Und dann kommst Du dahin an einem schönen Sommertag

Tekst
Przeczytaj fragment
Oznacz jako przeczytane
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa

Deckname »Die Kleine«

Die Familie floh nach Warschau und kam dort zunächst in einem kleinen Zimmer unter. »Wir haben stets in der Hoffnung gelebt, dass der Krieg bald zu Ende ist und wir nach Hause zurückkommen. In Warschau hatten wir viele Bekannte, hauptsächlich Juden. Sie halfen uns sehr in der ersten Zeit. 1940 zogen wir in eine Zweizimmerwohnung um, und dort lernte ich eine Freundin kennen, durch die ich eine Arbeit als Kellnerin in einer Speisewirtschaft bekam. Ich arbeitete dort acht Monate lang, bis mein Vater wieder Arbeit hatte. Dann gab es nur noch Schule. Mein Vater leitete eine Marmeladenfabrik in Warschau. Als er die Fabrik übernommen hat, die viele Jahre geschlossen war, gab er den Menschen Arbeit. Dort wurde Mittagessen gekocht für die Arbeiter. Das war sehr kostbar, denn es herrschte ein furchtbarer Hunger. Auch meine Mutter half den Menschen, denn man brauchte für alles die Lebensmittelmarken. Aus allen Richtungen des Generalgouvernements kamen die Ausgesiedelten, und meine Mutter half mit Lebensmitteln

Mieczysława Jarosz konnte keine offizielle polnische Schule besuchen und ging mit ihren Geschwistern auf ein illegales Gymnasium, das von der polnischen Untergrundbewegung geleitet wurde. Auf den Besuch dieser Schulen stand die Todesstrafe. Um ihre Kinder zu schützen, fälschte die Mutter Ausweise des Arbeitsamts, auf denen ein Arbeitsplatz ausgewiesen war. »Und das Foto, das ich Ihnen gestern zeigte, mein letztes Foto, das war eben für das Arbeitsamt

Mitten im Krieg, auf einer illegalen Schule, schloss Mieczysława Jarosz Ende 1942 mit dem Abitur ab. »Ab 1941 wurde es in Warschau sehr unruhig. Als ich gearbeitet habe, fingen die wilden Verhaftungen auf den Straßen bereits an. Tausende Menschen, junge und ältere, wurden einfach verhaftet. Dann begann die Widerstandsbewegung. Ich bin der Organisation des Arbeitsbündnisses7 beigetreten und danach der Militärorganisation Bund des Bewaffneten Kampfes8, der späteren Armia Krajowa9

Ihr Verbindungsmann zur Untergrundorganisation war ein Schneider. »In seiner Werkstatt leistete ich meinen Eid, ich bekam meinen Decknamen, und er nahm mich in die Organisation auf. Mein Deckname war Mała, das hieß ›Die Kleine‹.«

»Auf dem Block empfing uns Marta Baranowska«

Es kam aber nie dazu, dass Mieczysława Jarosz an konkreten Aktionen des Widerstands teilnahm, denn kurz nach ihrem Eintritt in die Organisation wurden alle Mitglieder während einer Versammlung verhaftet. Sie waren von einem polnischen Ingenieur verraten worden. Bei einem der Verhafteten wurde eine Liste gefunden, auf der auch ihr Name stand.

Am 19. Januar 1942 wurde Mieczysława Jarosz verhaftet. »Ich hatte Angst. Man hat mich um elf Uhr nachts verhaftet und mit dem Wagen zur Gestapo gebracht. Dort warf man mich in den Keller. Ich war die Elfte. Irgendwann spät in der Nacht wurden wir mit einem Wagen zum Gefängnis gebracht. Dabei bekam ich zum erstenmal kräftige Schläge auf den Rücken. Man brachte uns zum Pawiak-Gefängnis. Dort wurden wir registriert und in die Frauenabteilung gebracht. In dieser Nacht wurden 56 Frauen und 150 Männer verhaftet. Alle Männer wurden erschossen. Im Lager erfuhren wir, dass der Verräter ungefähr ein Jahr später liquidiert wurde. Die Partisanen kriegten ihn – und töteten ihn

An diese erste Zeit im Gefängnis hat Mieczysława Jarosz furchtbare Erinnerungen. »Die Nächte waren nie ruhig, denn unser Gefängnis lag im Ghetto, vis-a-vis waren noch jüdische Häuser; jede Nacht wurde jemand von den Juden geholt und furchtbar gefoltert. Zunächst schoss man, dann folterte man. Diese Schreie, der Lärm, das Jammern der Menschen – schrecklich. Das wiederholte sich Nacht für Nacht, das konnte man kaum aushalten. Als die Nachricht kam, dass wir abtransportiert werden, freuten wir uns, dass wir diese Quälereien nicht mehr würden hören müssen

Ende Mai 1942 mussten sich alle weiblichen Häftlinge im Gefängnishof für den Transport versammeln. Der Sondertransport aus Warschau mit 309 Frauen kam am 31. Mai 1942 im Frauen-KZ Ravensbrück an10. »Auf dem Block empfing uns Marta Baranowska. Es war der Block 13, mein erster Block, und sie war meine erste Blockälteste. Es begann mit der Quarantäne, während der wir nicht zur Arbeit gingen. Wir schliefen zwar zu dritt auf zwei Betten, aber wir hatten sogar noch blauweiß karierte Bettwäsche. Aber das war bald zu Ende; dann gab es nur noch Wolldecken

»Alle, alle aßen wir auf!«

MIECZYSŁAWA JAROSZ: »Im Lager erfuhren wir durch Marta Baranowska, dass unser Transport ein Todestransport war und dass wir, die sechsundfünfzig aus meiner Gruppe, zum Tode verurteilt waren. In der politischen Abteilung arbeiteten Polinnen, die sie gleich benachrichtigt hatten. Keine wusste, wie lange wir noch im Lager zu arbeiten hatten, denn zunächst musste man dort arbeiten, und dann wurden von Zeit zu Zeit die Urteile vollstreckt. Wenn wir alle beim Appell standen, wurden Namen aufgerufen, und dann war klar, wer erschossen werden wird

Am 7. Juli 1942 wurden in Ravensbrück sechs Polinnen standrechtlich erschossen.11

Mieczysława Jarosz arbeitete in der ersten Zeit als ›Verfügbare‹ bei der Planierung und im Straßenbau, schleppte ungeheuer schwere Steine und Felsblöcke. »Polnische Anweisungshäftlinge führten verschiedene Kommandos an. Sie stellten die Listen zusammen, damit wir außerhalb des Lagers arbeiten konnten. Ich fuhr aufs Land, zu Bauern, die uns mieteten. Dort wechselten die Kommandos ständig, weil man uns dort eine Suppe gab. Wir tauschten immerzu miteinander, damit möglichst viele von uns diese Fahrten und diese Suppen nutzen konnten, denn es herrschte ein schrecklicher Hunger im Jahr 1942

Irgendwann fuhr Mieczysława Jarosz auch mit einem Kommando nach Hohenlychen, um im Garten des dortigen Sanatoriums zu arbeiten. An einen Tag hatte sie besondere Erinnerungen und erzählte lachend, dass der sehr gütige Gärtner ihr ganzes Kommando zur Ernte in ein Gewächshaus brachte. »Er ließ uns in die Orangerie, wo Tomaten wuchsen. Ich erinnere mich noch heute, dass wir nicht einmal anstandsweise eine Tomate hängen ließen. Alle, alle aßen wir auf! Er sagte kein Wort, nichts. Doch ein zweites Mal ließ er uns nicht hinein

»Nach vorne«

Mieczysława Jarosz arbeitete bis zum 25. September 1942 in Hohenlychen. »An diesem Tag habe ich die zweite Freundin verloren – die erste war bereits im Juli erschossen worden. Malgosia Dembowska wurde zusammen mit ihrer Mutter erschossen.12 Da brach ich zusammen. Das berührte mich so tief, dass ich sagte, dass ich nicht weiterarbeiten würde. Ich versteckte mich im Stroh – und dort unterhielt ich mich im Geiste mit meiner Mutter und klagte ihr, wie hungrig ich sei; hin und wieder weinte ich. Dann schlief ich ein. Auf einmal schreit jemand und ruft mich. Es stellte sich heraus, dass ich sofort nach vorne gehen soll. Ich war verwundert: Was ist denn los, soll ich entlassen werden? Man sagte mir, dass eine der Blockältesten eine Stubenälteste bräuchte. Meine polnischen Kameradinnen standen zu der Zeit alle vor der Schreibstube, denn die Langefeld sollte sie für die Küchenarbeit bestätigen; sie hatten bereits die Untersuchungen hinter sich, die bestätigten, dass sie gesund waren. Die Langefeld wollte jemanden empfohlen bekommen, und dann fiel wohl mein Name. Sie fragte, auf welchem Block ich sei, und schickte gleich eine Polizistin, um mich zu holen. So kam ich zur Langefeld. Ich war empört, dass eine fremde Blockälteste etwas von mir wollte. Langefeld kam auf mich zu und gab mir eine Armbinde. Ich wollte diese Armbinde nicht nehmen, und da sagte die Blockälteste: ›Nimm!‹ ›Warum?‹, fragte ich daraufhin. ›Du bist jetzt die Stubenälteste, nimm und geh raus!‹ So ging ich raus. Sie war wie ein Soldat, diese Blockälteste. Aber erst gegen Abend brachten mich die Kolleginnen hin, denn ich weinte sehr, dass ich von diesem Block weggehen musste. Wir waren wie eine Familie, und nun sollte ich gehen. Das war furchtbar für mich! Auf dem neuen Block, das war der Block Nummer 11, wurde ich Stubenälteste. Wanda Krause, die Blockälteste, wurde meine Lagermutter. Sie sagte: ›Ich bin nun deine Mutter, und ich werde für dich sorgen.‹«

Oftmals kümmerten sich ältere Frauen um jüngere. Sie taten es aus Mitleid, aus der Erinnerung an die zurückgelassenen eigenen Kinder oder um ihrem Leben im Lager einen Sinn zu geben. »Ich fühlte mich bei ihr geborgen, denn sie schützte mich vor schwerer Arbeit. Wir waren nur ein halbes Jahr zusammen auf diesem Block, aber sie gab mir ihre Suppenrationen, denn ich war immer hungrig. Sie ließ mich schlafen, denn ich war immer müde. Wenn es eine Kontrolle gab – es war der Zugangsblock –, gab sie mir sofort Bescheid. Bis zum Ende meines Lageraufenthalts brachte sie mir immer Brot, denn ich hatte sogar später als Blockälteste oft kein Brot. Woher sie es hatte, weiß ich nicht. Sie schaute nur in das Schränkchen, ›Du hast schon wieder kein Brot‹, und legte welches hinein. Dieses Gefühl, dass es da einen gibt, der über mich wacht, das war sehr wichtig. Nur war ich traurig, dass ich mich von meinen Kolleginnen hatte trennen müssen

Arbeit als Stubenälteste

MIECZYSŁAWA JAROSZ: »Bei uns war es so, dass alle wichtigen Stellen von den Polinnen besetzt waren, denn sie waren in der Mehrheit13, und viele kannten die deutsche Sprache. Bei mir war es eher ein Zufall, dass ich Stubenälteste wurde. Normalerweise stellte eine Blockälteste einen Antrag auf eine Stubenälteste, und dann konnte sie sich diese auch aussuchen

 

Im Frühjahr 1943 zog Mieczysława Jarosz in einen anderen Block um. In Block 14 wurde sie ebenfalls Stubenälteste und Schreiberin und erhielt die Aufgabe, Häftlingslisten zu führen. »Täglich sind neue Transporte gekommen, und man musste die Liste elfmal schreiben, elfmal! Das war wirklich sehr viel Arbeit. Die Blockälteste war eine ›Asoziale‹, eine Analphabetin. Die konnte das nicht machen. Den ganzen Tag war ich beschäftigt, und in der Nacht fuhren Transporte in die Munitionsfabriken, und ich fertigte diese ganzen Transporte ab. Es gab immer mehr Durcheinander

Im September 1943 waren 14.100 weibliche Häftlinge in Ravensbrück registriert. Das ohnehin schon überfüllte Lager wurde täglich voller und für die Wachmannschaften immer unüberschaubarer. Speiziell die Funktionshäftlinge nutzten diese Situation, um ihren Einfluss auszuweiten. Die Rüstungsindustrie lief nach der Niederlage von Stalingrad auf Hochtouren, und neben den eintreffenden Transporten verließen täglich Häftlinge das Lager. Sie wurden zur Zwangsarbeit in die Rüstungsbetriebe geschickt.

Das Kinderkommando

Im Spätsommer 1944, nach der Niederschlagung des Warschauer Aufstands14, kamen weitere ca. 12.000 Polinnen ins Lager, darunter zahlreiche Kinder.

Mieczysława Jarosz wurde Blockälteste: »Dann entstand ein neuer Block, Nummer 20, und dahin holte mich die Binz15 als Blockälteste und ließ mich die Stubenälteste auswählen. Auf diesem Block hatte ich viele Kinder, polnische Kinder, die nach dem Warschauer Aufstand ins Lager gebracht wurden. Die meisten waren elternlos, manche hatten ihre Eltern unterwegs einfach verloren. Um die kümmerte ich mich. Aus Krakau kam Maria Brandys, die für sie sorgen sollte und eine Arbeitskolonne aus diesen Kindern bildete. Die Kinder gingen Tag für Tag, um Sachen zu ordnen, die beim Warschauer Aufstand geraubt worden waren. Ihre Arbeit bestand darin, diese Sachen zu sortieren und zu ordnen. Einmal wollten sie unbedingt, dass ich sehe, wo sie arbeiten. So ging ich mit Maria Brandys hinaus und sah dann hinter dem Lager, wie das aussah: All die Sachen lagen in Erdgruben, und es gab riesige Baracken. In diesen Baracken war alles schön geordnet. Das war ziemlich überraschend. Obwohl die Arbeit nicht schwer war, kamen die Kinder völlig erschöpft zum Block zurück. Dank der Fürsorge von Maria Brandys wurden sie eingekleidet und zusätzlich ernährt. Zwei Polinnen aus der Küche übergaben die zusätzliche Suppe für die Kinder aus der 20 an den Block. Leider erregte das Neid bei den anderen Frauen. Im Lager herrschte damals schrecklicher Hunger. Es kam zu Streitigkeiten und Drohungen, und den Kindern riss man die Suppennäpfe aus den Händen. Zum Schluss schloss ich die Kinder von der allgemeinen Verteilung aus, und wir stellten ihren Kessel auf die B-Seite des Blocks, wo Maria Brandys selbst die Suppe ausgab

Die Nummern der Toten

Es war Ende 1944. Hunger und Krankheiten nahmen bedrohliche Ausmaße an. Es herrschte unüberschaubares Chaos im Lager. Gleichzeitig häuften sich die Erschießungen und Todestransporte. Bedrohte Frauen, vor allem Jüdinnen, konnten oftmals gerettet werden, indem man sie in die Nebenlager der Rüstungsbetriebe schickte. Dort wurden sie als Arbeitskräfte gebraucht, und es gab meist keine Selektionen. Doch dazu mussten Transportlisten gefälscht und Nummern vertauscht werden. Lebende Häftlinge mussten die Nummern von gestorbenen erhalten. All dies konnte nur heimlich geschehen, die allgegenwärtigen Aufseherinnen und meist verräterischen Lagerpolizistinnen mussten umgangen werden. »An Spitzeln fehlte es im Lager nicht«, sagte Mieczysława Jarosz. Nur durch die Vernetzung der Funktionsträgerinnen in den Blocks, der Verwaltung und im Revier konnte dies erfolgreich sein. Sie erinnere sich an Nächte, in denen sie sich unter einem Vorwand von Block zu Block schlich, um beispielsweise die Mitarbeiterin der Schreibstube zu wecken und ihr die Namen und Nummern von bedrohten Frauen zu übergeben. »Am einfachsten ließen sich solche Sachen gegen Ende durchführen, 1945, als die evakuierten Frauen aus Auschwitz kamen. Es waren ca. 10.000. Damals gingen viele Transporte ab, und ich rettete etliche Frauen, vor allem die, die medizinische Experimente hinter sich hatten, die ich den Transporten der Auschwitzgefangenen anschloss. So gingen sie in andere Lager. Auch eine Kollegin von mir wurde auf die Weise gerettet. Heute spricht man ganz leicht davon, aber das alles zu erleben kostete unwahrscheinlich viel Nerven

»Der letzte Brief meiner toten Tochter«

Marta Baranowska hatte bei ihrer Verhaftung drei kleine Kinder zurückgelassen. Einmal im Monat konnte sie einen Brief nach Hause schreiben und einen empfangen. So wusste sie, dass ihre Kinder in guter Obhut ihres Mannes und der Lehrerin Wanda Hoffmann waren. Es gelang ihr sogar, mit Hilfe einer Deutschen, die entlassen wurde, den Kindern kleine Geschenke aus dem Lager zu schicken. »Und ich schickte ihnen ein Büchlein mit Kinderballaden, das mir eine Tschechin sehr schön gestochen hat. Das hat sie mitgenommen, und zwei Pullover für die Buben. Das ist am Heiligabend zu Hause angekommen.«

Eines Tages erlebte sie eine seltsame Wandlung unter den Polinnen. »Plötzlich sehe ich alles ringsherum ganz anders, um mich ist eine Stimmung voller Güte, voller Liebe, voller Achtung. Ich wusste, es ist etwas geschehen, und dann erfuhr ich, dass meine Tochter nicht mehr lebte. Die Polinnen im Block waren benachrichtigt worden, dass das Kind tot ist, aber man sollte mir noch nichts sagen. Ich erfuhr es erst im Juni

Marta Baranowskas Tochter war im März 1942 an einer Hirnhautentzündung gestorben. Damals gab es keine Medikamente, und man stand der Epidemie hilflos gegenüber. »Natürlich ist man gebrochen, aber ich war eine Stütze für alle Polinnen. Ich musste bei ihnen bleiben, ich musste ihnen helfen, dazu fühlte ich mich verpflichtet. Aber der Tod meiner Tochter, der plötzliche Tod … Mein Mann, dieser hoch gewachsene schöne Mann, der ist über Nacht grau geworden

Obwohl es verboten war, im Lager persönliche Gegenstände aufzubewahren, war es Marta Baranowska gelungen, den letzten Brief ihrer zehnjährigen Tochter zu verstecken. »Plötzlich kommt die Vertreterin der Oberaufseherin und machte eine Durchsuchung im Lager. Jeder Schrank wurde untersucht, und ich notierte, was darin ist. Je näher ich zu meinem Schrank kam, desto kräftiger wurde meine Schrift. Dann kommt sie an meinen Schrank und fragt: ›Was ist das?‹ ›Das ist der letzte Brief meiner toten Tochter, die 1942, als ich im Lager war, gestorben ist.‹ Sie hat kein Wort gesagt. Hat mir alles gelassen

Im Winter 1944 gelang es ihrem Mann, ein Foto der beiden Söhne – verborgen in einem Stück Gebäck – ins Lager zu schmuggeln. »Das war schon 1944, wo schon so viele Jahre vergangen waren. Die Buben standen vor einem Unterbau mit Ziegelsteinen. Also habe ich die Außenarbeiter gebeten, sie sollten mir einen Ziegelstein abmessen, und so wusste ich, um wie viel sie gewachsen sind während der vier Jahre

»Ich wusste, wie man betrügt, wie man hilft«

MIECZYSŁAWA JAROSZ: »Der Appell musste vorbereitet werden, die Blockstärke war wichtig. Die Kranken musste man absondern, die dann von den Stubenältesten aufs Revier gebracht wurden. Das Brot, das in die Brotkammer kam, war zu kontrollieren, das Essen musste geholt werden. Die ganze Arbeit musste koordiniert werden. Von meinem Block gab es noch manchmal Transporte, das machte ich schon alleine. Aber ich hatte eine Schreiberin, die schrieb all die notwendigen Sachen ab. Wenn Neue kamen, musste man aus der Gerätekammer jeder eine Schüssel und eine Decke herausgeben. Das musste man gekonnt erledigen, denn die Transporte waren unterschiedlich. Es gab Frauen, die diese sehr dünnen Decken zerrissen, um sich darin einzuwickeln. Dann konnte ich die Decken nicht mehr abrechnen. Also musste ich das in der Effektenkammer erledigen, wo man die Decken verteilte. Dort war auch eine Polin, die mir immer das, was fehlte, dazulegte. In einer solchen Situation waren die Menschen ja nicht immer gehorsam. Viele verstanden nicht, dass sie das nicht tun sollten, dass sie sich selbst und den anderen schadeten. Ich war immer ein Nervenbündel. Oft stürmten die SS-Männer herein, mit Geschrei, mit Lärm, mit Vorwürfen, und dass sie die Gefangenen für diese oder für jene Arbeit brauchten. Es war sehr schwer, das alles miteinander in Einklang zu bringen. Nun, ich kriegte es immer hin, irgendwie hatte ich für alles Antworten

Mieczysława Jarosz betonte, wie wichtig es war, die menschlichen Werte zu erhalten und die eigenen Schwächen zu überwinden. Sie selbst habe nur eine Schwäche im Lager zugelassen. »Ich pflegte jeden Tag eine Zigarette zu rauchen.« Die Zigaretten konnten von Kameradinnen ›organisiert‹ werden. Denn die Position der Blockältesten ermöglichte es durchaus, sich selbst Vorteile zu verschaffen. »Am Anfang konnte ich nichts machen. Ich musste die Situation erst einschätzen. Die Möglichkeiten kamen erst ab Mitte 1943, als ich wusste, wie man betrügt, wie man hilft. Das zu wissen war sehr wichtig. Zum Beispiel wurde das für den Block zugeteilte Brot ehrlich an alle verteilt. Man schnitt in der Brotkammer je eine Scheibe Brot ab – bei mir gab es das nicht. Ich wusste – ich sah es mit meinen eigenen Augen –, wie die Blockälteste in einem der Blocks ein Stück Margarine für sich abschnitt. Einmal die Woche gab es eine dünne Scheibe Margarine, sie hatte die Margarine bei sich auf einem Holzbrett, und dann schnitt sie von unten etwas ab und legte es in einen Behälter. Das Gleiche tat sie mit Marmelade. Einmal die Woche gab es einen Löffel Marmelade. Deshalb sagte ich, bei mir auf dem Block wird es so etwas nicht geben. Und es gab das nicht

Sie legte großen Wert darauf zu sagen, dass die polnischen Funktionshäftlinge ihre Privilegien in der Regel genutzt hätten, um anderen zu helfen. »Als ich die Situation im Lager überblickte, wie erschossen und wie auf dem Revier gemordet wurde – denn ich selbst sah auf dem Revier, wie eine Polin die Spritze ins Herz bekam –, da betete ich zu Gott, dass egal, was mit mir passiert, keiner aus der Familie verhaftet wird und in ein Lager kommt. Das war meine Bitte an Gott. Ich tat alles, um anderen zu helfen. Und es gelang wirklich des Öfteren sehr gut. Doch es waren doch so viele Tausende von Gefangenen. Also konnte von wirklicher Hilfe keine Rede sein

Die Blockältesten konnten sich im Lager frei bewegen. Marta Baranowska hatte dadurch die Möglichkeit, mit den Häftlingsärztinnen Kontakt aufzunehmen. Es entstand ein Netz von Verbindungen, das den Funktionshäftlingen ermöglichte, im Rahmen ihrer jeweiligen Tätigkeiten zu handeln. »Ich war der Verbindungsmann zu Doktor Zdenka Nedvědová aus Prag. Außerdem gab es Verbindungen zu den Österreicherinnen im Arbeitseinsatz und in der Schreibstube. Jetzt gab es zum Beispiel folgende Situation: Im Bunker wurden die Urteile vollstreckt, z.B. durch Schläge. Man bekam fünfundzwanzig, fünfzig oder fünfundsiebzig Schläge unter ärztlicher Obhut. Eine junge Polin hat sich dazu hergegeben. Das war vielleicht schlecht von mir, aber ich habe alles getan, um sie aus dem Lager rauszubekommen. Ich sagte also zu einer Deutschen, die bei mir auf dem Block war: ›Macht alles, damit sie wegkommt. Wir wollen sie nicht im Lager haben.‹ Dafür musste ich dann zu meinen Vertrauensmännern in der Schreibstube oder zum Arbeitseinsatz gehen. Sie kam dann nach Neubrandenburg. Dort hatten wir auch schon Nachricht gegeben: Vorsicht vor der Agnes! So hieß sie

Die Macht der Häftlinge wurde umso größer, je voller das Lager wurde. »Zum Schluss hatten wir schon fast ein besetztes Lager, denn alles konnten die SS-Leute ja nicht mehr bewachen. Wir hatten das Revier, die Küche, die SS-Küche, die Wäschekammer, alles war besetzt durch Häftlinge. Das waren unsere Verbündeten, und dadurch hatten wir es ein wenig leichter. Aber bessere Bedingungen hatten wir persönlich nicht. Wir teilten das Los aller Häftlinge. Wir waren ziemlich gut organisiert dank der Zusammenarbeit mit den Sozialdemokratinnen und den Kommunistinnen. Ich bin keine Kommunistin – wir hatten ja in Polen genug erlebt mit den Russen. Und obwohl sie das wussten, hatte ich sehr gute Kontakte mit den Kommunistinnen, sie hatten großes Vertrauen. So oft ich es brauchte, haben sie mir geholfen. Ich hatte überall meine Vertrauenspersonen