Und dann kommst Du dahin an einem schönen Sommertag

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Das System der Macht

Die Lagerleitung von Ravensbrück hatte anfangs – wie in fast allen anderen Lagern auch – vorwiegend Häftlinge mit grünen oder schwarzen Winkeln, also laut ihrer Kategorisierung ›Kriminelle‹ oder ›Asoziale‹, in Führungspositionen eingesetzt.

AENNE MEIER: »Die Lagerleitung hat ungeheuren Wert drauf gelegt, Ordnung zu halten. Für die Sauberkeit in den Blocks wurde der Zimmerdienst bestellt, das waren für diese Arbeit ausgewählte Häftlinge. Die Berufsverbrecherinnen wurden sehr oft zu Blockältesten, also zum Aufsichtsdienst in den Blocks ausgewählt. Man meinte, die hätten mehr Bereitschaft zu schlagen und es fiele ihnen nicht so schwer, Anzeigen zu machen, also Häftlinge zu verklagen. Sie glaubten, durch sie eine bessere Zucht zu erreichen

Die Kriminellen und Berufsverbrecherinnen wurden von fast allen verachtet.

ANNETTE EEKMAN: »Es sind auch Menschen, und die haben das auch erlebt. Noch schlimmer als wir. Aber niemand hat sie geachtet, weder die SS-Leute, die Aufseherinnen noch die Häftlinge. Sie hatten eine Position, man hat sie gebraucht, aber sie wurden von jedem missachtet. Mit ihnen gab es keine Solidarität. Wir haben niemals daran gedacht, Kriminellen oder Häftlingen mit grünem Winkel zu helfen. Jetzt kann ich mir das vorwerfen. Aber es gab so wenige Möglichkeiten zu helfen, dass man doch auswählen musste. Und so hat man erst die gewählt, die einem näher standen. Aber das ist die Struktur, die die SS dort aufgebaut hat. Dieselbe schlechte Behandlung war gegen alle gerichtet, egal ob grüne, schwarze oder rote Winkel. Wenn jemand schmutzig und verkommen war, hatte er weniger Glück als jemand, der sich im Maß des Möglichen versorgte. Weil politische Häftlinge einander halfen, hatten sie mehr Möglichkeiten als z.B. die Schwarzwinkel. Das ist eine Kette, und das geht dann so weiter. Man hätte sich selbst Gewalt antun müssen, um zu sagen, denen muss man auch helfen

Politische Häftlinge in Funktionen

In der ersten Zeit – 1939 bis 1940 – schien das System zu funktionieren: Die grün- und schwarzwinkligen Funktionshäftlinge führten ein hartes Regime im Lager. Dazu kam, dass sie anfangs deutlich in der Mehrzahl waren. Mit der zunehmenden Einlieferung von politischen Häftlingen veränderte sich jedoch die Situation.

ANTONIA BRUHA: »Die ›Politischen‹ im Lager sind sich bewusst geworden, dass sie von bestimmten Posten aus – auf denen am Anfang ›Asoziale‹ und ›Berufsverbrecher‹ gesessen sind – den Häftlingen ein bisschen helfen konnten. Das waren das Büro in der Kommandantur, das Büro im Revier, die Arbeitseinteilung und der Arbeitseinsatz. Das waren die Fürsorge, die diversen Blockältesten, die Stubenältesten und die Anweisungshäftlinge. So hat man sich bemüht, diese Posten mit ›Politischen‹ zu besetzen

HERMINE JURSA: »Jetzt war es natürlich sehr wichtig, wenn z.B. politische Zugänge aus den Gefängnissen gekommen sind. Da haben wir sofort Nachricht gekriegt, denn wir haben die Aufnahmen bearbeitet. Das wurde dann weitergegeben an den Arbeitseinsatz. So waren wir immer informiert, wer angekommen ist, und wir haben versucht, diese Menschen irgendwo einzusetzen, wo sie lebenserhaltende Arbeit leisten konnten

So war es möglich, dass Neuankömmlinge bereits bei ihrer Ankunft auf Häftlinge stießen, die um ihre Herkunft und Gesinnung wussten und ihre Funktionen dazu benutzten, Kontakte zwischen Bekannten oder Gleichgesinnten, zwischen Angehörigen oder Gefangenen aus derselben Stadt herzustellen.

AENNE MEIER: »Da war eine Kameradin aus Saarbrücken, die vor mir verhaftet wurde und vor mir ins Lager kam. Die wurde bei der Bauleitung beschäftigt, und von ihr hab ich nachher so manchen Hinweis bekommen, wie ich mich verhalten soll. Mit der hab ich mich auch öfters sonntags getroffen, wenn die SS keine Zeit hatte, im Lager herumzuschnüffeln. Da haben wir unsere Messe gehalten, bis zu zehn Häftlinge, die sich kannten. Man hat in Gedanken teilgenommen, als ob man zur Kirche gegangen wäre. Oder man stand beim Appell nebeneinander; ich mit einer Generaloberin, einer Lehrerin und einer Fürsorgerin. Während die Häftlinge sich unterhalten und Witze gerissen haben, haben wir, solange der Appell gedauert hat, leise vor uns hingebetet. Drei Rosenkränze und die Messe, und dann war der Appell oft immer noch nicht vorbei. So lange musste man draußen stehen, nackt, mit nichts im Leib

ILSE REIBMAYR: »Wir hatten alle Arten von Handwerkern unter den Frauen. Es hat Dachdecker gegeben, Installateure, alles, was es gibt. Sie haben ihre Begabungen in unglaublicher Weise eingesetzt und es tatsächlich oft zur Meisterschaft gebracht

MARTA BARANOWSKA: »Das waren alles Häftlinge: die Lagerpolizei, die Ärzte, die Blockältesten, die Stubenältesten und die politische Leitung. In Zusammenarbeit mit den Kommunisten haben wir es geschafft, alle Posten mit politischen Häftlingen zu besetzen. Das funktionierte, wir hatten keine Häftlinge, die gemeinsame Sache mit der Gestapo machten. Wir waren einander sicher.«

Block- und Stubenälteste

ANNETTE EEKMAN: »Die grünen, die kriminellen Häftlinge, die hatten so gut wie gar kein soziales Gefüge. Wenn die eine bessere Stelle hatten, so nutzten sie die nur für die Verbesserung des eigenen Lebens. Die haben alles angenommen, was man ihnen angeboten hat. Auch das Prügeln im Bunker. Wenn z.B. eine Strafaktion durchgeführt werden musste, dann wusste die SS, die ›Politischen‹ würden das nicht tun. Dann fragten sie einen kriminellen Häftling. Die nahmen das ohne Hemmungen an. Politische Häftlinge weniger. Es ist geschehen. Ich mache keine Engel aus ihnen. Aber sehr, sehr selten. Wenn politische Häftlinge privilegierte Stellungen eingenommen haben, dann haben sie das in der Hoffnung getan, das Leben innerhalb des Lagers zu verbessern. Ein Beispiel dafür ist Rosel Jochmann3, die Blockälteste in Block 3. Sie hat natürlich auch Fehler gemacht. Wer macht das nicht? Aber sie wurde anerkannt, weil sie gut organisierte. Die SS war zufrieden, weil alles gut lief, und die Häftlinge waren auch zufrieden, weil es eine menschliche Ordnung war. Ich erinnere mich an eine Deutsche, die war schon elf Jahre in Haft. Elf Jahre! Und die hat gedacht: Ich komme hier nie raus. Leute, die so lange in Haft waren, die mussten sich irgendwie organisieren. Und sie haben das auch getan

Bereits 1940 besetzte ein politischer Häftling, die deutsche Kommunistin Bertha Teege, die wichtigste Position der Funktionshäftlinge, nämlich die der Lagerältesten, als verantwortliche Lagervertreterin gegenüber der SS.

MARTA BARANOWSKA: »Was es brauchte, um dort zu überleben, war Freundschaft. Freundschaft mit unseren Vertrauensmännern in- und außerhalb der Blocks. Wir haben das geschafft, was Bertha Teege angesagt hat, als ich ins Lager kam: dass wir alle Funktionen mit politischen Häftlingen besetzen sollen. Damit hatten wir schon bessere Verhältnisse

BLOCKÄLTESTE IN RAVENSBRÜCK


Die Polin Marta Baranowska war die erste Blockälteste, die ich befragen konnte. 1997 besuchte ich sie in Bydgoszcz. Ich staunte über ihr präzises Erinnerungsvermögen und das lebhafte Auftreten der 94-Jährigen, die den festen Vorsatz hatte, hundert Jahre alt zu werden. Sie hat es geschafft.

Marta Baranowska kam am 26. November 1903 in Bromberg (Bydgoszcz), zur Welt. »Wir sind ein Bauerngeschlecht, und ich bin bis heute meiner Vaterstadt treu, mit Ausnahme der vier Jahre, die ich in der Gestapohaft und dann im Lager war.« Ihr Vater war Eisenbahner, die Mutter Hausfrau. »Wir waren eine kinderreiche Familie, zehn Kinder. Meine Mutter, die mit zehn Kindern fertig werden musste, war für mich eine Heroin. Sie war ausgebildete Näherin und machte alles selber in der Familie. Obwohl es kein reiches Leben war, hatten wir dank meiner Eltern ein gutes Auskommen

Der Erste Weltkrieg und der gleich darauf folgende polnisch-sowjetische Krieg stürzten die ganze Region und auch die Familie für sechs Jahre in große Not. Marta Baranowska konnte erst ab 1920 wieder regelmäßig in die Schule gehen. Sie besuchte ein Privatgymnasium, lernte neben Polnisch und Deutsch auch Englisch und Französisch. In Kursen erlernte sie Maschineschreiben und Stenographie und arbeitete nach dem Abitur als Sekretärin in einer Anwaltskanzlei.

Marta Baranowska heiratete 1930 und brachte innerhalb weniger Jahre drei Kinder zur Welt. Ihr Mann arbeitete im Schulamt und beteiligte sich an verschiedenen Aufständen der polnischen Armee. 1939 begann der Zweite Weltkrieg, und damit der dritte Krieg im Leben der 35-Jährigen. Noch im September 1939 wollte die Familie mit ihren drei kleinen Kindern aufs Land fliehen, wurde aber von Bombenangriffen überrascht und musste sich im Wald verstecken. Marta Baranowska schilderte dies als eine unvorstellbar schlimme Zeit. Schließlich beschloss sie, nach Bydgoszcz zurückzukehren. Immer wieder geriet ihr Mann in Haft, und sie blieb mit den Kindern alleine. Zur Unterstützung nahm sie sich eine Hilfe ins Haus: eine ältere Lehrerin namens Wanda Hoffmann, die aus ihrer Wohnung vertrieben worden war. Sie versorgte die Kinder, während Marta Baranowska arbeitete – und sie tat dies auch nach deren Verhaftung.

Im polnisch-patriotischen Widerstand engagierte sich Marta Baranowska gegen die deutsche Besatzung. »Es wurden illegale Flugblätter und Zeitungen herausgegeben. Es hatte zu viele Tote gegeben, Menschen, die einfach erschossen wurden. Auch mein Chef, der Anwalt, ist aufgeflogen und erschossen worden. Es war der reine Terror hier ab 1939. Unsere Organisation umfasste einige Männer und Frauen. Im Mai 1941 wurden wir verhaftet und zur Gestapo gebracht. Tags zuvor waren sechsunddreißig Männer erschossen worden, von denen wir nicht wissen, wo sie begraben sind. Unser Urteil, unterschrieben von Heydrich1, lautete auf Hochverrat und Zugehörigkeit zu einer Organisation namens ›SSS‹ – auf Deutsch: Tod der SS. Ich wurde verhaftet, und Wanda Hoffmann blieb bei den Kindern. Meine Tochter war sieben Jahre alt, sechs der eine Sohn, und der jüngste war zwei. Mein Bruder ist schon am 27. Januar 1940 in Posen erschossen worden. Meine Schwester war 1939 verhaftet worden und kam schon 1940 ins Lager

 

»Ich dachte, hier wird es auszuhalten sein«

Am 10. August 1941 kam die achtunddreißigjährige Marta Baranowska in Ravensbrück an. Sie erhielt die Lagernummer 6738 und einen roten Winkel mit ›P‹, d.h., polnischer politischer Häftling. »Wir kamen als ein Sammeltransport vom Gefängnis Alexanderplatz, Berlin. Was am Alexanderplatz los war, das ist unbeschreiblich. Hunderte von Menschen sind da gelegen, wie die Heringe im Fass. Es gab nur stinkende Strohsäcke und drei oder vier Holzpritschen, die waren so verwanzt, dass wir nicht schlafen konnten. Wir kamen ziemlich erschöpft in Ravensbrück an. Es war ein schöner Tag, ein sonniger Tag, Blumen, Salbeien, Blüten längs der Lagerstraße an den Blocks. Dann standen wir vor dem Bad. Was ein Bad bedeutete nach drei Monaten ohne Waschgelegenheiten! Was das heißt, wir werden baden! Es war eine solche Freude, dass ich dachte, hier wird es auszuhalten sein

Die Freude hielt nicht lange an. Der ganze Transport musste stundenlang stehen, die Frauen wurden angebrüllt, sie durften nicht austreten. Die Lageratmosphäre hatte sie eingeholt. Marta Baranowska wurde von der Oberaufseherin Langefeld2 angesprochen und gefragt, woher sie käme, warum sie Deutsch spreche, wie viele Kinder sie habe und was sie von Beruf sei. »Einige Zeit später, Ende September, komme ich von der Arbeit zurück. Die Langefeld steht am Tor und sagt: ›Nach dem Essen zu mir kommen!‹ Ich, schmutzig, dreckig, nach dem Essen geh ich zu ihr, und sie sagt: ›Morgen kommt ein großer Transport aus dem Warschauer Gefängnis Pawiak, und Sie, Zetkowska, übernehmen den Block. Und Baranowska, Sie gehen als Stubenälteste, und nehmt euch noch eine Dritte.‹ Als Dritte haben wir die Polin Maria genommen

So wurde Marta Baranowska im September 1941, einen Monat nach ihrer Ankunft im Lager, Stubenälteste auf einem der Zugangsblocks. Sie nahm sich vor, in ihrem Block Gemeinheiten der Aufseherinnen – wie sie sie bei ihrer Ankunft erlebt hatte – nicht zu dulden. Der Transport, der im September 1941 in Ravensbrück ankam, war der Sondertransport aus Warschau und Lublin, mit dem die Polinnen ankamen, an denen später medizinische Experimente durchgeführt wurden. Einige von diesen jungen Frauen kamen in den Block zu Marta Baranowska3.

»Um Gottes willen, keine Meldungen«

»Die Stubenälteste holte das Essen, verteilte es und wechselte die Wäsche, immer in Verbindung mit der Blockältesten. Die Blockälteste führte die Schreibarbeiten durch. Sie musste genau wissen, wie viele und welche Häftlinge sie hatte, wer welche Nummer hatte, wie lange sie schon saß. Im Block war ein Dienstzimmer für die SS-Aufseherin, aber dort konnte auch die Blockälteste ihre Schreibarbeiten erledigen. Später, auf Block 13, war die erste Aufseherin Ehrich4; das war eine schöne junge Frau, aber die konnten wir nicht für menschliche Verhältnisse gewinnen, was mir später bei anderen gelungen ist. Dennoch lebten wir in guten Verhältnissen, sofern man im Lager von guten Verhältnissen sprechen konnte

Jeder Block hatte eine A- und eine B-Seite, mit jeweils hundertfünfunddreißig Betten. »Die Blockälteste hatte die Kontrolle und die Obhut über den ganzen Block. Die Stubenälteste musste Ordnung halten auf ihrer Seite. Das Essen holten wir dreimal am Tag, wir mussten das Essen verteilen und das Geschirr mit kaltem Wasser waschen, damit alles sauber in den Schrank kam. Das war meine Arbeit: dass Ordnung und Ruhe auf meiner Seite herrscht. Wenn Schreibtag war, habe ich Dutzende von Briefen für die Frauen geschrieben. Viele konnten nicht Deutsch, und es musste doch alles in Deutsch geschrieben werden. Wer Deutsch schreiben konnte, musste also mithelfen. Einmal im Monat war das eine Menge Arbeit

Zu den Aufgaben der Stubenältesten gehörte es auch, Strafen zu verhängen. »Aber das haben wir vermieden. Keine Meldungen, um Gottes willen, keine Meldungen machen. Es ist uns, den Block- und Stubenältesten, gelungen, dass aus unserem Block keine Meldungen für Strafen kamen. Die Meldungen mussten in der Schreibstube vorgebracht werden, und dort wurden dann die Strafen für den Häftling ausgesprochen. Entweder Stockhiebe, Bunker oder Strafblock

»Bisher hatte ich nur Männer draufhauen sehen«

Als im Jahr 1942 etwa 1700 Polinnen in Ravensbrück eingeliefert wurden, eröffnete man weitere neu errichtete Baracken, in denen diese Frauen untergebracht wurden. Marta Baranowska wurde im Mai 1942 als Blockälteste in einem solchen Block eingesetzt. »Die Oberaufseherin kam und sagte: Nummer sowieso wird Blockälteste – und ich wurde es auf Block 13. Nach der Ehrich hatte ich dort Erika Bödecker5 als Aufseherin, die ich später ganz für mich gewinnen konnte

Marta Baranowska erinnerte sich an ihre erste Begegnung mit Erika Bödecker, die zuvor bereits Blockleiterin im neuen Teil des Lagers gewesen war. »Das waren neue Baracken, da musste alles blitzsauber sein. Im Schlafraum war ein weißer Fußboden, ein Bretterboden. Der musste hell sein, der musste blenden. Aus dem Schlafraum kam eine Polin heraus. Die Bödecker schlug ihr ins Gesicht. Ich stand gegenüber und schaute sie an, ich weiß nicht genau, wie, aber jedenfalls nicht angenehm. Ich war erschrocken, denn bisher hatte ich nur die Männer draufhauen sehen. Ich schaute sie wohl mit solchem Hass an, dass sie den Kopf hängen ließ. Ich sagte kein Wort, habe sie nur angeschaut, Auge in Auge. Und diese Bödecker kommt nun zu mir in den Block 13 als SS-Aufseherin. Was passiert? Sie gibt mir die Hand: ›Marta, Sie können mir die Hand reichen. Ich werde niemanden mehr schlagen.‹ Nun, ich zögerte noch. Ich sagte: ›Frau Aufseherin, wissen Sie, wie viele Todesurteile hier sind? Zweiundsiebzig junge Menschen haben Todesurteile und viele andere auch. Alles Todeskandidaten.‹ Ich war mir nicht sicher, ob ich sie für mich gewinnen konnte. Doch als ich ahnte, dass ich sie für meinen Block gewonnen hatte, habe ich ihr vorgeschlagen: ›Sie werden alles im Block in Ordnung finden. Aber bitte, quälen Sie uns nicht mit Ihren rigorosen Vorsätzen. Wir wollen Ruhe haben im Block.‹ Sie ist darauf eingegangen. Aus den jungen Mädchen formte sie eine Arbeitskolonne, die sie bewachte. Sie arbeiteten auf dem Land und haben sich nicht überarbeitet, denn sie wachte über diese jungen Mädchen. Sie hatten besseres Essen, denn die Bauern haben ihnen zu essen gegeben. Ich hatte so lange Ruhe, bis man die Bödecker nach Nordhausen versetzte

Marta Baranowska räumte ein, dass dies nur möglich war, weil sie selbst zu den Älteren im Lager zählte. Im November 1942 wurde sie neununddreißig Jahre alt und war damit älter als viele Aufseherinnen. Ihr kraftvolles und selbstbewusstes Auftreten – das auch beim Interview mit der 94-Jährigen noch deutlich spürbar war – und ihre hervorragende körperliche Verfassung hätten viel dazu beigetragen, dass nicht nur Häftlinge, sondern auch Aufseherinnen sie mit Respekt behandelten. »Eine schlechte Blockälteste hat Meldungen gemacht. Von uns, aus den polnischen Blocks, kamen keine Meldungen. Doch kontrolliert wurden wir durch die Blockleiterin, die in unserm Block amtierte. Wenn etwas geschah, dann durch die Blockleiterin, denn das waren SS-Frauen

Doch es gab auch Situationen, in denen die Position der Blockältesten mehr als nur Einfühlungsvermögen abverlangte. Marta Baranowska erinnerte eine Situation in ihrem Block: »Die Jugend hat doch gehungert, und das Essen reichte nicht. Einmal hat es zum Abendessen eine Grießsuppe gegeben, eine Milchgrießsuppe, das war ja ein Götterfraß für uns. Stellen Sie sich vor, diesen Kessel bringen drei Mädels auf den dritten Stock und essen mir das weg. Ich stehe da. Was mache ich? Wie sollte ich das regeln? Ich rief meine ›Politischen‹, sagte: ›Beruhigt euch. Schaut, wir bekommen Pakete. Stellt euch vor, diese Mädels hungern.‹ Das sind junge Menschen, Zwanzig-, Fünfundzwanzigjährige, die hungern. Also habe ich das in Ordnung gebracht. Hätte ich Meldung gemacht, dann wären sie schwer bestraft worden, sicher für einige Monate in den Bunker gegangen. Außer der Ehrich hatte ich das Glück, alle Aufseherinnen für den Block zu gewinnen. Es gab auch ihrerseits keine Meldung, obwohl auf dem gemischten Block schon viel Böses geschah. Als die verhungerten Mädchen den ganzen Kessel weggegessen haben, war die Friedrich6 Aufseherin. Auch sie hat keine Meldung gemacht. In den rein politischen Blocks lebte man besser. Man befürchtete keine Stehlerei, man musste nicht ständig Angst haben, dass man auffliegt

»IN EINEM AUGENBLICK HABEN MEINE ELTERN ALLES VERLOREN«


Eine der Polinnen, die im Mai 1942 nach Ravensbrück und kurz darauf in den Block von Marta Baranowska kam, war die damals einundzwanzigjährige Mieczysława Jarosz.

Das Interview mit ihr führten wir im März 2001 an zwei Tagen in ihrer Wohnung in Poznań. Sie erschien sehr aufgeregt zu unserem Vorgespräch, von ihren Erinnerungen aufgewühlt. Sie sagte, dass sie zwei Tage lang nicht geschlafen habe. Unterbrochen nur durch Zigarettenpausen, sprudelten die Geschichten aus ihr heraus.

Geboren am 30. Dezember 1921 in Grodzisk Wiełkopolski (Grätz bei Posen), war sie die Älteste von vier Geschwistern. Ihr Vater war Unternehmer, er besaß eine Konservenfabrik, ein Kino und ein Hotel. »Meine Eltern waren gläubige Menschen und enorm tüchtig. Sie arbeiteten und lebten im Einklang mit allen nationalen Gruppen, d.h. mit den Deutschen, den Polen und den Juden, die in Grodzisk wohnten. Sie haben uns im Geist des Internationalismus erzogen: dass wir unabhängig von Konfession, Nationalität und Hautfarbe alle Menschen achten sollten

Bis 1939 besuchte Mieczysława Jarosz das Gymnasium. »Kurz nach dem Kriegsausbruch wurde mein Vater verhaftet. Dank einiger Deutscher, die in Grodzisk lebten, wurde er wieder freigelassen. Doch eines Tages wurde in aller Frühe an das Fenster geklopft, und uns wurde die Aussiedlungsverfügung übergeben: Innerhalb von zehn Minuten sollten wir zusammengepackt haben und mit je einem Köfferchen am Marktplatz erscheinen. Dort war die Sammelstelle. Als alle Bewohner, die ausgesiedelt werden sollten, auf dem Marktplatz zusammenkamen, fragte der Stadtkommandant, wo denn mein Vater sei. Meine Mutter sagte daraufhin, er sei krank und liege in Posen im Krankenhaus. Sie war sehr mutig. Man brachte uns in eine Baracke. Doch dann kamen aus Danzig Bekannte, die erfahren hatten, dass wir dort sind. Sie gingen zum Kommandanten und baten, uns freizulassen, und tatsächlich wurden wir freigelassen

Die wohlhabende und angesehene Familie war enteignet. Um ihr Leben zu retten, mussten sie fliehen. »Es ging darum, meinen Vater zu retten. Denn in allen Kleinstädten erschoss man angesehene Bürger auf den Marktplätzen. In einem Augenblick haben meine Eltern alles verloren. Sie traf es am schlimmsten. Wir Kinder litten darunter nicht so sehr. Wir verstanden das alles sowieso nicht und verließen uns gänzlich auf die Eltern. Unsere Mutter flößte uns immer Mut ein. Sie war sehr vorausschauend und hatte im August 1939 einige Briefe geschrieben. Sie ahnte, dass es Krieg geben würde. Sie schrieb, dass die Sachen den Kindern gehören, und nannte unsere Vor- und Nachnamen. Dann kam der Maurer und mauerte die kostbarsten Sachen ein, die meine Eltern besaßen: Silber, Tafelgeschirr. Alles blieb erhalten. Bis nach dem Krieg