Brut des Bösen

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Das Labyrinth

»Inspektor, sagen Sie mir ehrlich, was können das für Menschen sein, die sich einen dummen Scherz daraus machen, die Körper von Toten zu stehlen. Ist unsere Gesellschaft schon so tief gesunken, dass man selbst vor Leichenfledderei nicht mehr zurückschreckt? Hören Sie, ich bin jetzt seit vierzig Jahren Priester und nehme mein Amt und die Lehren unseres Herrn Jesu ernster als manch anderer, der diese Robe trägt. Aber fragen Sie mich nicht, was ich tun würde, wenn mir diese Kerle über den Weg liefen.«

Mike Tipton verstand Pater Rewitt nur zu gut, da ihn ähnliche Gefühle plagten, wenngleich auch aus anderen Gesichtspunkten. Nie im Leben würde er die Gesichter Lesters und seiner Frau vergessen, als er ihnen von dieser Angelegenheit Mitteilung machte. Nicht schlimm genug, dass der Körper ihrer Tochter von einem Sattelschlepper aufgerissen und halbiert worden war, so dass dieser nur provisorisch zusammengeflickt werden konnte. Man raubte den Leichnam Jennifers, und damit ihren Eltern das Gefühl, künftig trotz allen Leides bei ihr zu sein, wenn man ihr Grab pflegte, zu ihr sprach und betete.

Tipton besuchte unter anderem die Eltern des Jungen, die mit ähnlichen Gefühlen reagierten. Die Elternpaare untereinander pflegten seit dem Geschehen ein enges Verhältnis. Die gemeinsame Trauer um ihre Kinder verband sie zu Leidensgefährten. Niemand gab dem anderen die Schuld, außer sich selbst. Nun hatten sie ein weiteres bitteres Los miteinander zu teilen: den Diebstahl der beiden Leichen.

»Ich frage Sie noch mal, Inspektor, was sind das für Menschen? Wissen Sie eine Antwort?«

Mike sah den Priester offen an. Er bemerkte dessen ohnmächtigen Zorn über dieses gemeine Verbrechen.

»Wenn Sie eine Antwort darauf wollen, wer dies hier getan hat, so muss ich Sie enttäuschen. Aber, Pater, dieser Fall ist nicht der einzige und wird leider Gottes sicherlich auch nicht der letzte bleiben. Ich habe in meiner Laufbahn Derartiges schon öfter erlebt. Nicht so häufig wie ein Gewaltverbrechen, Mord oder Raub, aber immerhin. Die Motive sind völlig unterschiedlich. In den meisten Fällen handelt es sich um eine makabere Art von Mutprobe, durch die sich die Jungs Ansehen und Gleichberechtigung innerhalb einer Gruppe verschaffen wollen. In anderen Fällen handelt sich lediglich nur um einen dummen Scherz von Kiffern und Rowdys, die die Sache besonders aufregend und geil finden. Dann gibt es noch gewisse Sekten, Teufelsanbeter oder andere Kulte, die die Leichen für ihre Messen benötigen. Ich überlasse es Ihrer Phantasie, sich auszudenken, was diese Irren damit anstellen. Last but not least gibt dann noch eine gewisse Sorte von Menschen, welche die Toten, wie will ich sagen, dafür benötigen, ihre sexuellen Triebe auszuleben.«

»Großer Gott, Inspektor, Sie meinen doch nicht etwa, dass es Menschen gibt, die ihre Fleischeslust an Leichen ausüben? Es liegt mir fern, Sie als Lügner hinzustellen, Mr. Tipton, verstehen Sie mich nicht falsch, ich habe von solchen Dingen auch schon in der Zeitung gelesen. Aber ich bringe es nicht fertig, an derart Abartiges zu glauben.«

»Es gibt sogar einen Namen für diese Art von Neigung: Nekrophilie. Sex mit Leichen. Ich glaube allerdings nicht, dass wir es hier mit einem derartigen Fall zu tun haben. Menschen dieser Klasse brechen normalerweise in Leichenhäuser ein, vergehen sich an den Toten und verschwinden wieder. Solche Kerle stehlen im Normalfall keine Leichen. Ganz ausschließen kann man es aber doch nicht. Meine persönliche Meinung geht dahin, dass wir es hier mit ein paar überdrehten Jugendlichen oder einer Sekte zu tun haben. Leider konnten wir bisher nicht die geringsten Spuren entdecken. Auf dem schotterigen Kiesweg lassen sich nur schwer irgendwelche Abdrücke finden. Wir tun unser Bestes, Pater, das verspreche ich Ihnen. Mir selbst liegt aus persönlichen Gründen einiges daran. Der Vater des toten Mädchens ist mein bester Freund.«

»Das tut mir leid«, erwiderte der Priester bedrückt. »Versprechen Sie mir, sollten Sie diese Burschen erwischen, mir die Gelegenheit zu geben, persönlich mit Ihnen zu reden. Ich muss es einfach tun und mir läge viel daran, wenn Sie diesem Wunsch entsprächen.«

Tipton sah den Geistlichen sinnend an und nickte dann.

»Geht in Ordnung, Pater, aber erst müssen wir die Täter haben.«

»Sie schaffen es«, meinte Rewitt zuversichtlich. »Ich weiß, dass Sie sie kriegen werden. Ich hoffe es alleine schon der Toten wegen, die solange keinen Frieden finden werden bis diese Schande getilgt ist.«

Tipton stimmte dem Pater zu, obwohl er anders über diese Dinge dachte. Er war kein besonders gläubiger Mensch. Wenn er auch in gewisser Weise an die Allmacht eines Gottes glaubte, so war er doch felsenfest der Ansicht, dass es nach dem Tode nur einen Weg zu gehen gab: den unter die Erde.

Der Inspektor verhörte noch den Totengräber, eine ziemlich heruntergekommene Gestalt mit derber Ausdrucksweise, die penetrant nach Whisky stank. Hendrik Ryder hieß der Mann, und was er zu erzählen hatte, erfuhr Mike bereits durch den Priester.

Etwas missgelaunt fuhr er zum Yardgebäude zurück, wo er sich sofort hinter seinen Schreibtisch stürzte.

Der Leichendiebstahl kam ihm zum jetzigen Zeitpunkt alles andere als gelegen, da sich der Stapel auf seinem Schreibtisch zu häufen begann. Er hatte Mühe, die verschiedenen Fälle nicht durcheinander zubringen.

Er wurde bei seiner Arbeit unterbrochen, als das Telefon anschlug. Unfreundlich meldete er sich und stellte unwillig fest, dass sein hoher Boss sich am anderen Ende der Leitung befand.

»Tipton, auch wenn es Ihnen schwerfällt, ich möchte Sie sprechen. Kommen Sie in fünf Minuten in mein Büro, einverstanden?«

Obwohl sein Vorgesetzter mit überaus höflicher Stimme sprach, so hörte Mike doch den fordernden Unterton sofort heraus. Er bestätigte und legte auf. Er hatte so eine dumpfe Ahnung, weshalb ihn sein Boss zu sich bestellte.

Owen Garrison saß in lockerer Haltung in dem großen Bürosessel und wirkte wie ein vor sich hindösender Grizzlybär. Seine massige Figur, die zum Teil aus Fett, zum Teil aus Muskeln bestand, und in aufrechter Haltung immerhin knappe zwei Meter maß, füllte den Sessel voll aus. Das Gesicht seines Chefs erinnerte Mike Tipton jedes Mal erneut an Spike, den beißwütigen Hund aus Tom und Jerry.

Ein schütterer grauer Haarkranz umgab den runden Schädel. Augenbrauen und Wimpern fehlten, ein Anblick, der den Inspektor stets ein wenig irritierte, weil es so überaus befremdend wirkte. Die kleinen Augäpfel lagen tief in den Höhlen verborgen, was Mike ebenfalls verunsicherte, da er es vorzog, einem Menschen beim Gespräch in die Augen zu sehen. Die Nase erinnerte wiederum an Spike, den Hund, denn sie war ebenso groß und blähte sich immer dann auf, wenn sich der Superintendent aufregte. Die dicken Lippen gaben dem ganzen Gesicht zu seiner Hässlichkeit zusätzlich einen etwas brutalen Ausdruck.

Superintendent Garrison befand sich erst wenige Wochen in seinem Amt, und Mike erwischte sich immer wieder, dass er Vergleiche zu ihrem alten Boss zog, zu dem er ein gutes, freundschaftliches Verhältnis gepflegt hatte. Bis zu jenem Tage, an dem er hinter seinem Schreibtisch einen Herzinfarkt bekam, von dem er sich nicht wieder erholte. Es war der dritte Anfall gewesen, und dieser brachte ihn schließlich um. May, seine Sekretärin, fand ihn mit verzerrten Gesichtszügen neben dem Schreibtisch liegend. Mike traf es hart, als er mit ansah, wie man seinen Boss in ein dunkles Loch hievte und Erde darüber häufte.

Aber die Achtung und Freundschaft zu seinem damaligen Chef gab nicht den alleinigen Ausschlag, warum er den neuen Superintendent ablehnte. Er besaß er keinen Grund, ihn nicht zu mögen, da dieser sichtlich einen Narren an ihm gefressen hatte. Was sich dahingehend nachteilig auswirkte, dass ihm Garrison noch mehr Arbeit aufbürdete, als er so schon verkraftete.

Garrison sah redlich friedlich aus, so wie er hinter seinem Schreibtisch saß, aber Mike erlebte schon einige Male, wie er zu sein vermochte, sobald er in Zorn geriet. Dabei bekam er immer dieses seltsame Funkeln in seinen Augen, das ihn für den Inspektor so unsympathisch wirken ließ. Es kam ihm dann so vor, als würde Garrison am liebsten die Leute der Reihe nach erschießen, die ihn so in Fahrt gebracht hatten. Es erweckte den Eindruck, als würde er seine Mitarbeiter in jenem Augenblick aufs Äußerste hassen. Mike war sicher, dass er sich täuschte, da Garrison sonst allen stets höflich und freundlich gegenübertrat. Doch dieser Ton passte wiederum nicht zu seinem Äußeren, und das war es, so war sich Mike sicher, das ihn unbewusst abstieß.

»Mike«, setzte Garrison in freundlichen Ton an. Die hohe Tonlage seiner Stimme stand im krassen Widerspruch zu seinem Äußeren. Doch es gab keinen Angestellten, der sich auch nur ansatzweise getraut hätte, sich darüber lustig zu machen, nicht mal im Geheimen. Der Boss sah und hörte alles.

»Ich verstehe Sie und Ihre privaten Beweggründe in dieser Sache. Aber muten Sie sich nicht selbst zuviel zu, sich auch noch mit diesem Leichendiebstahl zu beschäftigen? Sie haben genug um die Ohren; den Anderson-Fall, die Mordsache Redstone, die Kindermorde in der Brandon Street. Das Team der Mordkommission kann Sie momentan nicht einen Augenblick lang entbehren. Lassen Sie die Leute von der Kriminalen die Sache regeln, ich bitte Sie. Es wäre mir äußerst unangenehm, Ihnen dies befehlen zu müssen, Mike.«

Mike Tipton unterdrückte das erneut aufsteigende Gefühl der Abneigung, und zwang sich ruhig zu bleiben.

»Sir, Lester Brand ist ein wirklich sehr guter Freund, wir kennen uns schon seit unserer Kindheit. Er hat mich um Hilfe angefleht, diese schreckliche Sache aufzuklären. Ich habe es ihm versprochen, Sir, und bisher habe ich jedes Versprechen gegenüber Freunden eingelöst. Mir ist durchaus klar, dass wir hier alle in Arbeit ertrinken, Sie müssten nur mal den Berg auf meinem Schreibtisch sehen. Ich habe mir vorgenommen, diese Arbeit zu bewältigen, so viel es auch sein mag. Ich glaube, Sie kennen mich gut genug, um meinen Worten Glauben zu schenken. Lassen Sie mich um diese Sache kümmern, Chef. Ich bin es Lester schuldig.«

 

Garrison verzog abermals keine Miene.

»Mike, ich kenne Sie als gewissenhaften, verlässlichen und fleißigen Polizisten. Aber ich kann es einfach nicht zulassen, dass Sie sich nebenbei um diese relativ unwichtige Sache kümmern. Gut, Sie sind mit diesem Mann befreundet, aber diese jungen Menschen sind tot, gestorben durch ein tragisches Verkehrsunglück. Ihre Aufgabe ist die Aufklärung wirklicher Verbrechen. Hier geht es um Morde und darum, zu verhindern, dass weitere geschehen, da die Täter noch irgendwo da draußen frei herumlaufen. Sie müssen sich eingestehen, dass diese Aufgabe Vorrang hat gegenüber zwei gestohlenen Leichen.«

Mike gab seinem Chef innerlich recht, aber er sah ständig das vor Schmerz verzerrte Gesicht Lesters vor sich. Er sah es jetzt wieder nur allzu deutlich, wie es ihn regelrecht anflehte, ihm zu helfen.

»Mr. Garrison, ich werde mich in meiner Freizeit um diese Dinge kümmern, nicht während meiner Dienstzeit. Sie haben mein Wort darauf und ich ihr Vertrauen, dass sie mir glauben.«

Der Mann hinter dem Schreibtisch schüttelte seinen massigen Schädel.

»Ich lege Wert darauf, dass meine Leute ihren Dienst ausgeruht und in äußerster Konzentration verrichten. Worauf ich absolut keinen Wert lege, sind übernächtigte Polizisten, die ihre Arbeit nicht mehr in dem gewünschten Elan verrichten können, der für die Aufklärung hochbrisanter Fälle von Notwendigkeit ist. Um jede weitere Diskussion auszuschließen, so leid es mir auch persönlich für Sie tut: ich verbiete es Ihnen, Nachforschungen zu betreiben, die nicht in Ihr Ressort fallen. Sollten Sie diese Anweisung ignorieren, hat dies unbequeme Konsequenzen in Bezug auf Ihr weiteres Berufsleben. Das wollen wir doch beide nicht, Mike, habe ich recht? Kann ich mich auf Sie verlassen?«

Mike tat so, als überlege er, und willigte ein. Er wusste, welches Risiko er einging, würde Garrison herausfinden, dass er ihn belog. Doch er war es Lester schuldig. Sein Freund hätte für ihn dasselbe getan.

Als er das Büro verließ, glaubte er zu fühlen, wie ihm Garrison mit einem rätselhaften, fast bedrohlichen Blick nachstarrte.

Hendrik Ryder sah nachdenklich auf das Grab vor seinen Füßen. Seit vier Wochen lag an dieser Stelle Bob Norris, ein alter Kumpan von ihm, den er seit vielen Jahrzehnten kannte. Norris‘ Witwe konnte sich kein teures Begräbnis leisten, aber Ryder war davon überzeugt, dass es dem alten Haudegen gleichgültig sein würde, ob er auf Samt oder auf Holz lag. Dennoch bestand der Sarg aus einem massiven Holz, das so leicht nicht verwitterte und die Last der schweren Erde mühelos trug.

Umso mehr fragte sich Ryder, wie die frische Erde einsacken konnte und somit eine hässliche Unebenheit auf der ebenen Fläche des Grabes bildete. Es dämmerte schon, und der Alkohol benebelte die Sinne des Alten bereits so, dass es ihm schließlich zu anstrengend wurde, über diese ärgerliche Sache nachzudenken.

»Ich kümmere ich morgen darum, Bob, versprochen. Heute mache ich ausnahmsweise mal früher Feierabend. Meine Alte und ich feiern heute unseren dreißigjährigen Ehekrieg. Hab’ versprochen, mit ihr essen zu gehen, ich Rindvieh. Weißt du, was das bedeutet, Bob?

Ich werde mich mit diesem ekligen Nass bespritzen und die schützende Schicht leichten Schmutzes entfernen. Dann wird mich meine Alte in Klamotten reinstecken, in denen ich aussehe wie Charlie Chaplin, und wir werden in so ein komisches Lokal reingehen, wo man fünf Portionen bestellen muss, um satt zu werden.

Ach, Bob, alter Junge, du hast es hinter dir. Mach’s gut, wir sehen uns morgen. Ich bringe die Geschichte in Ordnung. Halt die Luft an bis dahin, klar?«

Ryder sah zum Pfarrhaus hinüber und stellte fest, dass noch Licht brannte. Er überlegte, ob er dem Pater schnell mal Guten Tag sagen solle, entschied sich aber dagegen. Es genügte, dass er angetrunken nach Hause kam, eine zusätzliche Verspätung würde das Donnerwetter noch vergrößern.

Ryder schlenderte auf den Ausgang des Kirchhofs zu, die Whiskyflasche unter seinem dünnen Jackett verborgen. Er würde sie auf dem Nachhauseweg beseitigen.

Plötzlich hielt er inne und fuhr sich mehrmals hintereinander mit den Handflächen über die Augen. Das Bild, das sich ihm bot, blieb allerdings standhaft bestehen. Er zählte fünf ... sechs ... sieben ... nein ... acht Gräber, alle eingesackt, wie das seines Freundes Bob. Ohne zu nachzudenken durchquerte er schnellen Schrittes die Reihen der Gräber und entdeckte weitere fünfzehn zusammengefallene Grabstätten.

Ein merkwürdiges Gefühl beschlich den Totengräber. Es erschien ihm wahrhaft unwahrscheinlich, dass innerhalb weniger Stunden so viele Gräber einstürzten. Möglicherweise hätte er sich nicht ganz so viel Gedanken darum gemacht, wenn nicht erst die Sache mit den gestohlenen Leichen passierte. Ryder hielt es für blanken Unsinn, diese beiden Dinge miteinander in Verbindung zu bringen, aber sein sechster Sinn redete immer wieder in beunruhigender Weise auf ihn ein.

Als er an der Haustür des Priesters klingelte, dauerte es ein wenig, bis geöffnet wurde. Ryder vernahm klassische Musik und dachte erst, der Geistliche würde ihn nicht hören. Doch da stand Rewitt schon vor ihm.

»Mr. Ryder, Sie sehen aus, als hätten Sie ein Gespenst gesehen«, meinte der Priester besorgt. »Ist Ihnen nicht gut?«

»Ein Gespenst ist es nicht gerade, Hochwürden. Glauben Sie, Mr. Beethoven würde einige Minuten ohne Sie auskommen? Ich hätte da etwas ... das interessiert Sie bestimmt.«

Mike Tipton besaß nur wenige Straßen vom Yardgebäude entfernt eine kleine Mietwohnung. Sie reichte dem Junggesellen voll und ganz aus. Sein Beruf beanspruchte ihn derart, dass er nicht viel Zeit hinter den eigenen Wänden verbrachte.

Auch am heutigen Abend dachte der Inspektor nicht daran, sich vor den Fernseher zu setzen und auszuspannen. Er saß an seinem Schreibtisch, der in der Ecke des Wohnraumes stand, und wühlte sich durch einen Berg von Papieren. Dabei war er so sehr konzentriert, dass er das Läuten an der Wohnungstür erst beim dritten Mal wahrnahm.

Berufsbedingt hatte er es sich angewöhnt, vor dem Öffnen immer erst einen Blick durch den Spion zu werfen. Er war nicht wenig überrascht, als er eine dunkelhaarige, äußerst gutaussehende junge Dame erblickte, die geduldig darauf wartete, dass man ihr öffnete.

Sie trug ihr dunkles Haar kurz und gelockt, besaß einen vollen geschwungenen Mund, ein hübsches, wohlgeformtes Näschen und grüne Augen, die von innen heraus zu strahlen schienen. Mike begann zu glauben, sie könne mit ihrem stechenden Blick das Holz der Tür mühelos durchdringen. Obwohl Mike von ihrer Figur nicht viel erkannte, war er überzeugt, dass diese nicht weniger aufregend sein würde.

Er öffnete die Tür und begrüßte die unbekannte Besucherin mit einem freundlichen Lächeln. Ein kurzer unauffälliger Blick glitt an ihren langen Beinen hinab, die sich in einer engen Röhrenjeans verbargen. Das Oberteil bestand aus einer modisch geschnitten Lederjacke, die halb offen stand. Das weiße Hemd darunter verreit eine nicht verachtenswerte Oberweite.

»Ich hoffe, ich komme nicht ungelegen, das wäre mir sehr peinlich. Mein Name ist June Emerald, ich bin Reporterin bei London Newspaper. Es gibt da einige Dinge, über die ich mich gern mit Ihnen unterhalten würde. Ich komme aber gerne ein andermal wieder, wenn es Ihnen momentan nicht passt.«

Mikes Blick saugte sich regelrecht an den Augen Junes fest. Fast unbewusst schüttelte er den Kopf.

»Nein, Sie stören nicht, durchaus nicht. Wenn Sie allerdings mit mir über Fälle reden wollen, die unsere Kommission zur Zeit bearbeitet, so muss ich Sie leider enttäuschen, da ich selbstverständlich unter Schweigepflicht stehe. Was allerdings nicht heißt, dass ich Sie nicht auf eine Tasse Tee oder einen Martini einladen würde.«

Sie ist bildhübsch; dachte Mike. Obwohl der Inspektor seit Jahren kein Verhältnis mehr mit einer Frau hatte, so war er deshalb noch lange kein Kostverächter. Der einzige Grund, warum er nach wie vor als Single lebte, lag darin, dass ihm die Zeit für eine Beziehung fehlte.

»Ich nehme die Einladung gerne an. Man hat mir erzählt, Sie seien überaus pressefeindlich eingestellt. Vermutlich bin ich da falsch informiert, sonst würden Sie mich wohl kaum so höflich empfangen, Mr. Tipton.«

»Nun«, meinte Mike etwas zögernd, »das kommt ganz auf den jeweiligen Besucher an. Die meisten von Ihrer Sorte fangen bereits nach dem ersten Satz damit an, einem den Nerv zu töten.«

Inzwischen betrat das Mädchen mit schwingenden Hüften den Wohnraum und sah sich um.

»Wir Reporter werden dafür bezahlt, den Menschen den Nerv zu rauben. Würden wir es anders anstellen, bestünde unser Blatt nur aus leeren Seiten. Sehr gemütlich haben Sie es hier. Sie wohnen allein?«

Mike lauschte auf einen gewissen Unterton im Klang ihrer Stimme, sah sich aber getäuscht.

»Ich wohne allein, richtig. Machen Sie es sich ruhig gemütlich. Was darf ich Ihnen zu trinken anbieten, Miss?«

»Schwarzer Tee mit Zitrone?«, fragte sie schmunzelnd.

»Wie belieben, dauert nur eine Minute.«

Als er die Getränke brachte, hatte sie ihre Lederjacke bereits ausgezogen und saß mit bewusst oder unbewusst aufdringlich übereinandergeschlagenen Beinen auf der kleinen Ledercouch, vertieft in eines der Magazine, die überall verstreut herumlagen. Mike schämte sich fast wegen der Unordnung in seiner Wohnung, aber wie hätte er nur ahnen können, dass ihm eine so aufregende Frau in dieser Stunde noch einen Besuch abstatten würde.

Sie sah auf, als er sich zu ihr setzte. Erneut trafen sich ihre Blicke, wobei dem Polizisten ein wenig mulmig wurde.

»Wie ich sehe, interessieren Sie sich für äußerst außergewöhnliche Dinge. Unheimliche Begegnungen der dritten Art, Astralreisen, versunkene Stätten, Geisterscheinungen. Glauben Sie etwa an das, was in diesen Magazinen steht?«

»Ach wo«, lachte Mike. »Das ist Schund, reiner Blödsinn. Aber irgendwie fasziniert es mich trotzdem. ‘Ghost magazine’, allein der Titel von diesem Schundblatt ist einfallslos und primitiv. Ich kenne den Verleger persönlich, ein echter Spinner sage ich Ihnen. Fragen Sie mich bloß nicht, warum ich mir diesen Wisch kaufe. Wahrscheinlich nur um mich von den wirklichen Dingen des Alltags ein wenig abzulenken. Es ist äußerst aufregend geschrieben und wirkt durchaus informativ. Es gibt mir wahrscheinlich die Art von Kitzel, den ich zur Ablenkung brauche. Sie denken jetzt sicherlich, typisch Junggeselle, stimmt’s, Miss?«

»Nein, wo denken Sie hin?«, erwiderte sie, und es klang ehrlich. »Was wissen wir schon von den Dingen außerhalb unserer sterblichen, vergänglichen Welt.«

Sie reichte ihm die Hand und lächelte erneut ihr hübsches Lächeln.

»Nennen Sie mich einfach June und ich Sie Mike, in Ordnung?«

Mike schlug ein, und er ließ seine Hand länger als beabsichtigt in der ihren. Sie tat so, als hätte sie es nicht bemerkt.

»Ich wollte eigentlich mit Ihnen über den Leichendiebstahl in Bristol sprechen. Sie werden sich jetzt wundern, weshalb ich sofort auf Sie gekommen bin, Mike. Nun, ich hatte die wenig glorreiche Idee, mit ihrem Freund Lester zu sprechen. Er hatte nur sehr wenig Verständnis für mein Interesse, und ich bin überzeugt, er hätte mich sogar verprügelt, wenn ihn seine Frau nicht besänftigt hätte. Sie war es dann auch, die mich an Sie verwies. Hier bin ich also. Es könnte sein, dass ich eine Spur der Kerle entdeckt habe, die Sie suchen.«

Mike verriet mit keiner Miene, wie sehr ihn dieser letzte Satz erregte.

»Das ist natürlich wahnsinnig interessant, June, aber leider nicht mein Ressort. Man hat mir den Fall weggenommen und den dafür zuständigen Behörden übergeben. Mein Chef hat mir allerlei angedroht, sollte ich meine Nase da noch mal reinstecken.«

»Aber Sie denken nicht daran, stimmt’s?«, erwiderte sie mit verschmitztem Grinsen.

»Erzählen Sie mir trotzdem, was Sie wissen?«, fragte Mike und rückte etwas näher.

»Da ich charmanten Männern noch nie widerstehen konnte, kann ich wohl nicht anders. Also, hören Sie gut zu. Ich kenne da einen jungen Mann, ein Verwandter von mir, der sich seit einiger Zeit von den Drogen losgesagt hat und Anschluss an eine Gruppe Jugendlicher suchte, die mit diesem Zeug nichts im Sinn hatte und ihm half, sich wieder in der Gemeinschaft einzugliedern. Nun, er fand sich schnell in eine Gruppe junger, und wie er dachte, ganz normaler Typen ein und verbrachte eine Zeit mit ihnen, die sein ganzes Leben veränderte. Er erlebte einen nie gekannten Zusammenhalt, feste Freundschaft und Treue. So glaubte er jedenfalls.

 

Bis seine Freunde ihn eines Tages darüber aufklärten, dass sie einer Art Sekte angehörten und einem alten Kult huldigten. Sie fragten ihn, ob er nicht Lust hätte, bei einer ihrer Sitzungen teilzunehmen.

Nun, Richard, so heißt der Junge, besaß zu diesem Zeitpunkt bereits soviel Vertrauen zu diesen Menschen, die er immer noch zu seinen besten Freunden zählte, dass er einwilligte. Das Ergebnis war schrecklich und schockierend zugleich für ihn. Aus der sogenannten Sitzung wurde ein Ritual. Es fanden zwar keine Vergewaltigungen, Morde oder Tieropfer statt, wie es bei schwarzen Messen oft der Fall ist, aber was Richard erlebte, war nicht weniger abstoßend.

Die jungen Leute betrieben einen Totenkult. Sie beten und verehren die Toten, aus deren Fleisch sie sich Reinheit, Weisheit, Macht und die körperliche Unsterblichkeit versprechen. Wenn man Richards Schilderungen Glauben schenken darf, was ich auch tue, da ich meinen Cousin kenne, dann aß man als Hauptakt der Zeremonie das Fleisch toter Menschen. Die Leichen wurden vorher aus Labors, Gräbern oder Leichenhallen einfach gestohlen. Während des Rituals steigern sich die Mitglieder in eine derartige Ekstase, die in einer wilden Orgie gegenseitiger sexueller Hingabe eskaliert.

Richard verkraftete all dies nicht und musste sich mehrmals übergeben. Doch dann stellte sich heraus, was für eine Art von Freunden er wirklich gewonnen hatte. Man drohte, ihn zu töten, würde er auch nur ein einziges Wort darüber gegenüber einem Unbeteiligten verlieren. Richard ist mit meiner Hilfe aus dieser Stadt geflohen, nachdem er mir diese Geschichte anvertraute. Die Rituale finden regelmäßig im Keller eines alten, verlassenen Schulgebäudes statt. Und Sie werden es mir nicht glauben, Mike, ich weiß sogar, wo sich dieser Ort befindet.«

Der Inspektor glaubte, seinen Ohren nicht zu trauen. Das, was diese Frau ihm da erzählte, könnte möglicherweise zu einer schnellen Klärung des Falles führen. Was nicht hieß, dass er den Leichen der beiden Jugendlichen damit habhaft wurde. Betrieb diese Sekte allen Ernstes derartigen Missbrauch mit den Toten, so konnte man davon ausgehen, dass sie die Körper oder das was von ihnen übrig blieb, in der Kanalisation versenkten oder verbrannten. Mike würde es nicht fertig bringen, seinem Freund diese Botschaft zu überbringen.

»Das ist verdammt starker Tobak, was Sie mir hier so mir nichts dir nichts auftischen. Hört sich an wie eine Horrorstory. Trotzdem, die Geschichte scheint Ihnen echt ernst zu sein.«

»Glauben Sie mir etwa nicht?«, fragte sie etwas beleidigt.

»Unsinn«, beruhigte er sie. »Was hätte es für einen Sinn, wenn Sie mich belügen würden? Ihnen ist aber doch wohl klar, dass schnellstens etwas geschehen muss. Was haben Sie sonst noch für Informationen? Wissen Sie, wann diese Rituale stattfinden. Um welche Uhrzeit?«

»Warum verlangen Sie nicht gleich, dass ich sie Ihnen auf einem goldenen Tablett serviere?«, meinte die Reporterin belustigt. »Aber Sie haben Glück. Ich habe Richard fast erpressen müssen, damit er die Informationen rausrückte, die ich haben wollte. Die Treffen finden einmal jeden Monat statt, und es beginnt eine Stunde vor Mitternacht. Wenn ich mich nicht täusche, müssten die Typen gerade jetzt, um diese Uhrzeit, wieder eines ihrer grausigen Meetings abhalten.«

Mike fuhr hoch und griff geradewegs zum Telefon.

»Jetzt kann sich Garrison nicht mehr querstellen, ob er will oder nicht. Sie sind mit dieser Sache zu mir gekommen und jetzt ist es mein Ding. Der Alte wird nicht gerade erbaut darüber sein, wenn ich ihn jetzt aus den Federn hole, aber dafür wird er schließlich nicht schlecht bezahlt. Ich möchte Sie bitten, meine Angaben zu bestätigen und im Schnellverfahren meinem Boss genau das wiederzugeben, was Sie mir bereits erzählten. Geht das in Ordnung?«

»Geht in Ordnung! Die ganze Zeit habe ich meinem Cousin zuliebe geschwiegen, damit er sich heimlich aus dem Staub machen konnte, aber jetzt hindert mich nichts mehr, eine dicke Story einzuheimsen.«

Der Telefonanruf verlief kurz und sachlich, und Garrison ließ sich sogar dazu herab, den Inspektor aufgrund seiner prompten Handlungsweise zu loben.

»Sie haben alle Vollmachten, Mike. Fahren Sie mit Miss Emerald beim Revier vorbei und machen Sie alle Leute mobil, die Sie kriegen können. Und sagen Sie der jungen Dame, Sie möchte morgen Vormittag in meinem Büro vorbeischauen, da ich mir ihre Vision der Geschichte noch einmal anhören möchte. Viel Glück, Mike, wäre echt ein toller Erfolg, diese Sektenbrüder hochgehen zu lassen.«

Als er auflegte, stand die Reporterin bereits an der Wohnungstür und hielt in der Hand eine Fotokamera, die sie plötzlich aus ihrer Handtasche hervorzauberte. Als er ihren fragenden Blick bemerkte nickte er kurz.

»Es geht los. Ich gehe davon aus, dass Sie uns persönlich zu diesen Brüdern lotsen möchten, habe ich recht?«

»Darauf können sie Gift nehmen.«

»Seltsam, wirklich äußerst seltsam«, wiederholte Pater Rewitt immer wieder. Ratlos stand er vor den eingesackten Gräbern.

»Seltsam ist noch linde ausgedrückt, Pater«, erwiderte Ryder, der vor Erregung nicht mehr an den Hochzeitstag dachte, den seine Frau heute Abend mit ihm zu feiern gedachte.

»Ich kann es mir nur so erklären, dass es entweder an der Beschaffenheit der Erde oder an den geographischen Verhältnissen liegt. Bodenverschiebung oder kleine Erdbeben, die wir zwar nicht spüren, aber sich doch auf die eine oder andere Weise bemerkbar machen.«

Der Totengräber sah den Priester mitleidig an.

»Den Blödsinn glauben Sie doch wohl selber nicht, Hochwürden«, erwiderte er respektlos. »Erst die verschwundenen Toten und dann die eingefallen Gräber. Mein Gefühl sagt mir, dass hier etwas absolut oberfaul ist an der Geschichte.«

»Aber das hier kann wohl schlecht ein Bösejungenstreich gewesen sein, Ryder. So kenne ich Sie gar nicht, seit wann zeigen Sie sich so ängstlich?«

Ryder schüttelte den Kopf und zog eine Grimasse.

»Fragen Sie mich mal, Pater, ich kann es Ihnen wirklich nicht erklären. Etwas Unheilvolles liegt in der Luft. Es ist, als ob der Wahrhaftige umherschleichen würde und seinen Schabernack mit uns treibt.«

»Mal ehrlich, Ryder, Sie glauben weder an Jesus Christus noch an Gott, noch an sonst etwas auf der Welt. Und da kommen gerade Sie mir mit dem Teufel.«

John Rewitt fand es irgendwie spaßig, dass ausgerechnet Ryder Angst vor dem Teufel haben sollte.

»Gehen Sie nach Hause, Ryder, und morgen bringen Sie die Sache hier wieder in Ordnung. Wenn Sie wollen, lasse ich eine Firma kommen, dann ist es nicht ganz soviel Arbeit für Sie.«

Ryder zog die Luft scharf durch, wobei er sich anhörte an wie ein brünstiges Walross. Rewitt bereute seinen letzten Satz bitter, weil er wusste, was nun folgte.

»Bin ich nicht mehr gut genug? Verrichte ich meine Arbeit zu langsam, sind Sie nicht mehr damit zufrieden? Sagen Sie es ruhig, ich kann’s vertragen. Ist es Ihnen zu altmodisch, noch einen Totengräber in ihrer Gemeinde beschäftigt zu haben, bin ich ...«

»Hören Sie um Himmels willen damit auf, Ryder, ich nehme alles zurück, nur schweigen Sie. Da meint man es gut mit Ihnen und Sie sind auch noch beleidigt. Ich weiß natürlich, dass Ihnen keine Arbeit zuviel ist, und ich bin froh, dass ich Sie habe. Das meine ich ehrlich. Aber jetzt gehen Sie erst mal nach Hause zu Ihrer Frau. Wenn ich mich nicht täusche, hatten Sie erwähnt, dass heute Ihr Hochzeitstag ist. Was ist mit Ihnen, Ryder? Sie sind auf einmal so blass?«

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