlurfte durch den Wohnraum und zog das unterste Fach eines wurmstichigen Wandschrankes heraus. Behutsam, so als hätte er Angst, es zu zerbrechen, entnahm er dem Fach ein Bild. Alt, vergilbt, schwarz-weiß, aber das kostbarste, das er besaß.

Schwer sank er auf die abgewetzte, schmutzige Couch und stellte das Bild vor sich auf den Tisch. Seine Bewegungen wirkten fast andächtig.

Das Bild zeigte eine dunkelhaarige Frau mit eindrucksvollen großen Augen. Henry erinnerte sich noch an das herrliche Braun ihrer Pupillen, die so hart und auch so herzlich dreinschauen konnten. Rechts und links zu ihrer Seite befanden sich zwei hübsche Mädchen, eines davon strohblond mit hellen Augen, so wie er sie besaß, und eines, welches ihrer Mutter zum Verwechseln ähnlich sah.

Mit ihnen würde er Weihnachten feiern, wie er es schon seit Jahren tat. Und er würde auch dieses Mal wieder weinen. Wie er es immer tat.

Und wie es ebenfalls immer geschah, dachte er beim Anblick des Bildes an seinen einst besten Freund, Ben Fritter, der mittlerweile sein größter Feind geworden war. Er hatte keine Ahnung, was damals mit Ben Fritter geschah, aber Henry hoffte zutiefst, dass er nicht mehr am Leben sein möge. Dieser Schuft verdiente es nicht alt zu werden. Möglicherweise war er gestorben, an Krebs, Aids, der Pest. Wichtig allein wäre zu wissen, dass es auf grausame Weise geschah. Er wünschte Ben Fritter keinen schnellen Tod. Oh nein.

Wie schon so oft fragte er sich, was wohl wäre, wenn er ihm eines Tages unverhofft begegnen würde. Würde er ihn überhaupt noch erkennen? Nach all den Jahren?

Ja, dachte er bitter. Ich würde ihn erkennen, und wenn er tausend Jahre alt wäre und sein Gesicht nur noch aus dünnem Pergament bestünde, ich würde ihn erkennen. Außer Ben Fritter gab es niemanden und nichts auf der Welt, worauf Henry Hass empfand. Sämtliche Gefühle dieser Art hob er sich für diesen Mörder auf.

Er versuchte die Tränen mit seinem Hass zu bekämpfen, und er steigerte sich in eine Woge des Zorns hinein, die ihn in einen gewaltigen Magneten verwandelte. Einen Magneten, der Böses anzog.

* * *

Der Dämon des Hasses irrte zielstrebig durch das Gebäude. Er wusste, dass seine Stunde gekommen war. Sein Opfer befand sich irgendwo zwischen den Stockwerken und strömte eine Welle des Hasses aus, außergewöhnlich intensiv und von magischer Anziehungskraft.

Er durchdrang die Mauerwände mehrerer Wohnungen und erkannte schließlich unter sich einen glatzköpfigen Mann, der eine Zigarre rauchte und dazu ein Frühstück aus Toast und Bier zu sich nahm.

Der Dämon drang in die Person ein, sondierte den Gedankeninhalt des Mannes und stellte fest, dass etwas nicht stimmte. Die Gedanken des vermeintlichen Opfers stießen zwar ebenfalls Hassimpulse aus, aber nicht in jener Intensität, die er eben noch empfing. Er beschloss, diesen Mann ebenfalls im Auge zu behalten. Luzifer würde mehr als zufrieden sein, wenn er ihm zwei Seelen liefern konnte.

Die Impulse seines Opfers wurden schwächer. Der Dämon beeilte sich, endlich an das Ziel seiner Wünsche zu gelangen. Er schwebte durch die geschlossene Haustür mit der Nummer 33 und stellte befriedigt fest, dass er hier richtig zu sein schien.

Sein Opfer saß zusammengesunken auf einer Couch und starrte verbissen auf ein Bild, das eine Frau mit zwei Kindern zeigte. Der Dämon drang in den Mann ein und las seine Gedanken. Was er ihnen entnahm, verpasste ihm einen Schreck der Freude. Der gute alte Henry befand sich in einer Phase, welche das Geistwesen regelrecht in Ekstase versetzte. Der Dämon wusste nun, wem der Hass dieses Mannes galt. Er beschloss, ab sofort Weihnachten zu seinem Glückstag zu ernennen.

Weihnachten ist soooo schön.

Zufrieden registrierte der Abgesandte der Hölle, dass Henry das Bild so fest in beide Hände nahm, als wolle er es zerreißen.

»Ben Fritter, du Scheusal, du Bestie, duuu ...«

Ich weiß etwas, was du nicht weißt, ätsch! äffte der Dämon, und keiner hörte ihn.

Doch seine Wissbegierde drängte nach mehr. Geschickt forschte er in Henrys Erinnerungsvermögen, ließ die Vergangenheit seines Opfers Revue passieren, so als nähme er selbst daran teil. Er schwelgte in dessen Erinnerungen, nahm teil an längst vergangenen Tagen, an den schönen und grausamen. Der Dämon begann eifrig zu lernen.

* * *

Zwei zwölfjährige Jungen knieten am Ufer eines klaren Sees. Ihre Eltern saßen ein paar hundert Meter weiter beim Picknick. Das Echo ihrer Stimmen drang zu ihnen hinüber.

Es war Hochsommer und man schrieb das Jahr 1944.

Der blonde Junge holte mit einem vorsichtigen Seitenblick in Richtung seiner Eltern ein kurzes Taschenmesser aus der Hose. Stummes Einverständnis herrschte in den beiden Gesichtern. Als der blonde Junge sich in den Oberarm stach, floss ein dünner Blutfaden hervor. Der schwarzhaarige Junge nahm das Messer entgegen und wiederholte diesen Prozess. Einige Minuten lang saßen sie beieinander, die Arme fest gegeneinander gepresst, und murmelten selbst erdachte Sprüche und Beschwörungsformeln vor sich hin.

»Freundschaft für immer, auf Blut geschworn, jeder für jeden, durch Hecke und Dorn.«

Im Chor sprachen sie diesen Satz am Ende noch ein Dutzend Mal, bis sie sich zufrieden erhoben.

Die Arme um die Schultern gelegt schlenderten sie zu ihren Eltern zurück. Eine jahrelange dicke Freundschaft, noch über die gemeinsame Schulzeit hinaus, hatte begonnen.

Die beiden Freunde hießen Henry Vaughn und Ben Fritter.

(Gedankensprung)

Nebraska, 19. Juli 1952.

Zwei einsame Gestalten irrten durch endlose Prärie, mit nichts als ihrer spärlichen Bekleidung am Leib und den kleinen Rucksäcken auf den Schultern. Der Wirbelsturm kam immer näher und seine Ausläufer verursachten bereits einen stürmischen Hexentanz. Die beiden zwanzigjährigen Burschen klammerten sich verzweifelt aneinander, um nicht wie Blätter davongewirbelt zu werden.

Den Abenteuerurlaub, den sie gemeinsam erleben wollten, wurde nun zu einer Bedrohung für ihr Leben. Der Tornado hielt genau in ihre Richtung, was die beiden zwar nicht sehen, aber erahnen konnten.

Als der Zeitpunkt kam, von dem an Ben und Henry sich nur noch kriechend fortbewegen konnten, gewahrten sie schließlich die immer näher rückende schwarze Säule.

Das Toben des Sturmes machte eine akustische Verständigung bereits in den Ansätzen zunichte, doch sie kannten einander lange genug um sich mit Blicken verständigen zu können. Mit zusammengekniffen Augen sahen sie sich an. Beide wussten, was der andere dachte: Aufgeben. Kapitulation vor den Gewalten der Natur, die sie wie Puppen hochheben und kilometerweit durch den tödlichen Schlund schleudern würden.

In dem Moment, als sie beschlossen, sich niederzulegen, vom Wind davontreiben zu lassen, egal wohin, da tauchte ein Schemen vor ihnen auf. Die aufgewirbelten Staubmassen erlaubten lediglich den Blick auf die eigenen Füße, und so wären sie fast gegen die Wand der Holzhütte gelaufen, die plötzlich vor ihnen stand. Sie nahmen sich nicht die Zeit, zu überlegen, wer hier in dieser Einöde wohl hauste, sondern tasteten sich blind zur Eingangstür vor. Die beiden fielen regelrecht hinein. Erschöpft ließen sie sich zu Boden fallen, wobei Sand und Schmutz aus ihren Krägen rieselte. Nach der Verschnaufpause begannen sie die Behausung, die lediglich aus einem einzigen Raum bestand, zu durchforschen.

 

Sie waren allein.

Die Hütte wurde nicht mehr bewohnt, was man unschwer verkennen konnte, da der Schuppen kahl und leer vor

ihnen lag. Allerdings hatten sie den Eindruck, dass der vorige Besitzer noch vor kurzem hier gewohnt haben musste. Das Holz wirkte gepflegt, wie neu gestrichen. Die Fenster waren dicht. Durch keine Ritze drang Staub und Sand herein, was sehr zu ihrer Erleichterung beitrug.

Das Gefühl der Sicherheit wurde jedoch getrübt durch das Vibrieren und Wackeln der Wände, von denen wohl keine der Macht des Tornados widerstehen würde.

Henry schrie auf, als er aus dem Fenster sah. Ben entrann lediglich ein Stöhnen aus der Kehle, was aber sein Entsetzen nicht minderte.

Wie verängstigte Kinder flüchteten sie in den hintersten Winkel des Raumes und kauerten sich am Boden nieder. Ihre Fäuste fanden zusammen und krallten sich ineinander fest.

»Freundschaft für immer, auf Blut geschworn, jeder für jeden, durch Hecke und Dorn.«

In ihren Herzen trugen sie die erbärmliche Hoffnung, dass dieser Bund sie stark gemacht hatte. Stark genug, um gegen jede Gewalt zu bestehen.

Noch während sie diesen Satz aussprachen brach die Hölle los.

Zwei Augenpaare schlossen sich, zwei Münder flüsterten, sich stetig wiederholend, den alten Schwur. Immer und immer wieder, bis ein berstendes Geräusch sie in endlose Dunkelheit stürzte.

Als alles vorüber war, fauchte der Wind rau und wild durch die Trümmer der restlos zerstörten Hütte. Das Grau des Himmels begann sich zu verflüchtigen und die Sonne gewann wieder an Kraft.

Eine Eidechse huschte über die geborstenen Balken und verschwand in einer Spalte.

Dann, nach unendlich lang erscheinender Zeit, schob sich eine schmutzige, blutverschmierte Hand durch die Trümmer. Bald darauf erschien ein Haarschopf, gefolgt von einem schmerzverzerrten Gesicht.

Henry wuchtete mühsam seinen geschundenen Körper aus dem finsteren Loch heraus. Erleichtert stellte er fest, dass seine Knochen heil waren. Die Quetschungen und Prellungen beachtete er nicht. Sie würden schnell heilen.

Dann durchfuhr ein Ruck seinen Körper. Urplötzlich begann er wie ein Berserker zu wüten. Voller Hast riss er Balken hervor, wühlte sich durch das zerstörte Holz, solange bis er fand, was er suchte.

Stöhnend zog er Bens massigen Körper hervor, in der Hoffnung, dass seine Mühe nicht vergebens war. Behutsam legte er seinen Begleiter nieder und untersuchte ihn nach dem Ansatz eines Lebenszeichens.

»Lass deine verdammten Finger von mir, du Schwuchtel«, knurrte Ben Fritter rau.

Henry machte einen ziemlich dämlichen Eindruck, als er seinem Freund ins Gesicht blickte. Daraufhin brach Ben in lautes Gelächter aus, und nach einiger Zeit musste Henry mitlachen. Das Lachen verursachte Schmerzen, aber es befreite sie von dem Druck der letzten Stunden.

»Alles in Ordnung, nichts gebrochen?« erkundigte sich Henry.

»Glaube nicht, auch wenn mir jeder Knochen weh tut. Das Ding kann uns nicht voll erwischt haben, höchstens gestreift. Ich kann es noch gar nicht glauben, dass wir noch leben. Es ist wie ein Wunder.«

»Vielleicht ist es eines«, erwiderte Henry sinnend. »Der Bund hat Macht. Wir sind unschlagbar solange wir ein Team sind, davon bin ich überzeugt.«

»Freundschaft für immer, auf Blut geschworn. Mann, wir sind die Kings, Henry, du und ich. Wo ist dieser verdammte Tornado, soll nur kommen, wir werden ihm schon zeigen....«

»Ben!« unterbrach ihn Henry mit wehleidigem Lächeln.

»Ja?«

»Halts Maul!«

(Gedankensprung)

Albany (New York), 1956.

Henry Vaughn war aufgeregt wie ein kleines Kind, als er mit der Rose in der Hand vor dem Haus der Familie Rand stand. Zufrieden stellte er fest, dass außer in Marias Zimmer keine Beleuchtung brannte. Die Rands waren nicht zu Hause, es sei denn, sie zogen es vor, bereits um neun zu Bett gehen, was an einem Freitagabend wohl reichlich ungewöhnlich schien.

Nervös betätigte er die Glocke. Während er wartete, dachte er an den letzten Samstag im Oktober, als Maria und er sich in dem kleinen Tanzlokal am Ende der Stadt kennenlernten. Dabei sah er immer noch Bens neidisches Gesicht vor sich und musste im Stillen lächeln. Ben hatte mit ihr einige Male getanzt und sie schien seinen Freund recht nett zu finden. Aber eng umschlungen, die Lippen nur Millimeter voneinander entfernt, vor Erregung bebend, so tanzte sie nur mit ihm.

Sie trafen sich noch des Öfteren, und meistens war Ben dabei. Die Zündschnur war vorhanden, es fehlte nur der entscheidende Funke. Henry mochte ihre Zurückhaltung. Was er allerdings weniger mochte, waren Bens ausgehungerte Blicke.

Henry wartete und wartete, und er wartete auch noch nach dem dritten, dem vierten und dem fünften Läuten.

Sorge machte sich breit in ihm. Hoffentlich war nichts passiert, schließlich befand sie sich allein im Haus und würde sich nicht helfen können, wenn ...

Kurzerhand fasste er einen Entschluss und stieg, nachdem er sich vergewisserte, dass er nicht beobachtet wurde, über den meterhohen Gartenzaun. Leise pirschte er sich an die Seitenfront des Hauses, direkt unter Marias Fenster.

Als er die spitzen Schreie vernahm, krampfte sich sein Magen zusammen. Um Gottes willen ...

Die Vorhänge waren zugezogen, aber der kleine offene Spalt genügte für einen Blick ins Innere.

Was er sah ließ das Kartenhaus der roten Herzen zusammenbrachen wie einst der Tornado die Hütte in der Wildnis Nebraskas.

Maria lag schreiend und stöhnend quer auf ihrem Bett, die feingliedrigen Finger verkrampften sich in ihr langes schwarzes Haar. Auf ihr lag Ben Fritter, der sich gerade anschickte, ihr seinen Liebesstab zwischen die Schenkel zu stoßen.

Entsetzt wich Henry einige Schritte zurück, und er verlor zum ersten Mal in seinem Leben total die Beherrschung.

»Du Schwein! Duuu verdammmtes Schwwwein! Ben Fritter, ich hasse dich, du perverse Drecksau! Du Schwweiiinnn! Was hast du getan, was hast du getan, oh Gott! Verflucht seid ihr alle beide, Ben Fritter, du und diese verfluchte Hure. Hure! Hure!«

In seiner Wut spürte er nicht, wie die Tränen von seinen Wangen liefen. Umso deutlicher erkannte er aber, wie sehr er sich in dieses Mädchen verliebt hatte. Die Enttäuschung wäre vielleicht nicht ganz so groß gewesen, wenn es nicht ausgerechnet Ben Fritter gewesen wäre, vom dem sie sich bumsen ließ.

Während er schrie wurde der Vorhang zurückgezogen. Er sah in das entsetzte Gesicht Bens, der, nun mit einer Hose bekleidet, zu ihm hinausstarrte.

Henry hielt es nicht mehr aus, sondern rannte blindlings davon. Zurück ließ er eine zertretene Rose und zwei verstörte Menschen.

Henrys Ziel war Harrys Pub, seine Stammkneipe.

Und Bens.

Aber dieser würde sich heute sicherlich nicht mehr hierher wagen.

Er trank einen Whisky nach dem anderen, aber der Zustand, der das große Vergessen einleitete, wollte sich einfach nicht einstellen.

Nachdem er eine Weile vor sich hingebrütete hatte, schob sich eine massige Gestalt neben ihn auf einen der Barhocker und klopfte ihm sanft auf die Schulter. Henry sah nicht auf. Es interessierte ihn nicht die Bohne, wer etwas von ihm wollte.

»Henry!«

Henry zuckte zusammen, als er die Stimme erkannte und reagierte automatisch.

Seine Linke fuhr knallhart in Bens Visage und zertrümmerte einen Schneidezahn. Der zweite Schlag fuhr in die Magengrube, und der dritte Hieb erfolgte von Seiten Bens.

Henrys rechtes Auge brannte wie Feuer. Leicht benommen erkannte er die bereits erneut auftauchende Faust. Der Schlag traf ihn am Brustkorb und warf ihn von den Beinen. Während er fiel gelang es ihm, seinen Fuß in Bens Kniekehle zu hangeln. Hart schlugen beide zu Boden.

Die Leute an der Bar sahen interessiert zu. Niemand dachte daran einzugreifen. Harry, der Mann an der Bar, hielt sich ebenfalls zurück, schüttelte allerdings nichtverstehend mit dem Kopf. Er kannte die beiden nur als dicke Freunde und wollte nicht begreifen, von welchem Teufel diese beiden Jungs auf einmal geritten wurden.

Henry gelang es, sich auf Ben Fritter zu werfen und ihm einen Hieb zu versetzen, der ihn für Sekunden geistig ausschaltete. In Reiterstellung saß er auf ihm und seine Arme arbeiteten wie Dreschschlegel. Er war wie von Sinnen und verrichtete sein Werk wie ein Roboter. Er drosch auch noch, als ihn starke Hände von Bens Körper herunterrissen und davonschleppten. Sie setzten ihn kurzerhand vor die Tür, ebenso wie Ben, der noch benommen vor sich hin glotzte.

»Wenn ihr euch schon umbringen müsst, dann nicht hier drinnen, kapiert?« hörten sie noch Harrys Stimme aus dem Hintergrund bevor die Tür hinter ihnen zufiel.

Erschöpft saßen die beiden am Rande des Rinnsteins und schnauften wie nach einem Gewaltmarsch. Schließlich, als sie wieder ein wenig bei Kräften waren, sahen sie stumm vor sich hin, ohne sich eines Blickes zu würdigen.

Ben war es, der dem Schweigen ein Ende bereitete.

»Freundschaft für immer, auf Blut geschworn. Der Bund, erinnerst du dich, Henry?«

Henry lachte bitter auf.

»ICH habe mich immer daran erinnert. Mir war nur nie bewusst mit was für einem Arschloch ich diesen Schwachsinn einging.«

»So darfst du nicht reden, Mann. Das ist ganz große Scheiße, wenn du..«

»WAS ist ganz große Scheiße, Mann?« fuhr Henry auf. »Das ich zufällig gesehen habe, wie mein bester Freund mit dem Mädchen vögelt, das ich ... oh verdammt«.

Henry versuchte krampfhaft die aufsteigenden Tränen zurückzuhalten.

»Ich war mit ihr verabredet. Wie konnte sie das nur vergessen? Sie hat mit mir gespielt, sie wollte, dass es geschieht. Sie wollte, dass ich mitansehe, was ihr zusammen treibt. Deshalb hat sie auch nicht geöffnet, obwohl ich mehrmals läutete. Und du hast mitgemacht bei dieser Schweinerei. Du bist nicht besser als alle anderen, bis auf den Unterschied, dass es dir gelungen ist, mich jahrelang zu täuschen. Herzlichen Glückwunsch.«

»Es war alles ganz anders. Lass mich es dir erklären, bitte, danach kannst du meinetwegen fortlaufen und mich aus deinem Leben schmeißen, aber lass es mich erklären.«

Henry lachte kurz und trocken.

»Rede was du willst, aber erwarte nicht, dass ich dir nach dem was geschehen ist noch ein Wort glaube.«

Ben holte tief Luft.

»Ich hab‘ Maria zufällig aufgelesen, als sie aus der Fabrik kam. Da ich wusste, wie lange die Leute dort immer auf ihren Bus warten mussten, hab’ ich sie heimgefahren. Ihre Alten waren nicht da, und sie fragte mich, ob ich nicht kurz mal mit reinkäme, sie hätte was mit mir zu bereden.«

 

»Soso.«

»Von wegen soso. Es ist nicht das, was du denkst. Sie wollte mich über dich aushorchen, was du so redest über sie und so weiter. Muss zugeben, hat mir schon gestunken, wie die Kleine auf dich abgefahren ist, aber es hielt sich in Grenzen. Schließlich sind wir die besten Freunde, der Bund und so, weißt ja. Nun, ich war nicht gerade gesprächig, und da fragte mich die Kleine, ob ich ein bisschen Gras wollte. Nur wenn sie mitrauche, habe ich gesagt, und so kamen wir dann gut ins Gespräch. Die Zeit verging wie im Flug, wir redeten über allen möglichen Unsinn ... und über dich natürlich.

Dummerweise kam ich, nachdem wir beide schon ziemlich stoned waren, auf den Gedanken, dass ich noch 'ne Flasche Scotch im Wagen hatte. Na gut, so kam es, dass die Zeit noch schneller verging. Bald ging mir ihre Fragerei ziemlich auf die Nerven. Ich fragte sie, was an mir so verkehrt wäre. Sie war stoned, ich war stoned, und du weißt ja selber, wie geil dieses verdammte Zeug einen macht. Ich versuchte mich an sie heranzumachen, doch sie meinte nur, sie hätte eine Verabredung. Mit dir.

Mann, hab’ ich ihr Scheiße erzählt, und sie war in einem Zustand, in dem sie alles glaubte. Ich machte ihr weiß, dass es besser wäre, von einem guten Bekannten entjungfert zu werden, als von dem Mann, den man liebte. Die Schmerzen beim ersten Mal und so, dass es nicht schön wäre, den ersten Abend mit dem Lover sich durch diese blutige Angelegenheit zu versauen. Angeberisch prahlte ich damit, dass ich in so was Erfahrung hätte, und du, nun ja, ein ziemlich grüner Bengel bist, der noch nie ... na, du weißt schon.«

»Gott, was erzählst du da für einen Mist. Du erwartest doch nicht im Ernst, dass ich dir DAS abnehme?«

»Du musst. Es war eine wirklich urkomische Situation, in die wir beide da hineinschlitterten. Sie ließ es zu, dass ich ihre Brüste berührte. Schließlich bat sie mich es ihr zu machen. Sie zu entjungfern, damit sie es hinter sich hätte, wenn sie mit dir ... Lieber Gott, schau nicht so, sie ist keine Nutte, sie war lediglich stoned und hatte eine halbe Flasche Scotch intus.«

»Hast du's getan? Hast du in ihr ...?« fragte Henry leise.

»Nein, du hast es verhindert. Es war gut so. Es tut mir leid, Henry, sehr leid. Verzeih mir, es war fies und gemein.«

Henry saß eine Weile stillschweigend da und überlegte.

»Du lügst«, meinte er schließlich.

»Ich lüge nicht. Mit deinem Auftritt hast du uns so einen Schock eingejagt, dass wir wieder reinen Kopf erhielten. Wir kamen uns ganz schön bescheuert vor, das kannst du glauben.«

»Oh, DAS tut mir aber leid!« zischte Henry gehässig.

»Du glaubst mir nicht?«

»Nein, nie mehr!«

Plötzlich drang von der anderen Straßenseite eine weibliche Stimme zu ihnen herüber. Sie klang ein wenig verweint und kläglich, aber sie verpasste Henry einen gewaltigen Stich ins Herz.

»Henry!«

»Maria!«

Sie stand ihm gegenüber, auf der anderen Seite der Straße, eine dünne Jacke über ihrem dünnen Kleidchen. Sie fror erbärmlich, und er sah im Licht der Laterne das Schimmern ihrer Tränen. Ohne ein weiteres Wort ging er zu ihr hinüber. Ben Fritter sollte nie erfahren, was in den nächsten Stunden gesprochen wurde.

Eineinhalb Jahre nach diesem Ereignis heiratete Henry Vaughn die zwanzigjährige Maria Rand. Als Trauzeuge fungierte Ben Fritter.

(Gedankensprung)

Vietnam, 1964.

Gegen das, was die beiden Soldaten Ben Fritter und Henry Vaughn in der Hölle des Vietnamkrieges erlebten, mutete ihr Erlebnis mit dem Tornado wie ein lustiges Kinderspiel an.

Beide waren bereits über dreißig Jahre alt und hatten es bis zum Captain gebracht. Jeder von ihnen führte seine eigene Einheit durch die brodelnde Hitze des kambodschanischen Dschungels. Zum ersten Mal befanden sich die beiden in größter Gefahr allein. Damit verlor der Bund seine magische Wirkung und machte sie verletzbar. Doch die Verantwortung ließ ihnen keine Zeit, allzu oft darüber nachzudenken. Das Schicksal sollte sie jedoch in kürzester Zeit wieder vereinen.

Captain Fritter geriet mit seiner Einheit in einen Hinterhalt der Vietcong. Die zweiunddreißig Mann starke Gruppe wurde in einem blutigen Gefecht bis auf zehn Mann reduziert. An den Qualen der Folter starben weitere sechs Männer, nachdem man sie in einem Lager des Feindes gefangen hielt. Schließlich lebte nur noch der Befehlshaber: Ben Fritter.

Wenige Sekunden vor der Exekution durch Enthauptung überfiel Captain Henry Vaughn mit seiner Mannschaft das feindliche Fort. Nur ein knappes Dutzend Soldaten überlebte den Kampf. Inmitten des Kampffeldes, zwischen all dem Blut und Gedärm, standen zwei Männer, die ihre Fäuste vereinten und gen Himmel streckten.

»Freundschaft für immer, auf Blut geschworn, jeder für jeden, durch Hecke und Dorn.«

Der alte Kinderreim besaß wieder seine Wirkungskraft. SIE hatten überlebt. Der Bund war unbesiegbar.

Gemeinsam kämpften sie sich weiter durch diese Hölle, mit sich führend ein Dutzend gefangene Vietcong, die ihnen möglicherweise noch nützlich sein konnten.

Das Ende des Bundes rückte immer näher, aber weder Henry noch Ben ahnten etwas davon.

Nach zweiwöchigem Marsch und erfolgreichen Gefechten mit dem Feind erreichten sie das Dorf. Hank, der Funker, meldete, dass es ihm noch nicht gelungen sei, das defekte Funkgerät zu reparieren. Ihre Mägen verlangten nach Nahrung und ihre Ausrüstung nach neuen Waffen. Dieses Dorf kam ihnen gelegen. Sie beschlossen jedoch erst auf die Nacht zu warten und dann zuzuschlagen.

Stunden später war es soweit. Henry gab den Männern noch einige Instruktionen, die er mit Nachdruck bekräftigte.

»Wir benötigen Nahrung, Waffen und Munition. Ich habe in diesem Krieg Dinge erlebt, die zum Himmel stinken. Ich wünsche kein Blutvergießen unter der Zivilbevölkerung, ebenso wenig Vergewaltigungen oder sadistische Quälereien. Sie stehen unter dem Kommando von Captain Fritter und meiner Wenigkeit. Bei Nichtbeachtung dieser Befehle haben Sie sich vor dem Kriegsgericht zu verantworten.«

Henry erwartete, dass Ben einige zustimmende Worte sprach, erntete aber nur einen Blick, der ihm alle Rätsel dieser Welt aufgab. Er kannte diesen Blick, der nicht mehr oder weniger besagte, dass Ben seinen Standpunkt nicht teilte. Aber das konnte doch wohl nicht sein.

Oder?

Mit einem flauen Gefühl im Bauch zog er los.

Der Überraschungsangriff erwies sich als voller Erfolg. Die Vietcongs dachten nicht einmal an Gegenwehr. Die jungen Männer des Dorfes befanden sich alle im Krieg. Kinder, Frauen und runzlige alte Gestalten waren die einzigen Bewohner.

Sie durchstöberten die Hütten und ihre Vorratsbunker nach Nahrung und Waffen. Es gab nicht wenig zu erbeuten. Die Soldaten lachten zufrieden und schaufelten massenweise Reis in sich hinein. Die Hühner, Ziegen und Schafe wurden sofort geschlachtet und ausgeweidet. Ihnen allen lief das Wasser im Munde zusammen. Sie besaßen nun für längere Zeit Proviant und Munition.

In all dem Gewimmel bekam niemand mit, dass Ben mit einer etwa dreizehn Jahre jungen Vietnamesin in einer Hütte verschwand.

Henry versuchte verzweifelt eine Verständigung mit den Einwohnern zu erzielen, aber ihm schlug nur Verachtung und Hass entgegen. Und Angst. Seine Versuche, sie von ihrer Friedfertigkeit zu überzeugen, schienen nach mühevollen wort- und gestenreichen Ausführungen schließlich doch noch zu fruchten.

Da ertönte auf einmal dieser markerschütternde Schrei. Die Soldaten griffen nach ihren Waffen, auch Henrys Hand fuhr zum Kolben. Dann erfolgte jene Szene, die Henry Vaughn sein ganzes Leben lang verfolgen würde. Das Ende des Bundes vollzog sich binnen Sekunden.

Ein halbnacktes Mädchen stürmte wimmernd aus dem Eingang einer Hütte. Hinter ihr her taumelte Ben, aus seiner Hose hing sein blutendes Glied. Sein Kopf glich einem Feuerball. Henry blickte verständnislos auf die Waffe in Bens Hand. Alles ging so wahnsinnig schnell, und ehe Henry wieder zu sich kam, schoss Ben dem Mädchen zweimal in den Rücken.

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